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NAHOST/1694: Irak - kriegsversehrt ... (SB)


Irak - kriegsversehrt ...


Die Massenproteste im Irak, die sich seit Anfang Oktober gegen Arbeitslosigkeit, Korruption und die Vetternwirtschaft der politischen Elite richten, drohen in einen verheerenden Bürgerkrieg zu eskalieren. Ursache ist die harte Hand, mit der vor allem pro-iranische Gruppierungen bei Armee und Polizei sowie bei den Volksmobilisierungskräften, die im Sommer 2014 infolge eines Aufrufs Ali Sistanis, des höchsten schiitischen Würdenträgers des Iraks, zur Zurückschlagung einer damals drohenden Einnahme Bagdads durch die Kämpfer der "Terrormiliz" Islamischer Staat (IS) entstanden waren, vergeblich den Ruf der Demonstranten nach durchgreifenden politischen Reformen zum Schweigen zu bringen versuchen. In den letzten zehn Wochen sind mehr als 400 Menschen gewaltsam ums Leben gekommen, 2000 verletzt und 7000 entweder verhaftet oder entführt worden.

Am 30. November sah sich Premierminister Adel Abdul Mahdi zum Rücktritt gezwungen, nachdem am Tag davor 45 Teilnehmer der Besetzung einer Brücke in der südlichen Stadt Nasiriya von bewaffneten Männern erschossen und weitere rund 150 verletzt wurden. Nasiriya ist die viertgrößte Stadt des Iraks. Dort wurde nach dem Zweiten Weltkrieg die Baath-Partei, die den Irak bis zum Sturz Saddam Husseins 2003 beherrschte, gegründet. Nasiriya ist zwar arm, dort leben aber die Anführer einiger der größten und mächtigsten Stämme des Iraks. Bisher sind die Verantwortlichen für das Massaker vom 29. November nicht ermittelt worden. Angesichts der Unfähigkeit und/oder des Unwillens staatlichen Stellen, auch nur den Anschein irgendeiner Form der Gerechtigkeit in die Wege zu leiten, denken die Stämme ernsthaft darüber nach, die Dinge selbst - Stichwort Blutrache - in die Hand zu nehmen.

In einem Artikel, der am 1. Dezember bei der britischen Sonntagszeitung Observer erschienen ist, warnte Nahost-Korrespondent Martin Chulov vor einem "Auseinanderbrechen" des Iraks aufgrund der zerstörerischen Kräfte, welche die USA und der Iran mit einem erbitterten und fortgesetzt verschärften Kampf um Einfluß im Zweistromland entfesselt hätten. Chulov zitierte anonym einen irakischen Regierungsbeamten, der mit der Perspektive der Iraner vertraut sei, wie folgt: "Im Libanon und im Irak bereiten sie sich auf den Krieg vor. Im Libanon [wegen der mit Teheran verbündeten Hisb Allah - Anm. d. SB-Red.] werden sie vielleicht die Lage beruhigen können, doch im Irak haben sie es mit den Stämmen zu tun und das bringt sie in ernsthafte Schwierigkeiten. Insbesondere im Süden ist die Blutfehde freigetreten worden. Sie [die Stämme - Anm. d. SB-Red.] machen den Iran und seine Stellvertreter dafür verantwortlich. Das ist sehr gefährlich. Teheran stößt auf unbekanntes Terrain vor."

Anfang Dezember gab es Berichte, wonach Qassem Soleimani, der Oberbefehlshaber der gefürchteten Al-Quds-Einheit der iranischen Revolutionsgarden, in Bagdad sei, um die Nachfolgeschaft Abdul Mahdis zu bestimmen. Gerade diese Art der offenen Einmischung Teherans in die irakischen innenpolitik ist es, die Hunderttausende Iraker auf die Straße treibt. Soleimani, der spätestens seit 2015 in Syrien und 2016 im Irak die militärische Hilfe des Irans im Krieg gegen die sunnitischen IS-Dschihadisten koordiniert, benimmt sich nach Meinung vieler Iraker immer mehr wie ein persischer Satrap, der die Befehle aus Teheran weiterleitet und deren Einhaltung erwartet. Nicht ganz zu Unrecht vermutet Soleimani eine Rolle der USA und Israels bei der Aufstachelung der irakischen Bevölkerung gegen die politischen Parteien. Doch sein energischer Eintritt für eine kompromißlose Linie hat ihn zur Haßfigur und zur Verkörperung all dessen gemacht, was in den letzten Jahren im Irak schiefgelaufen ist.

Ob Zufall oder nicht, kam es in den Tagen nach dem jüngsten Besuch Soleimanis in der irakischen Hauptstadt zu einer Reihe beunruhigender Vorfälle. Bei der Großdemonstration am 5. Dezember in Bagdad stießen Tausende Mitglieder der Volksmobilisierungskräfte unbewaffnet dazu. Das Motiv ist unklar. Ein Teil von ihnen dürfte dem Aufruf von Ajatollah Sistani, die Protestierenden zu schützen, gefolgt sein. Ein anderer Teil mit pro-iranischer Gesinnung scheint vorgehabt zu haben, durch das Tragen von Transparenten mit anti-amerikanischen und anti-israelischen Parolen und das Skandieren entsprechender Parolen die Proteste in eine teheran-dienliche Richtung lenken zu wollen. Durch die verwirrende Situation kam es zu zahlreichen Handgreiflichkeiten unter den Demonstrationsteilnehmern. Mindestens 15 Menschen erlitten Stichwunden infolge Messerattacken unbekannter Täter.

Unbekannt geblieben sind auch die maskierten Männer, die am darauffolgenden Abend des 6. Dezember ein Parkhaus im Zentrum Bagdads, wo Regierungsgegner ein Zeltlager errichtet hatten, überfielen und in Brand setzten. Die Aktion war offenbar gut vorbereitet. Unmittelbar vor der Ankunft der Angreifer in sieben Geländewagen fiel in der Gegend um das Parkhaus der Strom komplett aus. Es setzten völlige Dunkelheit und Panik ein, in deren Schutz die schwerbewaffneten Angreifer ihr Mordwerk verrichten konnten. Als diese nach rund einer halben Stunde wieder davonrasten, waren 24 Menschen tot und Dutzende weitere verletzt.

Unter den Getöteten befanden sich drei Mitglieder von Muktada Al Sadrs "Friedensbrigaden", die blaugekleidet seit Wochen den Regierungsgegnern Schutz zu bieten versuchen. Am darauf folgenden 7. Dezember wurde per Drohne ein Sprengstoffanschlag auf Al Sadrs Haus in der schiitischen Pilgerstadt Nadschaf durchgeführt. Zum Glück wurde dabei niemand verletzt, es blieb bei Sachschaden. Dafür fiel jedoch am 8. Dezember in Kerbala ein prominenter Sadr-Anhänger, Fahim Abu Ali Al Tayieh, einem Attentat zum Opfer, als er in der Stadt auf offener Straße vom Beifahrer eines Motorrads erschossen wurde.

Alle vier Vorkommnisse deuten auf eine sich zuspitzende und hochgefährliche Konfrontation zwischen Al Sadr, dessen Anhänger im Bagdader Parlament zusammen mit den Kommunisten den größten Block bilden und der stets für eine unabhängige Außenpolitik Iraks eintritt, und jenen schiitischen Politikern, die sich während der Saddam-Hussein-Ära im iranischen Exil aufhielten und seitdem in Amt und Würde quasi als Vertrauensleute Teherans agieren. Al Sadr, der Liebling der armen irakischen Jugend, der seit Anbeginn der Proteste den Rücktritt der gesamten Regierung und weitreichende politische Reformen gefordert hat, könnte sich gezwungen sehen, seine "Friedensbrigade" zurück in die sogenannte Mahdi-Armee zu verwandeln, die in den Nullerjahren sowohl die amerikanischen und britischen Streitkräfte als auch die sunnitische Al Kaida im Irak Abu Musab Al Zarkawis das Fürchten lehrte. Käme es dazu, dann stünden die Iraner im Irak tatsächlich vor ihrem eigenen "Vietnam".

10. Dezember 2019


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