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SOZIALES/2088: Aufstand an der Bildungsfront - Bundesweite Streikwoche (SB)


Verheerende Bilanz nach zehn Jahren Bologna-Prozeß


Zehn Jahre Bologna-Prozeß haben die deutsche Bildungslandschaft auf beispiellose Weise verwüstet und im Zuge ihres aggressiven Vernichtungsfeldzugs alle Ansätze zu Grabe getragen, die nicht darauf verzichten wollten, dem Lernprozeß emanzipatorische Qualitäten abzuringen. Was die europäischen Bildungspolitiker 1999 als restriktiven Entwurf systematischer Zurichtung junger Menschen konzipiert hatten, wurde hierzulande unter Federführung der mächtigen Bertelsmannstiftung zu einem Käfig zusammengezimmert, der den unkontrollierbaren Flugversuchen auf den Schwingen geistiger Entfaltung ein Ende setzen und die Batteriehaltung an Schule und Hochschule zum unausweichlichen Standard machen sollte. Haben die Apologeten der Friedhofsruhe an der Bildungsfront ihr Ziel erreicht?

Die SchülerInnen und Studierenden, die in dieser Woche ihren bundesweiten Streik für ein anderes Bildungssystem in Stellung bringen, bestreiten das vehement. Und sie begnügen sich nicht mit einer stillen Kundgebung ihrer Wünsche, sondern tragen den Protest offensiv in die Öffentlichkeit, um in den Alltag der Bürger einzugreifen und ihr Aufbegehren nicht ungehört verhallen zu lassen. An Hamburger Hauptverkehrsrouten blockierten Demonstranten mit Transparenten und farbigen Rauchbomben auf mehreren wichtigen Kreuzungen den morgendlichen Berufsverkehr und klärten die Verkehrsteilnehmer mit Flyern über Sinn und Zweck ihrer Aktion auf. Wenngleich unerfreuliche Zwischenfälle nicht ganz ausblieben, reagierten die Menschen trotz dieses unverhofften Aufenthalts auf ihrem Weg zur Arbeit doch überwiegend interessiert und gelassen. Zumindest ist nicht auszuschließen, daß der in allen gesellschaftlichen Sphären zunehmende existentielle Druck die Ahnung zur Gewißheit verdichten könnte, daß stumme Verzweiflung diesen Strick nicht lockern kann, der einem die Luft zum Atmen abschnürt.

In welchem Ausmaß es gelingt, Schulen und Hochschulen in ganz Deutschland lahmzulegen, wird die Manöverkritik zeigen. Für den 17. Juni sind in rund 80 Städten Demonstrationen geplant, zu denen die Organisatoren 150.000 Teilnehmer erwarten. Bemerkenswert ist jedenfalls die gemeinsame Front von Schülern und Studierenden im gesamten Bundesgebiet, der neben zahlreichen Eltern und Lehrenden auch die Gewerkschaften den Rücken stärken wollen. Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft hatte bereits im April ihre Unterstützung zugesagt und ihre Mitglieder zur Teilnahme aufgerufen. Ver.di-Chef Frank Bsirske stellte sich auch im Namen des Deutschen Gewerkschaftsbundes hinter die Aktionen und verwies darauf, daß viele Forderungen der Streikenden mit denen auf gewerkschaftlicher Seite identisch seien. In Berlin forderten die emeritierten Politikwissenschaftler Peter Grottian und Wolf-Dieter Narr die Dozenten zur Streikteilnahme auf, um gegen die "schreienden Zustände an den Universitäten" Protest einzulegen. (junge Welt 12.06.09)

So verheerend haben die Bildungsreformen und Strukturmaßnahmen der zurückliegenden Jahre gewütet, daß die Liste angemahnter Rücknahmen, Veränderungen und neu definierter Zielsetzungen zwangsläufig auszuufern droht. Vom fehlenden Personal in Kindertagesstätten über unzureichende Ausbildungsplätze und zu große Klassen bis hin zu der Reglementierung des Studiums durch die unsäglichen Bachelor- und Master-Studiengänge unter dem Kontrollregime Stine reicht der Bogen fortgesetzter Grausamkeiten, die nicht von ungefähr Assoziationen an die sagenumwobene Hydra wecken, der mit jedem abgeschlagenen Kopf drei neue wachsen.

Und da gerade von Mythen die Rede ist, gilt es natürlich auch jene der Bildungspolitiker auseinanderzunehmen. Sie predigen schlanke Studiengänge und meinen ein verschultes Schmalspurstudium. Sie schwadronieren über Praxisbezug und setzen den Einfluß der Wirtschaft auf die Inhalte durch den Zwang zur Eintreibung von Drittmitteln durch. Sie preisen europaweite Vergleichbarkeit der Leistungen und Abschlüsse als Zuwachs an Gerechtigkeit und Mobilitätschancen an, woraus ein unerhörter Konformitäts-, Prüfungs- und Kontrolldruck resultiert. Bildung ist längst zu einem Spießrutenlaufen vom Kindergarten bis ins Rentenalter degeneriert, dessen roter Faden die Unerfüllbarkeit herangetragener Anforderungen unter zunehmend eingeschränkten Bedingungen ist.

Die Opfer dieser Prozedur sind nicht zu beneiden, steht doch zu befürchten, daß aus diesem Preßvorgang in jeder Beziehung eingeschränkte, paßförmige und konfliktscheue Wesen hervorgehen, die ihrer Entfaltungsmöglichkeiten beraubt nicht einmal mehr zu denken, geschweige denn in die Tat umzusetzen vermögen, was frühere Generationen von Schülern und Studierenden auf die Palme und auf die Barrikaden gebracht hat. Handy in der Hand und Anglizismen im Mund, aber nichts im Kopf, was der Rede wert wäre, konnte ein Zyniker vernichtend Bilanz ziehen. Besser als Häme, die sich als Hofnarr restriktiver Zuspitzung und Verödung gebärdet, wäre freilich ein Resultat immensen Drucks, das für die Betreiber der Bildungspresse zwangsläufig ein unkalkulierbares Risiko bleiben muß: Wenngleich die Verengung und Verdichtung der Lebens- und Lernräume dem Zweck geschuldet ist, alles zu zerquetschen, was an Restbeständen nagender Unzufriedenheit und gärender Zweifel verblieben sein mag, birgt diese Gemengelage bisweilen das Potential einer ebenso unverhofften wie gewaltigen Explosion.

16. Juni 2009