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SOZIALES/2097: Problem Altersarmut an der Wurzel packen (SB)



Sozialverband Deutschland fordert Paradigmenwechsel

Daß die Renten sicher seien, ist ein Treppenwitz aus der kurzen Blütezeit des deutschen Wirtschaftswunders, der wie so viele andere Heilsversprechen der sogenannten freien und sozialen Marktwirtschaft längst auf dem Müllhaufen der Geschichte entsorgt ist. Gescheitert ist auch die Riester-Rente, und daß Altersarmut grassiert, wird heutzutage wohl niemand mehr bestreiten. Wie man eine jüngere Generation, der es schlechter als der ihrer Eltern geht, aber zugleich auch die älteren Menschen, denen ein trostloser Lebensabend in Aussicht steht, bei der Stange unwidersprochenen Verzichts auf ein Leben in Würde halten kann, gehört zu den zentralen Fragen der Sozialpolitik. Während sich jedoch an anderen Kriegsschauplätzen des Sozialkampfs mit Muslimen, Flüchtlingen, Bildungsfernen, sozial Schwachen und anderen Zielscheiben der Bezichtigung Opfer der Umlastung aufs Korn nehmen lassen, ist das bei alten Menschen nicht so einfach: Das Glaubensbekenntnis der Kriegs- und Nachkriegsgeneration, daß nur der im Rentenalter nichts zu beißen habe, der nicht ordentlich eingezahlt hat, ist Schall und Rauch. Das Problem der Altersarmut steht wie ein Elefant im Raum, den zu ignorieren es eines aufwendigen Budenzaubers vorgeblicher Rentenreformen bedarf.

Wie der Sozialverband Deutschland (SoVD) in Berlin bei der Vorstellung seines Positionspapiers "Bekämpfung von Altersarmut" dargelegt hat, sind immer mehr Menschen auf die Grundsicherung im Alter angewiesen, weil ihre Rente nicht reicht. [1] Ende 2005 erhielten demnach 343.000 Menschen Grundsicherungsleistungen, neun Jahre später waren es 512.000, derzeit sind es bereits rund 540.000. Und nach Einschätzung des Verbands werden von 2020 an bis zu einem Viertel der künftigen Rentenbezieher Grundsicherung in Anspruch nehmen müssen - sofern kein grundlegender Paradigmenwechseln in der Rentenpolitik vorgenommen wird.

Mit einer Mixtur aus kosmetischen Korrekturen, haltlosen Versprechen und weiteren Bürden auf den Schultern der Betroffenen ist kein Staat zu machen oder zumindest keine Regierungspolitik, die sich mit Blick auf die anstehenden Wahlen in diesem und dem kommenden Jahr ihrer Sessel halbwegs sicher sein könnte. So war in den vergangenen Wochen wieder einmal die Frage des Renteneintrittsalters hochgekocht und kontrovers gewälzt worden. Finanz-Staatssekretär Jens Spahn (CDU) forderte eine weitere Anhebung des Renteneintrittsalters, worauf es Kritik auch aus den eigenen Reihen setzte. Der stellvertretende Bundesvorsitzende des CDU-Sozialflügels CDA, Christian Bäumler, warf Spahn "Realitätsverweigerung" angesichts eines durchschnittlichen Renteneinstiegsalters von 64 Jahren vor. Zuvor hatte sich die Bundesbank für eine Rente mit 69 ab dem Jahr 2060 stark gemacht. Sigmar Gabriel nannte dies eine "bekloppte Idee", und die Bundesregierung verteidigte ausdrücklich die Rente mit 67. Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) will im Herbst ein neues Rentenkonzept vorlegen, da der heraufziehenden Bundestagswahlkampf, den das Thema Renten in erheblichem Maße bestimmen dürfte, seinen Schatten vorauswirft.

Hingegen will der Sozialverband das Übel nicht ausreichender Rentenansprüche insofern bei der Wurzel packen, als er sie zur Erwerbsphase rückkoppelt. Altersarmut beginne nicht erst mit dem Renteneintritt, sie nehme in jungen Jahren ihren Lauf, sagte SoVD-Präsident Adolf Bauer. Deshalb setze der Sozialverband schon während der Erwerbstätigkeit an. Die Ausweitung des Niedriglohnsektors mit Leiharbeit, befristeten Verträgen und Minijobs trage maßgeblich zu den geringen Rentenansprüchen bei. [2] Um Armut im Alter vorzubeugen, müsse der Mindestlohn auf 11,60 Euro angehoben werden. Nur so sei nach 45 Arbeitsjahren eine angemessene Rente zumindest in Höhe der Grundsicherung von derzeit 773 Euro monatlich zu erreichen. Die im nächsten Jahr geplante Anhebung von derzeit 8,50 auf 8,84 Euro reiche nicht aus. Zudem empfiehlt der Verband eine Einschränkung prekärer Beschäftigungen, um so Beitragszahlungen zur gesetzlichen Rentenversicherung in der Erwerbsphase auszubauen. Etwa 25 Prozent der Arbeitnehmer seien geringfügig beschäftigt, ähnlich hoch dürfte der Anteil der von Armut betroffenen älteren Menschen sein. Es seien nach wie vor Frauen, die solche Beschäftigungen hätten, weil vor allem sie sich um Kindererziehung und pflegebedürftige Angehörige kümmerten.

Die Vorschläge des SoVD gehen über bloße Kurskorrekturen weit hinaus, beinhalten sie doch die vollständige Abkehr von den Rentenreformen der vergangenen 20 Jahre. Das Rentenniveau (Verhältnis von Durchschnittsrente zu Durchschnittslohn) müsse von derzeit 47,7 auf 50 Prozent erhöht werden. Von Erhöhungen des Renteneintrittsalters müsse Abstand genommen werden. Der Nachhaltigkeitsfaktor, der den Anstieg der Renten abbremst, solle abgeschafft werden, und zum Ausgleich der Rentenniveauverluste aus den vergangenen Jahren müßten die Renten mehrere Jahre lang außerplanmäßig stärker steigen.

Des weiteren solle der Staat für Hartz-IV-Empfänger 50 Prozent des Durchschnittsbeitrags an die Rentenkasse abführen, die Mütterrente sei abermals um sieben Milliarden Euro aufzustocken, für bereits zurückliegende Zeiten der Langzeitarbeitslosigkeit und Niedriglohnbeschäftigung müßten nachträglich Mindestentgeltpunkte angerechnet werden. Zudem müsse die viel zu niedrige Erwerbsminderungsrente für Menschen mit gesundheitsbedingter Berufsunfähigkeit deutlich angehoben werden, und nicht zuletzt sollten durch Arbeit erworbene Rentenansprüche wie auch Leistungen aus der Riester-Rente nicht länger vollständig mit der Grundsicherung verrechnet, sondern teilweise zusätzlich ausgezahlt werden. [3]

Wie soll dieses Gesamtpaket mit einem Volumen von mindestens 35 Milliarden Euro pro Jahr finanziert werden? Den obligatorischen Einwand, diese Wunschliste gehe auf Kosten der jüngeren Generationen, die all die Wohltaten bezahlten müßten, bezeichnete Bauer als Angstmacherei "interessierter Kreise", namentlich des Arbeitgeberlagers, der Versicherungswirtschaft und politische Akteure, die mit der Rente "ihr Süppchen kochen". Zum einen glichen steigende Produktivität und höhere Frauenerwerbstätigkeit die demographischen Verschiebungen aus. Zum anderen könnten Erhöhungen des Einkommenssteuerspitzensatzes und der Kapitalertragssteuer sowie die Wiederbelebung der Vermögenssteuer die erforderlichen Mittel bereitstellen.

Um der Altersarmut zu begegnen, schlägt der Sozialverband Deutschland also ein Milliardenprogramm vor. Höhere Einkünfte der Erwerbstätigen sollen zu steigenden Rentenbeiträgen führen, die durch einen erheblich umfangreicheren Bundeszuschuß ergänzt werden müssen. Die dafür erforderlichen Steuergelder soll der Staat bei den Reichen eintreiben. Im Unterschied zu den Baustellen der zurückliegenden Rentenreformen, die die Lage der Betroffenen nur noch verschärft haben, legt der Verband ein Konzept vor, das Hand und Fuß hat. Diese Vorschläge seien "ein Signal an die Bundesregierung, daß es möglich ist, Altersarmut zu verhindern und die gesetzliche Rentenversicherung zukunftsfest zu gestalten". Um diesen Entwurf durchzusetzen, müßte allerdings die unablässige Umverteilung von unten nach oben ausnahmsweise einmal umgekehrt werden. Oder wie es Bauer formuliert: "Es geht um eine Frage der sozialen Gerechtigkeit!"


Fußnoten:

[1] http://www.finanzen.net/nachricht/aktien/Sozialverband-fordert-Steuergeld-zur-Sicherung-der-Rente-5046927

[2] https://www.jungewelt.de/2016/08-24/020.php

[3] http://www.mz-web.de/wirtschaft/25-prozent-betroffen-rasante-zunahme-der-altersarmut-ab-2020-erwartet-24634716

24. August 2016


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