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SOZIALES/2093: Frankreich blockiert Einreise tunesischer Flüchtlinge aus Italien (SB)


Menschenrechtskrieger schotten sich gegen Migration ab


Den Schutz der Zivilbevölkerung im Munde zu führen, um den Angriffskrieg gegen die libysche Führung zu legitimieren, und zugleich die aus Nordafrika nach Europa fliehenden Menschen abzuweisen, offenbart die Doppelzüngigkeit gesamteuropäischer Sicherheitspolitik. Bezeichnenderweise vollzog sich die Einigung auf der supranationalen Ebene der Europäischen Union am zügigsten dort, wo sich das gemeinsame Interesse der Mitgliedsländer zur Abschottung nach außen Bahn brach. Die nordafrikanischen Küstenstaaten und namentlich Libyen wurden als ausgelagerte Vorposten eines gestaffelten Grenzregimes rekrutiert, um die Migranten frühzeitig abzufangen, in Lagern gefangenzuhalten und zu deportieren. Die jüngsten Verwerfungen in der Region haben den Strom der Flüchtlinge anschwellen lassen, mit denen die Länder Europas so wenig zu tun haben wollen, daß Hunderte bei der Überfahrt zu Tode kommen, Tausende auf Lampedusa unter unwürdigsten Bedingungen isoliert werden und die italienische Regierung alles daransetzt, sich dieses Problem vom Hals zu schaffen.

Auf der Flucht vor dem Krieg in Libyen und den Unruhen in Tunesien und Ägypten sind allein in diesem Jahr 26.000 Flüchtlinge aus Nordafrika in Italien angekommen. Das Kalkül der Regierung in Rom, einen Teil der Flüchtlinge in den Stand zu setzen, in andere europäische Länder auszureisen, hat zu einem heftigen Zwist mit Frankreich geführt, wo man die Flüchtlinge ebenso wenig dulden will wie irgendwo sonst in der EU. Die Entscheidung auf französischer Seite, den grenzüberschreitenden Zugverkehr für mehrere Stunden einzustellen, um den Transport tunesischer Flüchtlinge aus dem italienischen Ventimiglia nach Nizza zu verhindern, sorgte für böses Blut zwischen den Nachbarländern. Erbost sprach die italienische Presse von einer "Ohrfeige" für ihr Land, die Regierung in Rom verurteilte die "illegitime und klare Verletzung der grundlegenden europäischen Prinzipien" und Außenminister Franco Frattini beauftragte den Botschafter in Paris, seine "tiefe Verärgerung" über "die illegale Maßnahme" zum Ausdruck zu bringen.

Dem hielt Frankreichs Innenminister Claude Guéant entgegen, sein Land habe sich "bis aufs Komma genau" an die Vorschriften des Schengener Abkommens gehalten. Dieses garantiere nur denjenigen Freizügigkeit, die gültige Ausweispapiere vorweisen könnten und genügend Geld bei sich trügen, um sich zu versorgen. Zudem sollte der "Zug der Würde" von etwa zweihundert Menschenrechtsaktivisten aus Italien und Frankreich begleitet werden, die unangemeldete Kundgebungen geplant hätten, so Guéant. Daher sei die öffentliche Sicherheit und Ordnung seines Landes gefährdet gewesen. [1]

Rückendeckung erhielt Frankreich in dieser Kontroverse von der EU-Kommission: Paris habe nicht gegen EU-Recht verstoßen, erklärte Innenkommissarin Cecilia Malmström in Brüssel. Mitgliedsstaaten seien berechtigt, derartige Grenzkontrollen durchzuführen, sofern sie Gefahr für ihre öffentliche Sicherheit sähen. [2] Der bayerische Innenminister Joachim Herrmann (CSU) kritisierte die italienischen Behörden für die Ausgabe von vorläufigen Aufenthaltsgenehmigungen an tunesische Flüchtlinge als "eine Zumutung" und äußerte Verständnis für die Haltung der französischen Regierung. Das Verhalten Italiens verstoße "ganz klar gegen die Grundsätze der Partnerschaft in Europa und den Geist von Schengen und Dublin II". Auf diese Weise würden alle getroffenen Vereinbarungen unterlaufen. "Im Rahmen unserer Schleierfahndung beobachten wir in Südbayern, ob jemand so nach Deutschland einreist." [3]

Seit dem Sturz des tunesischen Präsidenten Zine el-Abidine Ben Ali im Januar sind mehr als 23.000 Tunesier "illegal" nach Italien gekommen. Die Regierung in Rom schloß vor zwei Wochen ein Sonderabkommen mit Tunis, dem zufolge tunesische Migranten ab sofort abgeschoben werden. Allerdings verpflichtete sich die italienische Regierung dazu, die zuvor Angekommenen vorübergehend zu versorgen. Um deren Ausreise in andere europäische Länder zu forcieren, begann die Berlusconi-Administration, Aufenthaltsgenehmigungen ausstellen zu lassen, die es nach Auffassung der italienischen Regierung erlauben, visafrei in eine Reihe europäischer Länder zu reisen, darunter auch nach Frankreich. "Wir haben den Migranten Reisedokumente ausgestellt und die EU-Kommission hat das anerkannt. Sie hat erklärt, Italien halte sich an die Schengen-Regeln", erklärte Innenminister Roberto Maroni in einem Interview des Fernsehsenders Sky TG24 TV. "Der freie Reiseverkehr steht jedem offen, der die entsprechenden Papiere hat und nach Frankreich will."

Dies führte dazu, daß in Ventimiglia Hunderte Tunesier darauf warteten, mit Hilfe dieser Reisepapiere nach Frankreich zu fahren. Dort hatte man die Kontrollen bereits seit Monaten verstärkt und nach Angaben von Innenminister Guéant allein zwischen dem 23. Februar und dem 28. März insgesamt 2800 tunesische Flüchtlinge bei Personenkontrollen festgenommen und den überwiegenden Teil größtenteils nach Italien abgeschoben. [4] Nun bestand Frankreich auf Einhaltung der Regularien zur Abweisung von "Wirtschaftsflüchtlingen". Wer legal einreisen will, muß nicht nur gültige Papiere besitzen, sondern darüber hinaus den Nachweis erbringen, daß er mit dem festgesetzten Betrag von 31 Euro pro Tag seinen Lebensunterhalt bestreiten kann. Wer aber keine Bleibe hat, was für so gut wie alle Flüchtlinge gelten dürfte, muß sogar 62 Euro pro Tag und Person nachweisen. [5]

Auf diese Weise wird eine hohe Hürde der Selektion errichtet, welche die wenigsten Migranten meistern können. Inzwischen hat der zuständige Präfekt zwar die Weisung gegeben, die zeitweise unterbrochene Bahnverbindung wieder zu befahren, durch unterstreicht diese Kontroverse, mit welch brachialen Mittel nicht nur Frankreich gegen Flüchtlinge vorzugehen bereit ist. Die umstrittenen Ausweise können gemäß dem Schengen-Abkommen zum offenen Grenzübergang zum Übertritt berechtigen. Angeführt von Deutschland und Frankreich hatte sich jedoch der überwiegende Teil der EU bereits eine Woche zuvor auf einem Sondergipfel in Luxemburg entschieden gegen das Vorgehen der italienischen Regierung ausgesprochen.

Unterdessen hat sich EU-Ratspräsident Herman van Rompuy hinter den harten Kurs der USA, Frankreichs und Großbritanniens bei der militärschen Intervention in Libyen gestellt, wie ihn die Staatschefs Barack Obama, Nicolas Sarkozy und David Cameron in ihrer gemeinsamen Erklärung formuliert haben. "Gaddafi ist immer noch da, aber er ist sehr geschwächt. Ich denke, daß wir den militärischen Druck aufrechterhalten müssen (...) und daß wir so handeln müssen, daß er abtritt", sagte der Belgier gegenüber französischen Medien. Man dürfe die Angriffe erst dann einzustellen, wenn Gaddafi nicht mehr an der Macht sei. "Es gibt keinen ausreichenden Schutz der Zivilbevölkerung, wenn die Gaddafis nicht weg sind", unterstrich van Rompuy.

In einem Interview mit der Washington Post erklärte einer der Söhne Gaddafis, Seif al-Islam, man habe keine Verbrechen gegen das eigene Volk begangen. In diesem Zusammenhang verglich er Berichte, wonach Sicherheitskräfte zu Beginn der Unruhen im Februar auf Demonstranten geschossen hätten, mit den fingierten Vorwürfen gegen Saddam Hussein vor Beginn des Irakkriegs: "Massenvernichtungswaffen, Massenvernichtungswaffen, Massenvernichtungswaffen - und schon wird der Irak angegriffen. Zivilisten, Zivilisten, Zivilisten - und schon wird Libyen angegriffen."

Anmerkungen:

[1] Frankreich und Italien streiten um Flüchtlinge (19.04.11)
http://www.sueddeutsche.de/i5e385/4044112/Frankreich-und-Italien-streiten-um-Fluechtlinge.html

[2] EU stellt sich hinter Frankreich im Streit um Flüchtlinge (19.04.11)
http://de.reuters.com/article/topNews/idDEBEE73I02U20110419

[3] Migranten-Ansturm. Frankreich stoppt italienischen Flüchtlingszug (17.04.11)
http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,757590,00.html

[4] Migration. Italien gibt illegalen Migranten Papiere zur Weiterreise (17.04.11)
http://www.focus.de/politik/ausland/migration-italien-gibt-illegalen-migranten-papiere-zur-weiterreise_aid_619289.html

[5] Libyen-Krieg und die Folgen. Europa streitet über den Umgang mit den Flüchtlingen (18.04.11)
http://www.abendblatt.de/politik/article1859970/Europa-streitet-ueber-den-Umgang-mit-den-Fluechtlingen.html

19. April 2011