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WELTORDNUNG/597: Das "Bali-Paket" - WTO gerettet, Patient tot (SB)


Freihandel - eine moderne Variante der Freibeuterei



Rund 160 Staaten der Welthandelsorganisation (WTO - World Trade Organization) haben ein gemeinsames Papier verabschiedet, das unmittelbar gegen die Ernährungssouveränität der Staaten gerichtet ist. Mit Ausnahme Indiens wird es den Unterzeichnerstaaten künftig verboten, ein vorgegebenes Limit der Nahrungssicherung mit Hilfe eines ureigenen staatlichen Mittels, der Subventionierung, zu überschreiten. Ausgerechnet wenn die Not vieler Menschen besonders groß ist, werden den Staaten die Hände gebunden und ihre Möglichkeiten, zu Gunsten der Mittellosen zu intervenieren, eingeschränkt. Das bedeutet, daß die von Nahrungsmangel Betroffenen Armut, Mangelernährung, Krankheiten und in letzter Konsequenz dem Hungertod überantwortet werden könnten.

Daß ein solches Abkommen als Erfolg für den Welthandel und Rettung der WTO, die angesichts der vielen bilateralen Verträge, die in den letzten Jahren abgeschlossen wurden, an Bedeutung verlor, abgefeiert wird, spricht Bände und sagt einiges über die Aufgabe dieser Organisation aus. Sie soll nicht primär den Mangel - in diesem Fall an Nahrungsmitteln - beheben, sondern den Handel beleben, was ein gewaltiger Unterschied ist.

Am Freitag, den 6. Dezember 2013, verabschiedete die 9. Ministerkonferenz der WTO das sogenannte Bali-Paket, ein multilaterales Freihandelsabkommen, dem die Delegationen aus 159 Mitgliedstaaten zustimmten. Die umstrittensten Beschlüsse betreffen die Vereinfachung von Zollrichtlinien und die Veränderung der Richtlinien für Agrarsubventionen. Auf beiden Gebieten werden tiefe Eingriffe in die Wirtschaftspolitiken der Unterzeichnerstaaten vorgenommen und unter anderem die Kleinbauern enger als bisher den Spielregeln des Weltmarktes unterworfen.

Wenn WTO-Chef Roberto Azevêdo zum Abschluß der Konferenz in Aussicht stellt, daß das Abkommen "für den Welthandel eine Kostenersparnis in Höhe von mehreren hundert Milliarden US-Dollar jährlich" bedeutet [1], dann spart er sich die Frage, wer von dem Welthandel profitiert und wer deshalb nicht. Nur im Idealfall spart ein Staat, der seine Zollschranken aufhebt, exakt die gleiche Summe an Ausgaben, die er an Einnahmen verliert. In der Praxis dagegen dürften einige Staaten durch das Bali-Paket massive Verluste verzeichnen, andere dagegen Vorteile zugesprochen bekommen.

Das globalisierungskritische Netzwerk Attac hat die Profiteure verortet und übt scharfe Kritik an den WTO-Beschlüssen. "Trotz vieler Kompromissformeln nützt das Bali-Paket vor allem den Exportinteressen der Staaten des Nordens, besonders bei der Vereinfachung des Zollwesens", so Attac-Sprecher Alexis Passadakis. Nur diese Bestimmungen seien rechtsverbindlich und könnten eingeklagt werden. Die Länder des Südens hingegen würden mit vagen Absichtserklärungen abgespeist. [2]

Dieser Eindruck wird durch die Aussagen von Francisco Mari von der Organisation Brot für die Welt, der die Verhandlungen vor Ort verfolgt hat, bestätigt. Am Tag nach seiner Rückkehr in Deutschland sagte er gegenüber dem Schattenblick [3], daß die sogenannten Handelserleichterungen darauf abzielten, "die Zollabfertigung vor allem in den Entwicklungsländern zu beschleunigen". Das beträfe in erster Linie den Importbereich, so daß beispielsweise Container nicht zu lange im Hafen bleiben, die Korruption zurückgefahren wird und Schiffsladungen zügiger gelöscht werden.

Das Bali-Paket enthält allerdings nicht nur Regelungen für den freien Zugang im Westen produzierter Waren zu den Märkten von Schwellenländern, sondern auch von Dienstleistungen. Die Konsequenzen dessen sind noch gar nicht richtig ausgelotet, dürften aber darauf hinauslaufen, daß vormals staatliche Funktionen von privater Hand übernommen werden. So wird einem Neokolonialismus Tür und Tor geöffnet, der die Abhängigkeit der ärmeren Länder von den Wirtschaftsmächten und den dort angesiedelten Global Playern stärker befestigt als je zuvor.

Vielleicht noch schwerer als die von der WTO beschlossenen Zollabmachungen wiegt das Verhandlungsergebnis auf dem Gebiet der Agrarsubventionen. So hat sich der G33 bezeichnete Zusammenschluß von Entwicklungs- und Schwellenländern spalten lassen. Zu dieser Gruppe hatten sich im März 2006 33 Staaten zusammengeschlossen, um bei den WTO-Verhandlungen der sogenannten Doha-Runde eine gemeinsame Position einzunehmen und dadurch die eigenen Interessen, insbesondere hinsichtlich der Agrarsubventionen, besser durchsetzen zu können. Die Industriestaaten dagegen waren in Bali mit dem offensichtlichen Ziel angetreten, den eigenen Agrarsektor zu schützen, aber die Märkte des Südens für eigene landwirtschaftliche Erzeugnisse - produziert von kapitalstarken, hochsubventionierten Betrieben - weit zu öffnen. Dieser Versuch ist im wesentlichen gelungen. Wie es dazu kam, schilderte Francisco Mari so:

"Indien hatte seine Zustimmung zu irgendeinem Beschluß in Richtung Bali-Paket davon abhängig gemacht, daß es eine Ausnahmeregelung erhält, damit es nicht von den WTO-Mitgliedsländern verklagt werden kann. Da gab es verschiedene Kompromisse, vor allem die sogenannte Friedensklausel, die besagt, daß während der nächsten vier Jahre kein WTO-Mitglied Indien verklagen dürfe."

Noch eine Woche vor Beginn der Bali-Konferenz hatte die Regierung in Neu Delhi diesem Kompromiß zugestimmt. Doch das führte laut Mari dazu, "daß die Zivilgesellschaft, aber auch die Oppositionspartei BJP und die Medien mit einem auf neudeutsch 'shit storm' die indische Regierung unter Druck setzten, so daß der indische Handelsminister noch während des Abflugs am Flughafen die Zusage wieder zurückzog." Indien wolle eine unbefristete Ausnahmeregelung, hieß es fortan. Die Delegationen der USA, EU und auch der Bundesrepublik Deutschland bauten prompt ein "Empörungsszenario" auf, so Mari.

Die Schuldzuweisung ist eindeutig. In der hiesigen
Presseberichterstattung liest sich das so:

"Wie ein kampfbereiter Tiger wirkte Indiens Handelsminister Anand Sharma, als er erklärte: 'Für Indien ist Nahrungsmittelsicherheit nicht verhandelbar.'" (Handelsblatt, [4])

"Abkommen scheiterte bis zuletzt am Widerstand Indiens" (N24 [5])

"Anders als noch 2005 in Hongkong habe Indien mit seiner ablehnenden Haltung dieses Mal isoliert dagestanden, sagte Caspary, der als Teil der europäischen Delegation an den Verhandlungen in Bali beteiligt war." (topagrar [6])

Die einfache physikalische Regel, daß Widerstand nicht ohne Gegenkraft existieren kann, wird in der Mainstream-Berichterstattung über die Konferenz nicht berücksichtigt. Doch bevor Indien erklärte, es lasse sich seine Ernährungssouveränität nicht nehmen, wurde von den Industriestaaten die Absicht formuliert, genau dies tun zu wollen. Sie nennen es Freihandel, und der liegt ziemlich dicht an Freibeuterei, wobei die WTO-Bestimmungen - Öffnung der Märkte und Dienstleistungssektoren in den Entwicklungsländern - eine Art Kaperbrief darstellen. Auf einem Markt, der vom Kapital beherrscht wird, sind die Kleinbauern und örtlichen Händler, ihres staatlichen Schutzes entledigt, wehrlos dem Zugriff der kapitalstarken transnationalen Konzerne ausgeliefert.

Aus der Vergangenheit ist bekannt: Wer Kaperbriefe ausstellt, hält sich nicht an die eigenen Regeln. Das gilt auch heute noch: Die USA und EU, die durchgesetzt haben, daß andere Staaten (mit Ausnahme Indiens) ihren Agrarsektor nicht beliebig subventionieren dürfen, subventionieren ihre eigene Landwirtschaft hoch wie niemand anderes.

Der sogenannte Widerstand Indiens kam also nur zustande, weil Staaten wie die USA oder Bündnisse wie die EU doppelte Standards anwenden und von Indien forderten, sich auf die Befristung der Ausnahmeregelung auf vier Jahre einzulassen. Das hätte bedeutet, daß nach Ablauf der Zeit die Regierung in Neu Delhi ihr umfangreiches Subventionierungsprogramm, durch das für rund 820 Millionen Kleinbauern Ernährungssicherheit hergestellt werden soll, wieder erheblich hätte zurückfahren müssen. Mari bezeichnete die Forderungen an Indien, in dessen Verfassung seit vielen Jahren das Recht auf Nahrung verankert ist und das nun endlich umgesetzt werden soll, als "zynisch". Zudem schilderte er, mit welchem Buchungstrick die EU die afrikanischen Staaten hinter sich gebracht hat. Brüssel sagte zu, sie mit 400 Millionen Euro aus dem sogenannten Aid-for-trade-Fonds bei der Umsetzung der WTO-Zollbestimmungen zu unterstützen.

Das hört sich nach einer hohen Summe an, doch sollte man bedenken, daß davon zwei Milliarden Menschen profitieren sollen. Das macht pro Kopf nur 0,20 Euro. Wohl kaum einer der EU-Delegierten, die in Bali Empörung ob Indiens Standpunkt vortäuschten, würde sich nach einer 20-Cent-Münze auf seinem Gehweg bücken - hier aber soll das Geld eine besonders generöse Geste an die ärmeren Länder sein.

Des weiteren berichtete Mari, der Teil der deutschen Regierungsdelegation war, daß dieses Geld immer wieder ins Spiel gebracht wird, beispielsweise bei den EPAs (Wirtschaftspartnerschaftsabkommen): "Es ist kein neues Geld, wie wir der Staatssekretärin erklären mußten, nachdem uns das BMZ [7] dies bestätigt hatte."

Demnach verfügt die EU über einen Posten im Budget, den sie variabel mal hierfür, mal dafür einsetzt, vermutlich immer im Bestreben, dieses nützliche Mittel niemals aufzubrauchen.

Die Ausnahmeregelung Indiens ist zugleich das Verschlußstück für alle anderen Staaten. Entwicklungspolitisch und von der Ernährungssicherheit her "fast schon unverschämt", so Mari. Alle Länder dürfen zwar weiterhin Nahrungsreserven anlegen, aber sie dürfen nicht mehr wie bisher die Kleinbauern mit einem Festpreis unterstützen. Und selbst Indien hat die Ausnahmeregelung nur hinsichtlich einer einfachen Reissorte, Hirse und Weizen erhalten, nicht aber beispielsweise für Milch, Obst und Linsen, obwohl insbesondere letztere von Brot für die Welt als wichtiger Eiweißbestandteil für eine gute Ernährung angesehen wird.

Wenn einer der Unterzeichnerstaaten des Bali-Pakets gegen die Bestimmungen verstößt, kann er von anderen Mitgliedern wegen verbotener Subventionen verklagt werden und muß damit rechnen, daß ihm Strafzölle aufgelastet werden. Die Kleinbauern hingegen, über deren Köpfe hinweg sie existentiell betreffende Entscheidungen getroffen werden, haben keine gleichwertigen Druckmittel zur Verfügung. Sie können sich allerdings organisieren und versuchen, den Staat unter Druck zu setzen. Dennoch, von "Waffengleichheit" kann im liberalisierten Welthandel nicht die Rede sein.


Fußnoten:

[1] http://info.brot-fuer-die-welt.de/blog/wto-konferenz-mit-kompromiss-zum-bali-paket

[2] http://schattenblick.com/infopool/buerger/initia/atta1509.html

[3] Francisco Mari, Brot für die Welt, im Gespräch mit dem Schattenblick im Anschluß an die Veranstaltung "Die Zukunft der Meere" von Fair Oceans am 7.12.2013 in Bremen.

[4] http://www.handelsblatt.com/politik/international/erfolg-auf-der-insel-der-goetter-bali-paket-fuer-freien-handel-seite-all/9183284-all.html

[5] http://www.n24.de/n24/Nachrichten/Wirtschaft/d/3947586/wto-erzielt-kompromiss.html

[6] http://www.topagrar.com/news/Home-top-News-WTO-Gipfeltreffen-schnuert-Bali-Paket-1305721.html

[7] BMZ - Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung.

10. Dezember 2013