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BERICHT/095: Kongreß Kurdischer Aufbruch und indischer Freiheitskampf (SB)


Plünderungswerkzeuge des Kapitalismus: Industrialismus und Nationalstaat

Vortrag des indischen Politikwissenschaftlers Achin Vanaik, 04.02.2012


Achin Vanaik, emeritierter Professor für internationale Beziehungen und Geopolitik an der Universität von Delhi, gilt als einer der glaubwürdigsten und aktivsten Gegner der Atompolitik seines Heimatlandes Indien. Seine kenntnisreichen Artikel erscheinen seit Jahren in zahlreichen indischen Zeitungen und Zeitschriften. 2000 erhielt der Gründer der indischen Coalition for Nuclear Disarmament and Peace (CNDP) zusammen mit dem Politikanalytiker Praful Bidwai den Seán McBride International Peace Prize. Anlaß zur Auszeichnung war das von Vanaik und Bidwai verfaßte Buch "New Nukes: India, Pakistan and Global Nuclear Disarmament", das gleich beim Erscheinen im Jahr 2000 von Experten als unerläßliches Standardwerk zum Thema der nuklearen Rivalität auf dem Subkontinent anerkannt worden war.

Am 4. Februar fing der zweite Tag der Konferenz "Die kapitalistische Moderne herausfordern - Alternative Konzepte und der kurdische Aufbruch" an der Hamburger Universität mit der Session "Kapitalismus als Zivilisationskrise" an. Bei diesem Anlaß hielt Vanaik, der für die Konferenz extra aus Indien ins eiskalte Norddeutschland gekommen war, unter dem Titel "Plünderungswerkzeuge des Kapitalismus: Industrialismus und Nationalstaat" einen Vortrag zum Thema Geopolitik, der ob seiner Brillanz alle im Hörsaal, Podiumsteilnehmer und Publikum gleichermaßen, schwer beeindruckte. Des Inhalts willen möchte der Schattenblick an dieser Stelle in eigener Übersetzung Vanaiks aufschlußreiche Ausführungen wiedergeben.

Professor Vanaik am Rednerpult - Foto: © 2012 by Schattenblick

Achin Vanaik trägt vor
Foto: © 2012 by Schattenblick

Vanaik bedankte sich zunächst bei den Organisatoren der Konferenz für die Einladung. Erst durch die Teilnahme an der Veranstaltung wäre ihm die Bedeutung des Kampfes der Kurden um Selbstbestimmung richtig klar geworden. Er gab zu Beginn seines Vortrages an, vor allem das Verhältnis zwischen kapitalistischer Globalisierung und dem System der Nationalstaaten mit deren Gewaltmonopol innerhalb der eigenen Grenzen erläutern zu wollen.

Um eine Idee zu bekommen, was für die Menschen von der Politik kurz- bis mittelfristig zu erwarten ist, sei es erforderlich, die aktuelle Situation und ihre Ursachen zu verstehen, erklärte Vanaik. Die Moderne sei "das Ergebnis eines Prozesses der kapitalistischen Industrialisierung, die vor rund 200 Jahren begonnen" habe. Dieser Prozeß sei auf der Basis eines bereits vorhandenen Mehrstaatensystems entstanden, aus dem sich die heutigen Nationalstaaten entwickelt hätten. Der Prozeß sei von einer Doppeldynamik der rein wirtschaftlichen und politischen Interessen gekennzeichnet gewesen, die jedoch dieselbe Wurzel hätten. Nichtsdestotrotz habe sich der geopolitische Aspekt (a) zu einem nicht geringen Teil autonom entfaltet und (b) sei dabei von den größeren und mächtigeren Staaten der jeweiligen Ära überproportional beeinflußt worden.

So seltsam es auch klingen mag, weise die kapitalistische Entwicklung und Industrialisierung laut Vanaik stets uneinheitliche und einheitliche Züge auf. Die Uneinheitlichkeit drücke sich in der zwangsläufig ungerechten Verteilung von Ressourcen und Macht unter den gesellschaftlichen Gruppen und den verschiedenen Staaten aus. Eher verstärkten sich diese Unterschiede, als daß es zu einer Vereinheitlichung oder Konvergenz komme. Daran ließe sich der uneinheitliche Charakter des kapitalistischen Akkumulationsprozesses erkennen. Es werde immer lokale oder regionale Cluster bezüglich Investitionen, Märkte, ausgebildeter Arbeitskräfte et cetera geben. Und wenn sich die regionalen Cluster geographisch verschieben, wiederhole sich an den neuen Standorten stets dieselbe uneinheitliche Entwicklung. Wegen dieser Uneinheitlichkeit fanden die verschiedenen Kapitalinteressen an der Bildung vieler Nationalstaaten Gefallen.

Die Einheitlichkeit des kapitalistischen Globalisierungsprozesses lasse sich daran erkennen, daß es an jedem Ort eine Kombination des Alten und Neuen auf den unterschiedlichen Ebenen gibt - auf der ideologischen, kulturellen und sozialen Ebene - in bezug auf die Zusammensetzung der verschiedenen Klassen sowie auf der politischen Ebene, was die Institutionen der öffentlichen Autorität betrifft.

Der zweiseitige Charakter des Prozesses der modernen Kapitalakkumulation schlage sich in der Weise nieder, daß verschiedene Staaten unterschiedliche Konglomerate sozialer Klassen vertreten. In der Ära der kapitalistischen Moderne, von der hier die Rede ist, teilten sich die Nationalstaaten diverse Merkmale. Gemeinsam seien ihnen der Kapitalismus, die Demokratie, der Autoritärismus und der Nationalismus - jeweils in unterschiedlicher Gewichtung. Um die verschiedenen Länder oder Gesellschaften zu verstehen, müsse man ihre Partikularismen und ihre Singularität beachten. Dabei werde man zwar auf jede Menge negativer Eigenschaften, aber auch auf positive, stoßen. Neben den Staaten, die seit rund 5000 Jahren existieren, gebe es auch kommunale Gesellschaftsformen, die wesentlich länger existieren und von denen man einiges für das heutige Leben lernen könnte.

So wie der kapitalistische Akkumulationsprozeß sowohl einheitlich als auch mit Unterschieden voranschreite, erzeuge er stets sowohl zahlreiche Spannungen und Rivalitäten als auch - glücklicherweise - Widerstand. Als Prisma, durch das man die heutige Weltlage betrachten könnte, präsentierte Vanaik ein vierstufiges Modell der kapitalistischen Industrialisierung. Die erste Phase falle mit dem Aufstieg und Fall Großbritanniens als globaler Hegemon zusammen und reiche vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges 1914. Die zweite Phase sei durch den Streit der USA und Deutschlands um die Nachfolge Großbritanniens in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts geprägt und schließe die beiden Weltkriege mit ein. Die dritte Phase bildet ab 1945 der Kalte Krieg zwischen dem kapitalistischen und kommunistischen Block, angeführt jeweils von den Supermächten USA und Sowjetunion. Der Fall der Berliner Mauer 1989 und die darauf erfolgten Zusammenbrüche des Warschauer Paktes und der Sowjetunion - und damit das Ende der Konfrontation der Systeme - habe die vierte Phase eingeleitet, die durch die kapitalistische Transformation der Länder des einstigen kommunistischen Blocks, allen voran China, und eine weltweite Beschleunigung des Akkumulationsprozesses gekennzeichnet sei. Heute, und zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte, beherrsche der Kapitalismus den ganzen Globus.

Die Uneinheitlichkeit der kapitalistischen Globalisierung bringe für viele Menschen enormes Leid mit sich. Gleichzeitig beschere sie einer kleinen Minderheit Reichtum und Macht. Vanaik stellte die These auf, daß in absoluten Zahlen sowie im Verhältnis zur restlichen Bevölkerung die plutokratische Elite in allen Ländern an Wohlstand und politischen Einfluß gewonnen hätte. Daraus ergebe sich für sie das starke Interesse, das bestehende System unbedingt am Leben zu erhalten - und zwar in allen Ländern.

Vanaik dreht sich seitlich dem Podium zu - Foto: © 2012 by Schattenblick

Ein kurzer Blick zu den Podiumskollegen
Foto: © 2012 by Schattenblick
Die Dynamik des Kapitalismus wie zugleich seine Schwäche stammten aus der gleichen Quelle - nämlich aus dem Prinzip des Wettbewerbs. Und dieser Wettbewerb zwischen den unterschiedlichen Kapitalinteressen schlage sich stets als Rivalität zwischen den Nationalstaaten nieder. Der Streit zwischen den Staaten sei viel gefährlicher und destabilisierender als der Kampf unter den Kapitalinteressen. Daher müsse im Kapitalismus auf ein weiteres, ihm jedoch nicht innewohnendes Prinzip, nämlich dasjenige der Koordinierung und Stabilisierung, zurückgegriffen werden. Dieses äußere Prinzip steuere das System der Nationalstaaten. Auf der nationalen Ebene sei es der Staat, der sowohl die gesetzliche, gerichtliche, fiskalische und infrastruktuelle Basis für die Kapitalakkumulation als auch die regulativen und stabilisierenden Mechanismen für das Funktionieren des Marktes zur Verfügung stelle. Vor allem aber biete der Staat die legitime politische Autorität auf. Dies sei besonders bei den liberalen Demokratien der Fall. Doch selbst bei den Nicht-Demokratien sorge der Nationalstaat für eine Art von Legitimität, die sich von derjenigen früherer Staatsformen unterscheidet. Auf der internationalen Ebene sei es natürlich das System der Nationalstaaten, das die nötige Regulierung und Koordinierung zu gewährleisten versucht. Innerhalb des Systems der Nationalstaaten sei es die Untergruppe der mächtigsten Staaten, welche die führende Rolle spiele. Doch selbst unter diesen Staaten müsse es auch Mechanismen der Koordinierung und der Stabilisierung geben. Das Versagen solcher Mechanismen habe die Menschheit im 20. Jahrhundert in zwei Weltkriege geführt.

Nach diesem Umriß wandte sich Vanaik der Frage der künftigen Zusammensetzung der Gruppe der mächtigsten Staaten zu. Er wies darauf hin, daß es im Zusammenhang mit der Globalisierung innerhalb der internationalen Linken zwei Denkrichtungen gebe, was das Verhältnis zwischen Staat und Kapital betrifft. Der einen Sichtweise zufolge brauche die kapitalistische Globalisierung den Nationalstaat nicht nur nicht mehr, sondern höhle ihn sogar immer mehr aus. Vertreter dieser Ansicht plädieren deshalb für eine Stärkung und Reform multinationaler Institutionen wie den Vereinten Nationen, der Welthandelsorganisation, der Weltbank, des Internationalen Währungsfonds, der G20 et cetera, um eine echte "global governance" und einen "menschlicheren" Kapitalismus zu verwirklichen. Laut der anderen Sichtweise ist die Globalisierung vom System der Nationalstaaten nicht zu trennen. Für die Anhänger dieser These bedeutet das, daß man das Nationalstaatensystem und den Kapitalismus zugleich überwinden müsse. Deshalb sei auch die Idee verfehlt, lediglich eine kosmopolitische Form der Demokratie, einen grünen Globalkeynesianismus zu proklamieren. Das wesentliche an jeder Idee einer globalen Sozialdemokratie sei, daß sie die Fortsetzung des Kapitalismus beinhalte. Vanaik erteilte diesem Ansatz entschieden eine Absage. Für ihn sei eine globale Sozialdemokratie als Zwischenschritt auf dem Weg zur endgültigen Überwindung des Kapitalismus völlig indiskutabel. Nicht einmal als "Übergang zum Übergang" komme sie für ihn in Frage.

Auf die selbstgestellte Frage, was uns in der nächsten Zeit erwarte, präsentierte Vanaik die These von einer Kerngruppe aus fünf Großmächten, die versuchen würde, das System der kapitalistischen Globalisierung zu stabilisieren. Als Mitglieder des künftigen Quintetts nannte er die USA, die EU, China, Rußland und Indien. Länder wie die Türkei, Brasilien, Südafrika oder Mexiko schafften es in diese erlauchte Runde nicht. Solche Länder spielten im Rahmen der Beratungen von Gremien wie der G20 und WTO schon eine wichtige Rolle, erfüllten aber für ihn nicht die Kriterien des von ihm konzipierten Quintetts. Im Vergleich zu den fünf Großmächten fehlten ihnen drei entscheidende Kriterien - wirtschaftliche Größe, hohe Bevölkerungszahl und militärische Stärke. Ein Land, das diese Kriterien erfüllt, jedoch keinen Platz im Quintett findet, sei Japan. Vanaik erklärte dies damit, daß Tokio seit 1945 keine eigenständige Außen- und Sicherheitspolitik verfolge, sondern sich der Washingtons unterordne. Dies habe zur Folge, daß die Amerikaner bei internationalen Angelegenheiten auf die Japaner nicht die gleiche Rücksicht nehmen müßten wie sie es bezüglich der Europäer, Chinesen, Inder und Russen täten. Doch selbst innerhalb dieses Quintetts müßte man Stabilisierungsmechanismen einführen, damit er seinen Zweck, nämlich die Aufrechterhaltung der kapitalistischen Weltordnung, erfülle. Dazu sei eine gewisse Führung erforderlich, die zu gewährleisten einzig die USA in der Lage wären.

Wenn in letzter Zeit in Bezug auf die USA häufig von einer fehlenden Hegemonie die Rede sei, beziehe sich das vor allem auf die nachlassende Führung. Jede Nation, die für eine Führungsrolle in Frage komme, müsse zwei Qualitäten aufweisen: Erstens müsse sie eine gewisse Einzigartigkeit, die sie von den anderen abhebt, besitzen und zweitens muß ihr die Gefolgschaft der anderen sicher sein. Damit ihr die anderen folgen, muß eine Führungsnation ein gesellschaftliches Modell haben, das die anderen zumindest partiell bewundern und dem sie nacheifern. So gesehen, sei das Land, das innerhalb des Quintetts die Führung übernehmen könnte, nicht China, nicht Indien, nicht Rußland und nicht die EU, die kein einheitlicher Staat, sondern ein Konglomerat verschiedener Nationen mit derzeit großen wirtschaftlichen und institutionellen Problemen sei, sondern einzig und allein die USA.

Die USA seien allein vom Territorium her eines der größten kapitalistischen Länder der Welt und verfügten somit über Naturressourcen in nicht geringem Ausmaß. Die Bevölkerung bestehe aus mehr als 300 Millionen Menschen, deren demographische Struktur von zum Teil gut ausgebildeten Einwandern aus anderen Teilen der Welt ständig erneuert werde. Die USA seien nicht nur militärisch, sondern auch technologisch das stärkste Land der Erde. Von den sechs wichtigsten Zukunftstechnologien hätten die USA bei fünf - neurale Netzwerke, Gentechnologie, Satellitenkommunikation, Personal Computers, Hochtemperatur-Supraleiter - die Nase vorne. Lediglich bei der Magnet-Resonanz-Tomographie führte die EU.

Von den fünf Mitgliedern des sich derzeit herauskristallisierenden Quintetts seien die politischen Strukturen in den USA am stärksten vereinheitlicht. Politisch lägen zum Beispiel die Unterschiede zwischen den Demokraten und den Republikanern in den USA noch lange nicht soweit auseinander wie die zwischen den Führungseliten der wichtigsten EU-Mitgliedsländer. Nicht umsonst höre man seit einiger Zeit aus den USA den Vorwurf, die Demokraten und Republikaner seien in Wirklichkeit keine eigenständigen Parteien, sondern bildeten lediglich unterschiedliche Gesichter derselben Kapitalinteressen. Im Vergleich zu China, Indien und Rußland drohen den USA keine ethnischen oder religiösen Aufstände auf dem eigenen Territorium. Während sich Moskau mit Unruhen in Tschetschenien und Dagestan, Peking in Tibet und Xinxiang und Neu-Delhi in Kaschmir und im Nordosten Indiens herumplagen müssen, ist Washington von derlei Sorgen frei. Im Vergleich zu den anderen vier Kandidaten sind die USA am weitesten homogen und politisch vereinheitlicht. Darüber hinaus sind die USA aus kapitalistischer Perspektive das sicherste Land der Welt. Das hängt nicht nur damit zusammen, daß die USA ein Inselkontinent sind, der durch riesige Ozeane auf beiden Seiten vor Invasionen gefeit ist, sondern daß dort das Ungleichgewicht zwischen Kapital und Arbeiterschaft so ausgeprägt wie nirgendwo sonst sei. Wenn man zu den reichsten Personen der Welt gehört und will sein Vermögen dort aufbewahren, wo es langfristig am sichersten ist, würde man es in China, Indien oder Rußland unterbringen? Nein, natürlich nicht - da kämen einzig die USA in Betracht, so Vanaik.

Die USA seien zudem das reinste kapitalistische Land der Welt. So gebe es in den USA nicht die kulturellen oder sozialen Hinterlassenschaften, wie man sie in den weit älteren Kulturen wie Europa, Rußland, China oder Indien findet. Die kapitalistische Moderne in den USA sei so oberflächlich wie sonst nirgends auf der Welt. Doch gerade diese Oberflächlichkeit sei es, die die Kultur, die Technologie, die Finanzpraktiken und die Management-Techniken der USA so export- und übernahmefähig mache. Der Taylorismus, der Fordismus, flexible Produktion, die Kinofilme und Fernsehserien Hollywoods sind die besten Beispiele für dieses bekannte Phänomen.

Vor dreißig Jahren habe die Linke international die Frage diskutiert, welches von den fortgeschrittenen kapitalistischen Demokratiemodellen - Europa, Japan oder die USA - am attraktivsten sei und sich deshalb vermutlich langfristig durchsetzen werde. Damals herrschte die Meinung vor, Europa mit seinen vergleichsweise üppigen Sozialleistungen zur Abfederung des Arbeitsmarktes würde das Rennen machen. Doch die erwartete weltweite Annäherung an das sozialdemokratische, europäische Gesellschaftsmodell sei nicht eingetreten. Statt dessen paßten sich alle, einschließlich der Japaner und Europäer, immer mehr dem amerikanischen Modell an. Zu dessen Attraktivität habe nicht zuletzt die kulturelle Oberflächlichkeit seiner Modernität beigetragen. So sind es laut Vanaik allein die USA, die auf absehbare Zeit die Führungsrolle innerhalb des neuen Quintetts werden spielen können. Doch es gäbe auch eine gute Nachricht. Das Scheitern der USA in dieser Funktion zeichne sich bereits ab. Den USA würde es weder innerhalb der Gruppe der fünf Großmächte noch global gelingen, das kapitalistische System zu stabilisieren.

Innerhalb der Führungsgruppe müßten sich die Vertreter Washingtons Sorgen wegen der nachlassenden Stärke der USA gegenüber dem aufstrebenden China und einem wiedererstarkten Rußland machen. Doch deren Nachteil bestehe darin, daß sie sich außenpolitisch weitestgehend reaktiv - bezogen auf die Initiativen Washingtons - verhalten. Beide lehnten das Raketenabwehrsystem der Amerikaner ab. Rußland ärgert sich über die permanente Osterweiterung der NATO, während sich China als Objekt einer Containment-Strategie Amerikas in Asien wiederfindet. Ihnen gefalle das alles nicht, aber Moskau und Peking seien bereit, sich damit abzufinden, solange die USA Rußland nicht um seinen Einfluß auf sein Nahes Ausland bringen und die Einheit Chinas durch eine Instrumentalisierung Tibets und Taiwans nicht direkt in Frage stellen. Also hänge es in erster Linie von den USA ab, wie sich künftig ihre Beziehungen zu diesen beiden Großmächten entwickeln. Es sei auch nicht auszuschließen, daß die USA beide Staaten durch fehlende Umsicht gegen sich aufbringen werden, was zu Spannungen und eventuell zu neuen Kräfteverhältnissen aufgrund einer Allianzverschiebung führen könnte.

Podiumsteilnehmer als Gruppenbild - Foto: © 2012 by Schattenblick

Reimer Heider aus Deutschland, die Kurdin Fadile Yildirim, der Baske Jon Andoni Lekue, Solly Mapaila aus Südafrika, der Engländer Felix Padel hören Achin Vanaik gespannt zu
Foto: © 2012 by Schattenblick

Der überragende politische Faktor sei jedenfalls das Nachlassen des globalen Einflusses der USA, deren Schwachpunkt Zentral- und Westasien sowie Nordafrika - was die Regierung George W. Bush als das "Greater Middle East" bezeichnete - seien. Es sei ausgeschlossen, daß die USA diese Region langfristig stabilisieren werden. Dafür würden zwei seit Jahrzehnten andauernde Konflikte - nämlich der Kampf der Kurden und der Palästinenser um Gerechtigkeit - sorgen. Hinzu kämen die gewaltigen Probleme, welche die USA durch die Invasionen in Afghanistan und im Irak sich und den Menschen vor Ort bereitet hätten. Auch deshalb sei - selbst wenn man keine Sympathie für die Mullahkratie in Teheran hege - die aggressive Iran-Politik Washingtons abzulehnen, in deren Mittelpunkt weniger der Atomstreit als vielmehr handfeste geopolitische Interessen stehen. Ganz generell müßten die progressiven Kräfte weltweit dahingehend zusammenarbeiten, den Niedergang der USA zu beschleunigen.

Nach der Analyse Vanaiks stellen die USA im Rahmen des neuen Quintetts so etwas wie den letzten Hegemon, das letzte informelle Weltreich dar. Es wird keinen Nachfolger - weder von chinesischer noch von indischer Seite - mehr geben, was auch für alle anderen Überlegungen von Bedeutung sei. Zudem wird es dem Quintett nicht gelingen, das kapitalistische System zu stabilisieren, weil er keine Antwort auf das habe, was Vanaik die vier Reiter der Apokalypse nannte: erstens, die zunehmende Massenungleichheit; zweitens, die ökologischen Ungleichgewichte jeder Art und drittens, der Aufstieg dessen, was man kulturelle Exklusivität nennen könnte und die sich vielfach als religiöse Intoleranz und/oder ethnische Feindseligkeit ausdrücke. Dafür stünden der islamische, christliche, jüdische, hinduistische und selbst der buddhistische Fundamentalismus. Letzterer sei wenig bekannt, habe jedoch eine verheerende Rolle beim Konflikt auf Sri Lanka zwischen der hinduistischen Tamilen-Minderheit und der buddhistischen Mehrheitsbevölkerung gespielt. Nationalistische Irredentismen hätten Jugoslawien und die Sowjetunion zugrunde gerichtet. In den westlichen Industrienationen blühten derzeit Rassismus und Fremdenfeindlichkeit auf und richteten sich hauptsächlich gegen Einwanderer aus der sogenannten Dritten Welt.

Als Vanaik noch jung war und in England studierte, war der Rassismus hauptsächlich derjenige der Weißen gegen die Schwarzen - wobei alle Nicht-Weißen unabhängig ihrer ethnischen Herkunft, ob Chinese oder Inder, als "Schwarze" galten. Heute drücke sich der Rassismus in Europa und Nordamerika vor allem in der Dämonisierung des Islams aus, was seinen Niederschlag auch in der Sprache gefunden habe. Westliche Politiker sprächen vom "islamischen" Terrorismus. Habe man jemals von einem "christlichen", "jüdischen", "hinduistischen" oder "buddhistischen" Terrorismus gehört? Natürlich nicht. Neben ihnen gebe es zudem diverse säkular ausgerichtete "Terrororganisationen". Dazu komme der schlimmste Terrorismus von allen, derjenige der Starken, nämlich der Staatsterrorismus. Wenn man aber vom islamischen Terrorismus spreche, was erreiche man damit? Man laste einer großen Religion den Vorwurf des Terrorismus an, was nicht nur extrem ungerecht, sondern auch extrem gefährlich sei, so Vanaik. Und trotzdem hat dieser fürchterlicher Terminus Eingang in den alltäglichen politischen Diskurs des Westens gefunden.

Als vierten Reiter der Apokalypse bezeichnete Vanaik die Verbreitung von Atomwaffen und den Militarismus. Seiner Ansicht nach werde das Quintett keine Antwort für die Menschheit auf diese vier Herausforderungen finden. Das bedeutet, daß die kommende Ära durch größe Umwälzungen gekennzeichnet sein wird, die sich nicht zuletzt aus der ungeheuren Ungleichheit unter den Nationen und den Menschen in den einzelnen Ländern speisen werden. Also werden die kapitalistische Weltordnung und das mit ihr verbundene System der Nationalstaaten unter großen Druck geraten. Was sich daraus geschichtlich entwickeln werde, lasse sich im voraus schwer sagen. Feststehe, daß die kommende Zeit viele Eröffnungen bieten werde - sowohl den progressiven Kräften als auch leider den reaktionären.

Angesichts dieser Lage tat Vanaik das Versprechen einer globalen Sozialdemokratie als illusorisch ab. Ihm zufolge brächte eine Reform der bereits existierenden multinationalen Institutionen keine wirkliche Lösung der bestehenden Probleme und genügte nicht einmal als Übergang zu einem besseren System. Die alten sozialdemokratischen Forderungen seien im Rahmen des herrschenden Turbokapitalismus nicht mehr zu erfüllen. Daher seien weitaus radikalere, antikapitalistische Ansätze und Überlegungen vonnöten. Man müsse sich darüber klar werden, daß der einzige Kapitalismus der raubtiermäßige von heute sein werde und kein "humanerer" zu erwarten sei. Das wüßten die Rechten ganz genau, weshalb sie das bestehende System mit Händen und Füßen verteidigten.

Was die Frage der Überwindung des Nationalstaates betrifft, so gab Vanaik Lenin recht, der einmal erklärt habe, die stärkste Hülle für den Kapitalismus sei der liberaldemokratische Rechtsstaat. Wenn man den Kapitalismus überwinden wolle, müsse man weiterreichende Formen der demokratischen Mitbestimmung finden. In diesem Zusammenhang hob Vanaik die Ideen Abdullah Öcalans zur Schaffung zwischenstaatlicher konföderativer Strukturen zwecks Überwindung der Nationalstaatsgrenzen im Nahen Osten lobend hervor. Es gebe noch vieles, was man aus dem Anarchismus und Sowjetkommunismus - insbesondere der früheren Tage der Bolschewisierung - lernen könnte. Zudem müßten die Debatten der sechziger und siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts in Bezug auf die industrielle Demokratie, sprich die betriebliche Mitbestimmung, sowie Nachbarschaftsräte und vieles mehr wiederbelebt und fortgesetzt werden. Es habe in der Geschichte zahlreicher Länder und Kulturen viele Formen der demokratischen Beteiligung gegeben, aus denen man lernen könnte. Dazu gehöre die Beachtung von Prinzipien wie das der Subsidiarität auf allen Ebenen. Auf der regionalen und lokalen Ebene fanden seit einigen Jahren in Lateinamerika, in Ländern wie Bolivien und Venezuela, interessante Experimente der verstärkten Bürgerbeteiligung an der politischen Entscheidungsfindung statt, und nicht nur in Bezug auf eine Vertiefung der Demokratie.

Die Voraussetzung dafür, eine bessere Welt als die heutige zu schaffen, sei die Vereitelung des Imperialprojektes der USA. Es gebe zwar keine Garantie, daß etwas Besseres entstünde, wenn dieses Projekt zu Fall gebracht würde. Dennoch könnte man relativ zuversichtlich sein, daß die Chancen zur Errichtung eines progressiveren Systems weitaus höher liegen würden. Das sei eine wichtige Perspektive und ein Ansporn, die Zusammenarbeit zwischen den Beteiligten an den verschiedenen sozialen Kämpfen rund um den Globus zu verstärken.

Zum Schluß bemerkte Vanaik noch einiges zum Thema progressiver Politik. Was bedeute progressive Politik, einschließlich des politischen Kampfes? Es handele sich in erster Linie nicht um einen militärischen Konflikt oder einen wirtschaftlichen Wettbewerb, sondern vor allem um einen Kampf des Willens, bei dem die eine Seite der anderen ihren Willen aufzuzwingen versuche. Militärische Stärke und wirtschaftliche Macht seien lediglich die Mittel, mit denen man dieses Ziel anstrebe. Doch es komme manchmal vor, daß der Widerstandswille einer militärisch und wirtschaftlich unterlegenen Bevölkerung so stark ist, daß die aus herkömmlicher Sicht stärkere Seite politisch bezwungen wird. Zudem zeichneten sich die letzten 150 Jahre durch eine Beteiligung der Massen an der Politik aus - etwas, was es vor 2000 oder 200 Jahren nicht gegeben habe. Deswegen wurden die militärisch überlegenen USA in Vietnam besiegt; deshalb mußte die sowjetische Armee, eines besseren belehrt, aus Afghanistan abziehen; darum bestünden für die Kurden und die Palästinenser nach wie vor gute Chancen auf Gerechtigkeit. Schließlich gehe es bei der progressiven Politik um die Schaffung, Aufrechterhaltung, Verbreitung und Stärkung jenes Widerstandswillens. Dies erreicht man auf vielfache Weise: durch das Verfassen von Büchern und Artikel, durch das Halten von Vorträgen, durch die Teilnahme an Konferenzen, durch das Organisieren von Protestmärschen und Besetzungen, manchmal durch den bewaffneten Kampf, durch Theaterstücke, Rebellenlieder. Dies alles fortzuführen, sei die Aufgabe der jungen Generation. Während sich diese erst in der Abflughalle des Lebens befinde, seien Vanaik und seine Mitstreiter bereits in der Ankunftshalle angekommen. Ihre Reise steht kurz vor dem Ende. Alles, was ihnen geblieben sei, bestehe darin, den jungen Menschen von heute die Geschichte ihrer Vorgänger zu übermitteln, damit ihnen in der Zukunft der Sieg gegen den Kapitalismus gelinge. Daß der historische Sieg kommen werde, davon sei er überzeugt, erklärte Vanaik unter tobendem Beifall.

Sitzungssaal in der Totalen von hinten - Foto: © 2012 by Schattenblick

Eröffnungsrede zur Session "Kapitalismus als Zivilisationskrise"
Foto: © 2012 by Schattenblick

(Fortsetzung folgt)

14. Februar 2012