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SOZIALES/2090: Wie substantiell ist die Kritik am Sparpaket der Bundesregierung? (SB)


Spreu und Weizen an der breiten Front des Widerstands


Das von der schwarz-gelben Bundesregierung in ihrer Klausur beschlossene größte Sparpaket in der Geschichte der Bundesrepublik stellt die Weichen zu einer in ihrem Umfang beispiellosen Umverteilung der Krisenlasten auf die schwächeren Teile der Gesellschaft. Die entuferte soziale Grausamkeit vor Augen, regt sich Widerstand auf breiter Front, der von der Opposition, den Gewerkschaften und Sozialverbänden, aus Kirchenkreisen und selbst dem Wirtschaftsflügel der Union mitgetragen wird. Wie schon die weitgefächerte Palette der Kritiker nahelegt, weisen die Einwände gravierende Unterschiede in ihrer Begründung und Tragweite auf, weshalb die Entschiedenheit und Konsequenz der Gegnerschaft auf den Prüfstand gelegt werden muß. Wollen die Opfer des forcierten Würgegriffs dieser Bedrohung die Stirn bieten, gilt es im ersten Schritt, im Lager vermeintlicher Bündnispartner die Spreu vom Weizen zu trennen.

Die von der Koalition beschlossene Leitlinie der Haushaltspolitik erklärt solide Staatsfinanzen und eine solide Finanzpolitik zum "Grundpfeiler christlich-liberaler Politik" und zur "zentralen Aufgabe für die Gestaltung unserer Zukunft". Indem die Bundesregierung Preisstabilität und solide Finanzen zu ihrer entscheidenden Zielsetzung in den kommenden Jahren erklärt, blendet sie andere wesentliche Aufgaben wie das wirtschaftliche Wohlergehen der Mehrheit der Menschen, deren soziale Sicherheit, die Arbeitsplätze und Berufschancen wie auch Frieden oder die Schonung von Ressourcen und Umwelt aus. Als 480 Milliarden Euro als Rettungsschirm für die Banken bereitgestellt wurden, wovon weit über 100 Milliarden bereits geleistet sind, sprach man von alternativlosen Maßnahmen, auf die Kriterien wie sparsam oder solide nicht angewendet werden könnten. Die hebt man sich zwangsläufig für jene auf, deren Belange man auf dem Altar unvermeidlicher Sparpakete zu opfern gedenkt. [1]

Wenn zudem die Gestaltung einer Zukunft ins Auge gefaßt wird, in der Deutschland "wieder international an der Spitze steht", sei daran erinnert, daß die deutsche Volkswirtschaft zwar bei den Exportüberschüssen an der europäischen Spitze stand, nicht jedoch bei der Beschäftigung von Menschen, bei der Erwerbsquote, bei der Lohnentwicklung, ja nicht einmal bei der hochgelobten finanziellen Solidität des Staates. So drängt man Arbeitslose und Empfänger von Hartz IV noch weiter an den Rand der Gesellschaft, kürzt die Mittel für Bildung, streicht die Finanzen zur Infrastruktur zusammen, um ein starkes Deutschland zu generieren, das nicht nur über die europäischen Nachbarländer triumphieren, sondern auch die eigene Bevölkerung ausbluten lassen und zugleich im Zaum halten soll.

Unter den Kritikern dieser Drangsalierung hat sich nun auch die frühere Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Margot Käßmann, zu Wort gemeldet, deren Popularität beim kirchlichen Fußvolk und derzeitige Medienpräsenz ihrer Stimme beträchtliche Aufmerksamkeit sichert. Die ehemalige Landesbischöfin sagte Presseberichten zufolge im Martin-Luther-Forum in Gladbeck, sie habe sich angesichts der geplanten Streichung des Elterngeldes für Arbeitslose gefragt, "ob Hartz-IV-Empfänger weniger Würde als andere Menschen haben". Käßmann forderte kirchlichen Widerstand gegen die beschlossenen Maßnahmen indem sie erklärte, die Kirche dürfe politisch sein und müsse nun ihr Wächteramt wahrnehmen. [2]

In ihren mehr als zehn Jahren im Bischofsamt hatte sich Käßmann des öfteren mit Nachdruck für sozial Schwache eingesetzt und die Politik kritisiert. Das wurde solange hingenommen und auf der sozialintegrativen Habenseite verbucht, bis sich die damalige Ratsvorsitzende in ihrer Neujahrspredigt im Berliner Dom gegen den deutschen Kriegseinsatz aussprach. Nun setzte es herbe Schelte, die eine scharfe Grenzlinie zog, welche Angehörige des gesellschaftlichen Establishments nicht überschreiten dürfen, wollen sie nicht für untragbar erklärt werden. Durch mißliche Umstände inzwischen von ihren Führungsämtern befreit, hatte Käßmann zuletzt auf dem 2. Ökumenischen Kirchentag die Afghanistan-Politik der Bundesregierung erneut kritisiert. Die Aufstockung der Ausgaben für die Truppe sei im Vergleich zu den weit geringeren für die Entwicklungshilfe unverhältnismäßig. [3] Wenngleich ihre Einlassungen zu Krieg und Sozialpolitik in Form und Inhalt moderat bleiben, dürfte ihr Aufruf zur Wahrnehmung des kirchlichen Wächteramts und zum Widerstand gegen die Sparmaßnahmen Regierungskreisen doch recht schwer im Magen liegen.

Der Vorsitzende des Deutschen Gewerkschafts-Bundes (DGB), Michael Sommer, sprach von einem Dokument der Perspektivlosigkeit und sozialen Schieflage. Die Einsparungen in der Arbeitsmarktpolitik führten zu einem Anstieg der Arbeitslosigkeit, wobei insbesondere Langzeitarbeitslose "in unglaublicher Weise mehrfach belastet", Besserverdienende jedoch durch das Sparpaket geschont würden. Nun werde man den Protest in die Betriebe tragen. "Der gesellschaftliche Kampf hat seit gestern begonnen", sagte der Gewerkschaftsvorsitzende dem Sender rbb [4], wobei er mit dieser Parole unbeabsichtigt die gravierenden Versäumnisse der deutschen Gewerkschaften in den zurückliegenden Jahren zur Sprache brachte.

Wehren will sich auch die IG Metall, deren Vorsitzender Berthold Huber die Kürzungsbeschlüsse der Koalition als ungerecht und nicht dazu geeignet, die Krise zu bekämpfen, bezeichnete. Die Löcher in den öffentlichen Haushalten seien entstanden, weil die Regierungen die "gnadenlose Zockerei" an den globalen Finanzmärkten zugelassen hätten. Nun seien sie aber nicht bereit, die Krisenverursacher in angemessener Höhe an den Kosten zu beteiligen. Wenngleich bei Hubers Erklärungsversuch von einer angemessenen Analyse der kapitalistischen Systemkrise nicht die Rede sein kann, läßt sich seiner Forderung, die Krisenverursacher zur Kasse zu bitten, schon etwas abgewinnen.

Die Maßnahmen seien "extrem feige, weil die Verursacher dieser Krise geschont und Bedürftige rasiert werden", rügte SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles das Vorhaben der Bundesregierung. Die SPD werde "diese massiven Einschnitte in der aktiven Arbeitsmarktpolitik nicht hinnehmen". Da Bundestag und Bundesrat bei einigen Sparvorschlägen noch zustimmen müssen, wittert die Opposition ihre Chance, sich in der Debatte gut zu plazieren und die geschundenen Teile der Bevölkerung für sich einzunehmen. Diese müßten dabei allerdings vergessen, daß es die Sozialdemokraten waren, welche die berüchtigten Hartz-Gesetze und diverse andere Grausamkeiten auf den Weg gebracht und auf der Regierungsbank mitgetragen haben. Erst in der Opposition ein Herz für die Opfer ihrer eigenen Politik zu entdecken, weist die SPD nicht gerade als zuverlässigen Bündnispartner im Abwehrkampf aus.

Gleiches gilt auch für die Grünen, zumal deren offenkundige Bereitschaft, für eine Regierungsbeteiligung mit jedem Partner ins Bett einer Koalition zu springen, die sozialpolitischen Ansprüche ihrer Gründerjahre längst entsorgt hat. Zwar kündigte ihr Parteivorsitzender Cem Özdemir im Sender n-tv an, man wolle die milliardenschweren Sparmaßnahmen nach Möglichkeit verhindern und dafür auch dort, "wo der Bundesrat gefragt ist, sicherlich alles in Bewegung setzen, daß das keine Mehrheit bekommt". Nach einer entschlossenen Offensive, die dem Ernst der Lage wenn schon nicht für die Grünen, so doch für breite Bevölkerungsteile jenseits ihrer Klientel, angemessen wäre, klang diese Äußerung nicht. Auch Özdemirs Aussage, das Sparpaket der schwarz-gelben Koalition lasse "jede Art von Generationengerechtigkeit" vermissen, wirkt nur so lange plausibel, wie man Generationenverträge und andere fiktive Verpflichtungen, mit denen die Bürger staatlicherseits geleimt werden, für bare Münze nimmt.

Grünen-Chefin Claudia Roth warf der Regierungskoalition vor, mit dem geplanten Sparpaket den sozialen Frieden in Deutschland zu gefährden: "Wenn die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinander geht, die Langzeitarbeitslosen an den Rand gedrängt werden, dann geht das an die Fundamente unserer Demokratie und unseres Rechtsstaates." Wenngleich das eine geläufige Formel ist, die man in dieser oder ähnlicher Form gewiß schon tausendmal gehört hat, sollte die Frage erlaubt sein, was damit eigentlich gemeint ist. Mit der vielzitierten Warnung, zu aggressive Sparmaßnahmen gefährdeten den sozialen Frieden, dient sich die Pseudokritik als flexiblere Sachwalterin der herrschenden Verhältnisse an, die nur mit Maß und Ziel im Zaum zu halten seien.

Rumoren ist auch aus dem Sozialflügel der CDU zu vernehmen, der das Sparpaket der Bundesregierung als unausgewogen kritisiert und Korrekturen fordert. Nach den Worten des stellvertretenden Bundesvorsitzenden der CDU-Sozialausschüsse, Christian Bäumler, ist die Abschaffung des Rentenbeitrags für Hartz-IV-Empfänger nicht akzeptabel. Da würden diejenigen getroffen, die keine Lobby haben und sich am wenigsten wehren können, während man andererseits Vermögende und die Finanzbranche schone, so der Sozialpolitiker. [5]

Bundestagspräsident Norbert Lammert tadelte in der "Rheinischen Post" das Sparpaket mit den Worten: "Als Signal für die Notwendigkeit einer breiten, gemeinsamen Anstrengung in unserer Gesellschaft hätte ich mir gewünscht, daß auch die Spitzeneinkünfte einen besonderen Beitrag zu leisten haben." Ein solcher Beitrag wäre "ganz sicher nicht konjunkturschädlich gewesen" und hätte zudem "den Eindruck einer geballten Anstrengung, an der sich alle beteiligen müssen, sicherlich stabilisiert". Der Präsident des CDU-Wirtschaftsrates, Kurt Lauk, bekräftigte im ARD-"Morgenmagazin" die Bereitschaft zu einer Anhebung des Spitzensteuersatzes: "Wenn die Not groß ist, dann verweigert keiner, weder arm noch reich, seinen Beitrag zu leisten."

Schuld an der "Schieflage", welche der CDU-Sozialflügel am Sparpaket ausgemacht haben will, habe die FDP, erklärte Bäumler. Dem schloß sich Lauk mit der Behauptung an, die Union habe sich für eine soziale Balance eingesetzt, sei aber damit nicht richtig durchgekommen. Die FDP sei eben "noch immer nicht vollständig in der Realität angekommen". Wenngleich außer Frage steht, daß soziale Skrupel gewiß nicht das vordringlichste Problem der Liberalen sind, mutet die Ausflucht in Teilen der Union, der kleinere Koalitionspartner habe die soziale Balance der Sparmaßnahmen verhindert, ausgesprochen dünn an.

Die schwarz-gelbe Bundesregierung hat bekanntlich ein Paket beschlossen, durch das in den kommenden vier Jahren mehr als 80 Milliarden Euro eingespart werden sollen, wobei die gravierendsten Einschnitte bei den Sozialleistungen und im öffentlichen Dienst vorgesehen sind. Nach Ansicht von Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble wird dieses Sparpaket Deutschland wieder auf den Kurs des europäischen Stabilitätspakts bringen. Doch auch in punkto soziale Ausgewogenheit habe die Koalition eine "sehr vernünftige Balance" gefunden. Indem Schäuble die unversöhnlichen Widersprüche kurzerhand zu einem gut ausbalancierten System erklärt, mit dem alle leben könnten, blendet er die tatsächlichen Lebensverhältnisse der in Armut und Ausgrenzung getriebenen Bevölkerungsteile systematisch aus und schränkt den Rahmen der Debatte auf geringfügige kosmetische Korrekturen des Sparpakets ein. Nun darf man gespannt sein, wie rasch die eine oder andere Fraktion des verbalradikalen Protests in Schäubles Käfig gekrochen kommt, wenn sie nach der Regierungsbank schielt oder einen Stammplatz am Tisch des gesellschaftlichen Establishments für sich reklamiert.

Anmerkungen:

[1] Wo ökonomischer Sachverstand gefragt wäre, herrscht eine dumpfe, nicht einmal intelligente Ideologie (09.06.10)
http://www.nachdenkseiten.de/?p=5837#more-5837

[2] Elterngeld-Streichung: Käßmann ermutigt zum Widerstand gegen Sparpaket (09.06.10)
http://www.stern.de/politik/deutschland/elterngeld-streichung-kaessmann-ermutigt-zum-widerstand-gegen-sparpaket-1572497.html

[3] Spardebatte. Käßmann fordert kirchlichen Widerstand gegen Sparpläne (09.06.10)
http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2010-06/Kritik-Kaessmann

[4] Kritik an schwarz-gelbem Kürzungsplan. Käßmann ruft zu Widerstand gegen Sparpaket auf (09.06.10)
http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,699426,00.html

[5] CDU-Wirtschaftsflügel kritisiert Sparprogramm als unsozial (09.06.10)
http://de.news.yahoo.com/2/20100609/tpl-cdu-wirtschaftsfluegel-kritisiert-sp-ee974b3.html

9. Juni 2010