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NAHOST/1721: Libyen - Frieden eine Frage militärischer Vorherrschaft ... (SB)


Libyen - Frieden eine Frage militärischer Vorherrschaft ...


Es sei "ein Rätsel", wie in in den letzten Tagen und Wochen die "Libysche Nationalarmee" (LNA) um den ehemaligen CIA-Verbindungsmann Khalifa Hifter im Bürgerkrieg in Libyen eine Niederlage nach der anderen kassierte und weite Teile des von ihr letztes Jahr im Sturm eroberten Westens an die Truppen der Regierung der Nationalen Einheit (Government of National Accord - GNA) um Premierminister Fayiz Al Sarradsch habe abgeben müssen. So schrieb Seth J. Frantzman am 7. Juni in einer Analyse in der Jerusalem Post. Ein Tag davor hatte sich Hifter in Kairo an der Seite des ägyptischen Präsidenten Abdel Fattah Al Sisi erstmals von sich aus für eine Feuerpause ausgesprochen. Der 76jährige "Feldmarschall" wirkte angeschlagen. Offenbar scheint er zu ahnen, daß seine Chance, sich zum neuen starken Mann Libyens aufzuschwingen, vorbei ist.

Bedenkt man den Elan, mit dem die LNA Anfang 2019 in wenigen Wochen vom Osten Libyens aus den Süden und den größten Teil des Westens erobert und die Hauptstadt Tripolis eingeschlossen hatte, dann mutet es zunächst rätselhaft an, daß Hifter nicht in der Lage gewesen ist, den Sack zuzuziehen und die Hauptstadt doch noch einzunehmen. Doch schaut man sich die Konstellation der Kräfte sowie die Entwicklung seitdem genauer an, erscheint der militärische Rückzug, auf dem sich die LNA praktisch seit April befindet, gar nicht so unerklärlich. Im Grunde war Hifter niemals politisch in der Lage, Tripolis gegen den Willen der dort stationierten, zum Teil islamistisch motivierten Milizen einzunehmen.

Mittels einer Belagerung hoffte er, Al Sarradsch in die Knie zu zwingen, doch solange dieser der Premierminister einer von den Vereinten Nationen anerkannten Regierung blieb und dessen Kräfte von See her versorgt werden konnten, waren Hifter quasi die Hände gebunden. Bedenkt man das Entsetzen, das allein die vereinzelten Artillerie- und Luftangriffe auf Ziele in Tripolis wegen der Opfer unter der Zivilbevölkerung zu Recht auslösten, stand für Hifter politisch niemals die Option zur Verfügung, auf die die UN-Vetomächte Rußland und die USA zuletzt im syrischen Ostghouta und im irakischen Mossul zurückgegriffen haben, nämlich die von feindlichen islamistischen Kräften gehaltene Stadt einfach in Schutt und Asche zu verwandeln.

Hifter hat die Gefahr unterschätzt, die von dem Beistandsabkommen, das die GNA im vergangenen November mit der Türkei schloß, ausging. Anders ist seine fehlende Bereitschaft, sich aus einer klaren Position der Stärke auf der großen Libyen-Konferenz in Berlin im vergangenen Januar mit Al Sarradsch auf einen wie auch immer gearteten "Friedensprozeß" zu verständigen, nicht zu erklären. In der deutschen Hauptstadt hat Hifter durch die Weigerung, sich im selben Zimmer wie Al Sarradsch aufzuhalten, geschweige denn diesem die Hand zu geben, nicht nur Gastgeberin Angela Merkel, sondern auch die Diplomaten seines wichtigsten Verbündeten Rußland brüskiert. Im März gingen die Milizen von Tripolis und der nahegelegenen Stadt Misurata, auf die sich die GNA stützt, mit türkischen Waffen und syrischen Söldnern in die Offensive und treiben die LNA seitdem quasi vor sich her.

Zunächst haben die GNA-Truppen den Küstenstreifen zwischen Tripolis und der Grenze zu Tunesien "befreit". Daraufhin hat sich Hifter vom Friedensabkommen von Skhirat, Marokko, aus dem Jahr 2015 losgesagt und der GNA versprochen, sie zu beseitigen. Die Ankündigung bewirkte ihr Gegenteil. Mitte Mai verlor Hifters LNA den strategisch wichtigen Luftwaffenstützpunkt Al Watiya, der 125 Kilometer südwestlich von Tripolis liegt. Aus Angst, vom Süden her eingekesselt zu werden, hat die LNA daraufhin die südlichen Vororte von Tripolis geräumt. Dies hat den Gegnern zusätzlichen Auftrieb verliehen. Mit Hilfe bewaffneter Drohnen haben die GNA-Milizionäre und ihre türkischen Militärberater letzte Woche die Stadt Tarhouna, welche das östliche Tor zur Hauptstadt darstellt, "zurückerobert". Von dort aus haben sie ihre Offensive die Mittelmeerküste entlang fortgesetzt.

Aktuell wird heftig um die Stadt Sirte, die 450 Kilometer östlich von Tripolis liegt, gekämpft. Sirte ist von großer Bedeutung, denn gleich östlich von ihr liegt die Region mit einigen der wichtigsten Ölfelder sowie der allermeisten Raffinerien und Verladehäfen Libyens. Militärbeobachter gehen davon aus, daß die LNA alles daran setzen wird, Sirte zu halten und die GNA-Truppen am Überschreiten der Linie, die sie und den südlich davon im Landesinnern befindlichen Luftwaffenstützpunkt Al Jufra verbindet, zu hindern. Anlaß zu dieser Vermutung ist die Verlegung mehrerer russischer Kampfjets von Syrien nach Al Jufra Anfang Juni. Zudem haben am 8. Juni erstmals ägyptische Panzer und Kampfhubschrauber die libysche Grenze überschritten. Offenbar will Ägyptens Diktator al Sisi Hifter und dem House of Representatives (HoR) in Tobruk - Libyens zweite "Regierung" - den Rücken stärken und eine Einnahme des libyschen Ostens durch die GNA-"Dschihadisten" verhindern.

Während auf dem Schlachtfeld getötet und gestorben wird, findet zwischen den ausländischen Mächten, die seit dem Sturz des "Regimes" Muammar Gaddafis 2011 um Einfluß in Libyen ringen, eine rege Hinterzimmerdiplomatie statt. Am selbstbewußtesten gibt sich der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan, dem es gelungen zu sein scheint, US-Präsident Donald Trump von seiner bisherigen Präferenz für Hifter abzubringen. Unter dem Vorwand der "russischen Einmischung" in Libyen und damit an der Südflanke der NATO hat das Pentagon vor wenigen Tagen Soldaten und Kampfausrüstung nach Tunesien verlegt. Erdogan und Rußlands Präsident Wladimir Putin, die ohnehin gemeinsam an einer Friedenslösung für Syrien arbeiten, haben sich am vergangenen Wochenende für eine Feuerpause in Libyen ausgesprochen.

Frankreich, das bisher Hifter unterstützte, schwenkt allmählich auf eine gemeinsame EU-Linie mit dem Rivalen Italien ein, bei der einem Ende der Kämpfe höchste Priorität eingeräumt wird. Zu diesem Zweck machte Frankreichs Außenminister Jean-Yves Le Drian am vergangenen Wochenende seinen ersten Auslandsbesuch seit Beginn der Corona-Krise in Rom. Italien hat seit 2015 zu dem anfangs politisch unerfahrenen Geschäftsmann Al Sarradsch gehalten und sieht sich nun durch die jüngsten militärischen Erfolge der GNA-Truppen in seiner Position bestätigt. In wieweit sich Ankara, Kairo, Moskau, Paris, Rom und Washington in der Libyen-Frage handelseinig werden können, ist vollkommen unklar, denn es geht hier auch um Bohr- und Erkundungsrechte sowie die Verlegung konkurrierender Öl- und Gaspipelines im östlichen Mittelmeer. Doch ohne ein Ende der Ränkespiele der Großmächte besteht auf einen tragbaren Frieden in Libyen keinerlei Aussicht.

11. Juni 2020


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