Schattenblick → INFOPOOL → POLITIK → REDAKTION


NAHOST/1719: Libyen - türkisch-russische Gemeinsamkeiten ... (SB)


Libyen - türkisch-russische Gemeinsamkeiten ...


Als Anfang letzten Jahres die "Libysche Nationalarmee" (LNA) vom Osten Libyens aus in wenigen Wochen den Süden sowie weite Teile des Westens des Landes eroberte und dann im April 2019 zum Sturm auf die Hauptstadt Tripolis blies, stand ihr Kommandeur, der frühere Muammar-Gaddhafi-Vertraute und spätere CIA Verbindungsmann Khalifa Hifter, kurz vor der Verwirklichung seines großen Ziels, sich zum neuen starken Mann Libyens aufzuschwingen. Heute steht der Ex-General vor einem Scherbenhaufen. Er hat Tripolis nach mehr als einem Jahr Belagerung nicht einnehmen können, während sich die Regierung der Nationalen Einheit (Government of National Accord - GNA) um Premierminister Fayiz Al Sarradsch, die militärisch von der Türkei unterstützt wird, auf dem Vormarsch befindet. Schlimmer noch, Hifter scheint es sich mit seinem wichtigsten Gönner, Rußland, verscherzt zu haben, was sicherlich ein nicht unwesentlicher Faktor bei den jüngsten Niederlagen der LNA sein dürfte.

Als Ende letzten Jahres Ankara und Tripolis einen militärischen Beistandspakt unterzeichneten, wäre Hifter, dessen Truppen zu diesem Zeitpunkt Tripolis bereits ein Dreivierteljahr umzingelten, jedoch sich gegen den Widerstand der dortigen Milizen trotz klarer Luftüberlegenheit nicht durchsetzen konnten, gut beraten gewesen, seine dennoch mächtige Position auf der Landkarte beim großen Libyen-Gipfel Ende Januar in Berlin gegen politischen Einfluß im Rahmen eines wie auch immer gearteten Friedensprozesses einzutauschen. Statt dessen hat der selbsternannte Feldkommandeur in der deutschen Hauptstadt Gastgeberin Angela Merkel brüskiert, indem er sich demonstrativ weigerte, sich in einem Raum mit Al Sarradsch zu treffen, um Differenzen auszutauschen und nach einer Friedenslösung zu suchen. Das Benehmen Hifters war auch für Moskau eine Blamage, hatte doch immerhin die Türkei "ihren Mann" Al Sarradsch zum Treffen mit dem verhaßten Machtrivalen in Libyen bewegen können.

Seitdem scheinen die Russen auf der Suche nach einer Person oder Gruppierung, welche die Interessen Moskaus in Libyen besser berücksichtigen kann als der eigenwillige, 76jährige "Feldmarschall". Bereits am 13. April meldete die Onlinezeitung Al Monitor von einer Reihe mehrerer Treffen zwischen russischen Diplomaten und ranghohen Mitgliedern der zweiten "Regierung" Libyens, der im östlichen Tobruk residierenden Gegenregierung namens House of Representatives (HoR), sowie von Überlegungen des Kremls, Saif Al Gaddhafi, der ungeachtet des gewaltsamen Sturzes seines Vaters Muammar Gaddhafi 2011 bei Teilen der libyschen Bevölkerung über großen Rückhalt verfügt, zum neuen "Hoffnungsträger" aufzubauen.

Ob es die russischen Intrigen gewesen sind, die Hifter in die Offensive trieben, ist nicht ganz klar. Fest steht, daß er alles auf eine Karte setzte, als er sich am 27. April praktisch zum neuen Machthaber in Libyen erklärte und das Bekenntnis seiner LNA zum Friedensabkommen von Skhirat, Marokko, auf das sich seit 2015 die Legitimität der von den Vereinten Nationen anerkannten Regierung Al Sarradschs in Tripolis gründet, zurückzog. Die GNA hatte für die Erklärung Hifters nur Spott übrig, bezeichnete sie als "Farce" und ihn als einen "Putschisten". Der Schritt Hifters war weniger mutig als töricht, denn zu diesem Zeitpunkt hatte sich das Kriegsglück bereits gegen ihn gewandt. In den Tagen davor hatten die GNA-Milizen die LNA aus einer Reihe von Städten westlich von Tripolis vertreiben und den ganzen Küstenstreifen bis zur Grenze mit Tunesien wieder unter die eigene Kontrolle bringen können. Damals haben viele ausländische Mächte den Vorstoß Hifters kritisiert - Rußland eingeschlossen.

Und so ist es gekommen, wie es kommen mußte. Mit der Hilfe türkischer Militärberater, sunnitischer Dschihadisten aus Syrien und vor allem türkischer Kampfdrohnen sind die GNA-treuen Truppen nach Süden marschiert und haben am 18. Mai, nach mehreren Tagen schwerer Kämpfe, den enorm strategisch wichtigen Luftwaffenstützpunkt Al Watiya, der 125 Kilometer südwestlich von Tripolis liegt, zurückerobern können. Nun steht Hifter ohne Flugplatz, über das seine LNA auf dem Luftweg versorgt werden und von wo aus sie eigene Luftangriffe auf Tripolis führen kann, da. Der Verlust von Al Watiya, das ursprünglich von den US-Streitkräften im Zweiten Weltkrieg errichtet worden war, ist eine schwere Niederlage für Hifter und scheint die Kampfmoral seiner Soldaten geschwächt zu haben. Seitdem werden diese aus weiteren Kleinstädten südlich von Tripolis vertrieben. Der LNA droht inzwischen sogar die Vertreibung aus Tarhouna, der letzten nennenswerten Stadt im libyschen Westen, die sie noch kontrolliert.

Ungeachtet des Umstands, daß die LNA ihre Positionen in den südlichen Vororten von Tripolis bereits räumt, um nicht selbst vom Süden her von der GNA-Armee angegriffen zu werden, hat Hifters Luftwaffenchef Saqr al Dscharouschi am 21. Mai in einer Videobotschaft "die umfangreichsten Luftangriffen der libyschen Geschichte" gegen "alle türkische Einrichtungen" in Libyen, die er zu "legitimen Kriegszielen" erklärte, angekündigt. Eine solche Drohung ist nicht besonders ernst zu nehmen. Mit Al Watiya steht der regulären türkischen Luftwaffe nur der ideale Standort zur Verfügung, von wo aus sie gegebenenfalls in der Lage wäre, die weniger gut ausgerüsteten und ausgebildeten Fliegerstaffeln der LNA einfach zu zerquetschen.

Am 21. Mai haben die russischen und türkischen Außenminister Sergej Lawrow und Mevlut Cavusoglu zum Thema Libyen miteinander telefoniert und im Anschluß an das Gespräch ihren Aufruf zu einem Waffenstillstand zwecks Friedensverhandlungen erneuert. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß Rußland der Türkei in Libyen einen Zwischensieg gegönnt hat, um Hifter die Flügel zu stutzen und das gemeinsame Interesse Moskaus und Ankaras an einer Beendigung des Krieges dort voranzutreiben. Es könnte sein, daß Rußland von der Türkei als Gegenleistung noch mehr Hilfe als bisher bei der Lösung des Dauerproblems, die Beseitigung der "Terroristenhochburg" in der syrischen Provinz Idlib, erwarten wird. Denn auch in Syrien steht die Beendigung eines Bürgerkrieges als erklärtes, gemeinsames Ziel der Russen und der Türken fest.

22. Mai 2020


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang