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BERICHT/092: Kongreß Kurdischer Aufbruch - oder die Stärke der Entrechteten (SB)



Hamburger Kongreß zum Thema
"Die kapitalistische Moderne herausfordern - Alternative Konzepte und der kurdische Aufbruch"

Das Podium mit dem Kongreßthema auf kurdisch, englisch und türkisch - Foto: © 2012 by Schattenblick

Praktischer Internationalismus - Das Kongreßthema auf kurdisch, englisch und türkisch
Foto: © 2012 by Schattenblick

Was ist wichtiger, der Kampf um die Verwirklichung bislang unerreicht gebliebener Gesellschaftsutopien, wie sie unter Begriffen wie Sozialismus oder Kommunismus ihren unverrückbaren Platz in der menschlichen Ideengeschichte eingenommen haben, oder die Befreiung unterdrückter Völker, denen - aus welchen Gründen auch immer - vorenthalten wird, was für andere Ethnien, Staaten und Staatengruppen eine längst für selbstverständlich angenommene Realität darstellt? Die Zeiten, in denen diese Ziele politischer Widerständigkeit von ihren Protagonisten alternativ oder gar kontrovers in Angriff genommen wurden, scheinen der Vergangenheit anzugehören. Weder die sattsam bekannten (staats-)sozialistischen noch die nur allzu schnell und bar jeder realen Grundlage als "nationalistisch" in eine rechte Ecke manövrierten "Volks"-Befreiungskonzepte scheinen der weltweit anwachsenden Schar interessierter Streiterinnen und Streiter heute noch als praktikabel, und so birgt die Suche nach Alternativen auf bislang unbeantwortet gebliebene oder noch nicht einmal gestellte Fragen und Anliegen heute mehr denn je das Potential einer Infragestellung und damit auch Inangriffnahme buchstäblich herrschender Verhältnisse in sich.

Mit Kurdinnen und Kurden hat all dies weitaus mehr zu tun, als viele Menschen, die sich bislang mit der kurdischen Frage nicht oder nur beiläufig befaßt haben, wohl ahnen würden. Das kurdische Volk, das in seiner Geschichte noch niemals in einem eigenen Staat leben konnte, befindet sich in einer Lage, die, würde sie tatsächlich einmal die aus genereller Ignoranz, gezielter Desinformation und systematischem Verleugnen errichtete Mauer durchbrechen können, skeptische Reaktionen oder gar blanken Unglauben hervorrufen würde. Dabei sind die der sogenannten Kurdenfrage zugrundeliegenden Sachverhalte erschreckend einfach, so einfach, daß sich Uneingeweihte an den Kopf fassen mögen im Erstaunen oder gar Entsetzen darüber, wie so etwas in der heutigen Zeit und wenn nicht inmitten, so doch am Rande Europas überhaupt noch möglich sein könne. Wie kann es angehen, daß ein - nicht einmal kleines - Volk die eigene Sprache, die eigene Kultur nicht leben darf?

Der Widerspruch, der sich zwischen der Realität des kurdischen Lebens und der so massiv verleugneten Existenz des kurdischen Volkes, dem es bis auf den heutigen Tag verwehrt geblieben ist, sich im Rahmen internationaler Organisationen wie etwa der Vereinten Nationen in irgendeiner Form zu repräsentieren, und dem Wertekanon, den die führende Staatenelite vorhält, ist so massiv und eklatant, daß eine Inangriffnahme des Problems zu dem Zweck, auf dem Verhandlungswege zwischen allen Beteiligten und möglicherweise unter Moderation Dritter eine politische Lösung in die Wege zu leiten, dadurch noch erschwert wird. Die völkerrechtlich verbindlichen Erklärungen und Vereinbarungen, mit denen für jeden Menschen und jede Ethnie angeblich universell geltende Schutz- und Selbstbestimmungsrechte festgelegt wurden, sind so vielfältig, daß der Verdacht, mit all den hehren Worten solle nur die offenkundige Verletzung dessen, was sie zu schützen vorgeben, kaschiert werden, schwer von der Hand zu weisen ist.

Für die Kurdinnen und Kurden, aber auch andere Völker innerhalb und außerhalb Europas wie dem baskischen in Spanien und Frankreich oder dem der von Marokko besetzten Westsahara, können dies keine offenen Fragen sein, ist ihre Geschichte und Gegenwart doch tagtäglich erlebter und überlieferter Beweis genug für das Gegenteil. Frei von staatlicher Willkür, Bevormundung und Drangsalierung die eigene Sprache zu sprechen und die eigene Kultur zu pflegen, ist alles andere als selbstverständlich, auch wenn die Mehrheit der Menschen und Bevölkerungen in Europa sowie den übrigen Kontinenten dies zu glauben gewohnt ist. Ein einziges Volk, dem dies in nicht zu beschönigender Weise versagt bleibt, ist somit geeignet, der schönen neuen Weltordnung von Freiheit, Frieden und Solidarität kraft seiner bloßen und verleugneten Existenz den Spiegel vorzuhalten, den sie verdient.

Die Vehemenz, mit der der türkische Staat, aber auch die übrigen Nationalstaaten, die das vom kurdischen Volk schon im historischen Mesopotamien besiedelte Gebiet unter sich aufgeteilt haben, die Artikulationsbemühungen des kurdischen Volkes mit direkter wie institutionalisierter Gewalt ersticken, deutet auf eine mehr oder minder stille Teilhaberschaft auch der führenden westlichen Staaten hin, die, sollte es ihren Interessen zweckdienlich sein, sehr wohl auf der Klaviatur des Schutzes der Menschenrechte sowie des postulierten Selbstbestimmungsrechtes der Völker zu spielen wissen. Allein, die Kurdinnen und Kurden kommen in diesem Kontext einfach nicht vor. Dies zu perforieren und zu durchbrechen, stellte ein zentrales Anliegen eines Kongresses dar, der vom 3. bis 5. Februar 2012 unter dem Titel "Die kapitalistische Moderne herausfordern - Alternative Konzepte und der kurdische Aufbruch" im Pädagogischen Institut der Universität Hamburg von einem alternativen Netzwerk, dem "Network for an Alternative Quest" [1], veranstaltet wurde.

Kämpferische Worte - Norman Paech bei seiner Eröffnungsrede - Foto: © 2012 by Schattenblick

Engagierte Eröffnung - Norman Paech bricht eine Lanze für
das kurdische Volk
Foto: © 2012 by Schattenblick
Der emeritierte Professor für Öffentliches Recht, frühere Bundestagsabgeordnete und außenpolitische Sprecher der Linksfraktion Norman Paech richtete im Namen des Organisationskomitees in seiner Begrüßungsrede klare und deutliche Worte an die rund 500 Anwesenden, die mit großem Interesse und Engagement den gesamten Kongreß verfolgen und mitgestalten sollten. Als thematische Schwerpunkte des Kongresses benannte er die kapitalistische Krise, die ebensowenig wie die Suche nach alternativen Modellen eine neue Aufgabenstellung darstelle. Von höchster Aktualität sei jedoch, so machte Paech seinen Zuhörerinnen und Zuhörern mit eindringlichen Worten klar, die immer bedrohlicher werdende Situation der Kurdinnen und Kurden in der Türkei, aber nicht nur dort. Die allgemeine politische und ökonomische Krise habe sich für die kurdische Bevölkerung enorm zugespitzt bis hin zu einer existentiellen Gefahr.

"Sie haben" - so sprach Paech die Kurdinnen und Kurden im Saal direkt an - "den Krieg im eigenen Land". Der kurdischen Bevölkerung werden grundlegende bürgerliche und politische Rechte vorenthalten, ihr "politisches Gewissen" Abdullah Öcalan werde unter erbärmlichsten Bedingungen gefangengehalten und wer gegen die Repression aufzubegehren wage, stehe mit einem Bein bereits im Gefängnis. Der Aufbruch, der dringend zu bewerkstelligen sei, stelle keineswegs nur eine Aufgabe für die Kurdinnen und Kurden dar, sondern müsse von der gesamten türkischen Gesellschaft geleistet werden. Die kurdische Bewegung habe mit allen Mitteln, mit Verhandlungen, aber auch mit den Methoden der Guerilla, versucht, ihre Forderung nach einer Selbstbestimmung in den Grenzen des türkischen Staates durchzusetzen.

Es habe Hoffnung gegeben, so Paech, doch inzwischen habe die politische Klasse in der Türkei sich wieder in entgegengesetzter Richtung radikalisiert. Daher sei es eine dringende Aufgabe auch dieses Kongresses, über Schritte nachzudenken und zu diskutieren, wie die Überwindung dieses Elends, dieser Unterdrückung und dieses Krieges eingeleitet werden könne. Dabei gehe es darum, auf friedliche Weise auf einen politischen Dialog hinzuwirken. Zum Abschluß seiner Eröffnungsrede verlieh Norman Paech unter dem Beifall der Anwesenden seiner festen Überzeugung Ausdruck, daß wir den Tag noch erleben werden, an dem auch die Kurdinnen und Kurden in Gleichheit, Würde und Freiheit und ohne Angst leben können. Das Beispiel des kurdischen Aufbruchs - auch dies gehörte zur Programmatik des Kongresses und dem Anliegen seiner Organisatorinnen und Organisatoren, der Referentinnen und Referenten - sei darüber hinaus in einen inhaltlichen Zusammenhang mit den weltweiten Ansätzen zu stellen, auf der Basis der Negation der kapitalistischen Moderne alternative Modelle und Konzepte zu entwickeln mit dem Ziel, eine bislang nichtexistente Position zu erstreiten, in der Sexismus und Klassenherrschaft ebenso wie die Unterdrückung welcher Völker auch immer überwunden werden.

(Fortsetzung folgt)

Anmerkungen:

[1] Bei den veranstaltenden kurdischen Organisationen des "Network for an Alternative Quest" handelt es sich um:
KURD-AKAD - Netzwerk kurdischer AkademikerInnen, YXK - Verband der Studierenden aus Kurdistan,
Kurdistan Report, Informationsstelle Kurdistan e.V., Cenî - Kurdisches Frauenbüro für Frieden e.V.,
Internationale Initiative "Freiheit für Abdullah Öcalan - Frieden in Kurdistan"

Außenansicht des Pädagogischen Instituts der Universität Hamburg - Foto: © 2012 by Schattenblick

Aufbruch in Eiseskälte - das Pädagogische Institut der Universität Hamburg
Foto: © 2012 by Schattenblick

7. Februar 2012