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NAHOST/1686: Irak - schiitischer Zwist, Amerikas Twist ... (SB)


Irak - schiitischer Zwist, Amerikas Twist ...


Im Irak sind die Massenproteste gegen Arbeitslosigkeit, Korruption und Mißwirtschaft, die Anfang Oktober für fünf Tage tobten, 157 Menschen das Leben kosteten und mehr als 6000 verletzt zurückließen, wieder aufgeflammt. Bei gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften unter anderem in Bagdad und Kerbala sind in den letzten vier Tagen rund 60 Menschen getötet und Hunderte verletzt worden. Die Regierung von Premierminister Adil Abdul Mahdi sieht sich nach nur einem Jahr im Amt schwer in Bedrängnis. Die Forderungen nach dem Rücktritt Abdul Mahdis, einer Auflösung des Parlaments und der Durchführung von Neuwahlen mehren sich. Ob sich mit der Erfüllung derartiger Maßnahmen die Lage beruhigen läßt ist eine andere Frage.

Nach der ersten Welle der Proteste hatte Abdul Mahdi Reformen angekündigt, mehrere ranghohe Offiziere bei Armee und Polizei entlassen sowie eine Untersuchungskommission eingerichtet. Ihr zufolge waren die meisten Getöteten, bei denen es sich nicht ausschließlich um Demonstranten handelte, da sich darunter auch sieben Mitglieder der Sicherheitskräfte befanden, durch gezielte Schüsse in den Kopf oder die Brust ums Leben gekommen. Doch die Täter konnten bislang nicht ermittelt werden. Durch die Bank bestreiten die zuständigen Vorgesetzten der Sicherheitskräfte, einen Schießbefehl erteilt zu haben. Deshalb steht der Verdacht im Raum, daß die Scharfschützen entweder schiitische Milizionäre und/oder iranische Revolutionsgardisten waren, denen die vielfach erhobene Forderung der Demonstranten nach einer Rückdrängung des Einflusses Teherans auf die irakische Innenpolitik nicht gefiel, oder Spezialstreitkräfte der CIA, die den Irak destabilisieren sollen, um Washington Vorteile gegenüber dem "Mullah-Regime" im östlichen Nachbarstaat des Iraks zu verschaffen.

In den letzten Monaten ist es immer wieder zu tödlichen Drohnenangriffen auf Stützpunkte jener schiitisch-dominierten Volksmobilisierungskräfte gekommen, die 2014 zur Bekämpfung der sunnitischen "Terrormiliz" Islamischer Staat entstanden waren und bei diesem Unterfangen mit den US-Streitkräften bzw. den iranischen Revolutionsgarden zusammengearbeitet hatten. Für die Angriffe, die sich auffällig gegen iranische Militäreinheiten und Waffenlager richten, hat Premierminister Abdul Mahdi Israel verantwortlich gemacht und sie als "kriegerischen Akt" Tel Avivs verurteilt. Angaben der meist gut informierten Onlinezeitung Middle East Eye zufolge gingen besagte Drohnenangriffe nicht von israelischem Staatsgebiet, sondern von jenen Militärstützpunkten im mehrheitlich von Kurden bewohnten Teil Nordsyriens aus, welche die US-Streitkräfte dort ab 2014 unter dem Vorwand der Bekämpfung des IS eingerichtet hatten.

Wegen des Einmarsches türkischer Truppen Anfang Oktober in das kurdische Nordsyrien, wo sie eine sogenannte Sicherheitszone einrichten sollen, sind die rund 1000 US-Soldaten in der Region auf Anweisung von Präsident Donald Trump abgezogen und auf dem Landweg in den Irak verlegt worden. In Bagdad, wo das Parlament schon länger den Abzug aller 5000 im Irak stationierten US-Soldaten fordert, löste die selbstherrliche, nicht vorher abgesprochene Truppenverlegung der Amerikaner erneut Empörung aus. Das gleiche gilt für den bereits in Ansätzen angelaufenen Plan der USA, mehrere tausend bei den syrischen Kurden inhaftierte IS-Kämpfer und -Familienmitglieder ebenfalls in den Irak zu verlegen und dort gefangenzuhalten. Inzwischen mehren sich die Anzeichen, daß die USA - allen gegenteiligen Beteuerungen zum Trotz - dauerhaft militärisch im Irak und in Syrien präsent zu bleiben gedenken. Anders sind die Verlegung mehrerer Dutzend Panzer von der westirakischen Provinz Anbar in die ostsyrische Provinz Deir Ez-Zor, um die dortigen Ölquellen zu "sichern", sowie die vorgehaltene Erkenntnis aller Verantwortlichen im Weißen Haus und Pentagon nach der angeblichen Ausschaltung des IS-Chefs Abu Bakr Al Baghdadi bei einem Kommandoüberfall auf ein Anwesen in der nordwestsyrischen Rebellenhochburg Idlib, wonach der Kampf gegen das "Kalifat" in der Levante und im Zweistromland auf Jahre hinaus weitergehen wird, nicht zu interpretieren.

Vor dem Hintergrund der zunehmenden Spannungen zwischen Washington und Teheran kommen die heftigen innenpolitischen Turbulenzen im Irak den Amerikanern extrem gelegen. Der einflußreiche schiitisch-nationalistische Prediger Moktada Al Sadr, dessen Mahdi-Armee sich vor mehr als zehn Jahren blutige Kämpfe mit der Besatzungsarmee der USA und Großbritanniens geliefert hat und dessen Wahlbündnis mit den Kommunisten, Sairun, Abdul Mahdi letztes Jahr zur Macht verhalf, hat dem Premierminister vor zwei Tagen wegen der Gewalttätigkeiten der staatlichen Ordnungskräfte gegenüber den regierungskritischen Demonstranten die Unterstützung entzogen. Al Sadr hat Neuwahlen unter der Schirmherrschaft der Vereinten Nationen verlangt und vorsorglich seine frühere Madhi-Armee, die sich inzwischen Saraya Al-Salam, (Friedensbrigade) nennt, in Alarmbereitschaft versetzt. Es ist zu befürchten, daß sich Al Sadrs Anhänger, die bei den jüngsten Demonstrationen stark vertreten sind, demnächst einen Bürgerkrieg mit den pro-iranischen Milizen, die im Parlament durch das Wahlbündnis Fateh (Eroberung) vertreten sind, liefern werden. In einer solchen Situation dürften die USA mit Sicherheit ihre Präsenz im Irak als notwendige Stabilisierung verkaufen - auch wenn sie genau die gegenteilige Funktion erfüllt.

29. Oktober 2019


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