Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → REPORT

BERICHT/155: Am Beispiel Guantánamo - Murat Kurnaz und Wolfgang Kaleck berichten (SB)


Pressegespräch mit Murat Kurnaz

Veranstaltung des ECCHR am 27. Juni 2013 in Berlin



Unter der Überschrift "Die Strafrechtliche Verfolgung der Verantwortlichen für Folter in Guantánamo" hat das European Center for Constitutional and Human Rights in seiner Geschäftsstelle in Berlin-Kreuzberg am 27. Juni zu einem Pressegespräch mit Murat Kurnaz, der zu Unrecht fünf Jahre in dem berüchtigten Lager auf dem Gelände des US-Marinestützpunktes auf Kuba verbrachte, eingeladen. Die rund 20 Medienvertreter, die der Einladung folgten, bekamen in lockerer Atmosphäre eine Fülle gehaltvoller Informationen geliefert. Dies erklärt, warum im folgenden Beitrag so ausführlich darüber berichtet wird.

Der Chef des ECCHR gestikuliert - Foto: © 2013 by Schattenblick

Wolfgang Kaleck
Foto: © 2013 by Schattenblick

Wolfgang Kaleck, Gründer und Generalsekretär des ECCHR, erklärte zum Auftakt, die Idee zur Veranstaltung sei ihm gekommen, nachdem er und seine Mitarbeiter einige Wochen zuvor die Premiere des Kinostreifens "Fünf Jahre Leben" besucht hatten. Ungeachtet des Namens behandelt der Film eigentlich nur das erste Jahr der Gefangenschaft Kurnaz' in Guantánamo. Der rechtliche und politische Hintergrund bleibt weitestgehend unterbelichtet. Deshalb hat das ECCHR die öffentliche Aufmerksamkeit um die Leinwandversion des Vorfalls dazu genutzt, um die politischen Auswirkungen in Deutschland sowie den aktuellen Stand der strafrechtlichen und zivilrechtlichen Verfahren gegen die Verantwortlichen für Guantánamo wieder ins Bewußtsein zu rufen. Hinzu kommt der aktuelle Anlaß, daß sich seit fünf Monaten Dutzende Guantánamo-Gefangene im Hungerstreik befinden. Viele von ihnen sitzen dort nur deshalb seit Jahren ein, weil sich kein Land findet, das sie aufzunehmen bereit ist.

Kaleck ist seit 2004 mit dem Problem der extralegalen Inhaftierung und Folter von Gefangenen befaßt - zuerst im irakischen Abu Ghraib und dann später in Guantánamo. Dies erfolgte in Zusammenarbeit mit dem Center for Constitutional Rights (CCR) in New York, das 2009 bei der Gründung des ECCHR Pate stand - daher auch die Ähnlichkeit der Namen. Hinsichtlich der strafrechtlichen Verfolgung in solchen Fällen stößt Kaleck immer wieder auf die Frage, ob er wirklich glauben würde, sich auf dem gerichtlichen Weg erfolgreich gegen die übermächtigen Instanzen, die er anprangert, durchsetzen zu können. Das hat er immer wieder zu hören bekommen, insbesondere 2006 nach der Einreichung der Klage gegen den damaligen US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld.

Kaleck vertritt den Standpunkt, daß man nichts unversucht lassen sollte, aber ein gewisses Maß an Geduld und Beharrlichkeit brauche, um zum Erfolg, und seien es erst einmal nur kleinere Etappensiege, zu gelangen. Gerade die Aufarbeitung der Verbrechen in den Diktaturen von Chile und Argentinien in den siebziger und achtziger Jahre führte vor Augen, daß strafrechtliche Initiativen sehr wohl zur Verurteilung der einstigen Verantwortlichen im Staatsapparat führen können, auch wenn es einige Jahre dauert. Die Erfahrung in beiden Ländern hat überdies gezeigt, daß die juristische Aufarbeitung der Geschichte nicht nur für die überlebenden Folteropfer und die Familien der "Verschwundenen", sondern für die Gesellschaft als Ganzes eine große Bedeutung hat. Daher ist Kaleck der Überzeugung, daß es den USA sehr gut anstünde, sich vor Gericht mit den Folterjahren der Regierung unter George Bush jun. auseinanderzusetzen, nur fehle in Washington der politische Wille dazu. Gemeint ist der Widerstand der Republikaner, die jede Initiative in diese Richtung im Keim ersticken und auch den Plan des demokratischen Präsidenten Barack Obama zur Schließung von Guantánamo durchkreuzt haben.

Kaleck zufolge hatten die Klagen vor deutschen Gerichten gegen Rumsfeld und andere 2004 und 2006 im Zusammenhang mit dem Abu-Ghraib-Skandal durchaus Wirkung, zumal der ganzen Welt klar war, daß hier nicht nur die zwölf Teilnehmer der Nachtschicht, die deshalb später vor einem Militärtribunal landeten, gegen Menschen-, Kriegs- und Völkerrecht verstoßen hatten. Die Klagen regten eine weltweite Debatte an - unter anderem in den Medien mit Berichten bei CNN und Al Jazeera, aber auch innerhalb der Juristengemeinde in den USA, wo intensiv über die Verantwortung der beteiligten Anwälte der Bush-Regierung - John Yoo, Jay Bybee u. a - diskutiert wurde. Letztere hatten im Auftrag des Weißen Hauses "pseudojuristische" Expertisen verfaßt, in denen sie die Folter im Kontext des "Antiterrorkrieges" zu einer legitimen Maßnahme umdefinierten und sich damit in Widerspruch zu allem brachten, was international zu dem Thema über die letzten Jahrzehnte geschrieben worden ist.

Formell gesehen ist Kaleck 2004 und 2006 gescheitert. Die Staatsanwaltschaft in Deutschland hat sich geweigert, aufgrund der Anzeigen gegen Rumsfeld und beteiligte Politchargen aktiv zu werden. 2007 ist dem streitbaren Juristen und seinen Kollegen das gleiche mit einer Klage in Frankreich widerfahren, obwohl die juristischen Voraussetzungen dort besser als in Deutschland waren. Kurzfristig hatten sie von der Anwesenheit Rumsfelds in Frankreich erfahren, das bereits gegen ihn vorliegende Material schnell ins Französische übersetzen lassen und einem Gericht in Paris vorgelegt und so die Verhaftung des inzwischen pensionierten Ex-Pentagonchefs beantragt. Der Antrag wurde mit der fadenscheinigen Begründung, Rumsfeld genösse auch als ehemaliger Verteidigungsminister der USA rechtliche Immunität, abgewiesen. Seitdem ist es zu weiteren Initiativen in Belgien, Frankreich und Spanien gekommen. Die Möglichkeit zur juristischen Intervention ergab sich daraus, daß die Menschenrechtsanwälte Guantánamo-Geschädigte vertreten, die entweder Bürger jener Länder sind oder dort seit Jahren eine Aufenthaltserlaubnis besitzen. Auch in Fällen, in denen auf europäischem Boden Menschen verschleppt - berühmtestes Beispiel ist der Ende 2003, Anfang 2004 in Mazedonien entführte Khaled El Masri - oder in einem geheimen Gefängnis interniert und gefoltert wurden bzw. bei einer "außergewöhnlichen Überstellung" in einer CIA-Maschine zwischengelandet sind, ergeben sich Handlungsmöglichkeiten für die europäischen Justizbehörden.

Auch wenn bei den europäischen Behörden eine starke Abneigung vorherrscht, gegen ranghohe Militärs und Politiker der USA vorzugehen, ist Kaleck doch der Meinung, daß die Dinge seit einigen Jahren in Bewegung gekommen sind - allen voran in Spanien. Dies lag nicht zuletzt an der Person des berühmten Untersuchungsrichters Baltasar Garzón. Dieser hatte im April 2009, nur einen Monat, nachdem ihm von Menschenrechtsanwälten der entsprechende Antrag vorgelegt wurde, Ermittlungen wegen Folter in Guantánamo Bay gegen sechs Ex-Mitglieder der Regierung von George W. Bush eingeleitet. (Die sogenannten "Bush 6" sind Alberto Gonzales, der zwischen 2001 und 2008 Rechtsbeistand im Weißen Haus und später Justizminister war, David Addington, der frühere Stabschef von Vizepräsident Dick Cheney, Jay Bybee, damals Leiter des Office of Legal Counsel im Justizministerium, sein damaliger Vize John Yoo, Douglas Feith, einst Staatssekretär im Verteidigungsministerium, und William Haynes II., damals Rechtsbeistand von Pentagonchef Rumsfeld.) Leider ist Garzón 2011, als er versuchte, Verbrechen und Greueltaten aus der Zeit des spanischen Bürgerkrieges und der Franco-Diktatur aufzuklären, seines Amts enthoben worden. Seitdem kommen in Spanien die Folterklagen, unter anderem durch die Beteiligung von ECCHR und CCR, bei denen Murat Kurnaz als Zeuge formell zugelassen wurde, gegen die USA nur langsam voran. In Spanien, genauso wie in Belgien und Frankreich, wo das ECCHR ebenfalls mit örtlichen Kanzleien in die Folterklagen involviert ist, wartet man derzeit auf eine Verbesserung der politischen Lage, damit die Mühlen der Justiz wieder in Bewegung kommen.

Ex-Guantánamo-Häftling in nachdenklicher Pose - Foto: © 2013 by Schattenblick

Murat Kurnaz
Foto: © 2013 by Schattenblick

2011 brachte das ECCHR in Erfahrung, daß Ex-Präsident George W. Bush in die Schweiz reisen wollte, um einer Wohltätigkeitsveranstaltung beizuwohnen. Aufgrund des vorliegenden Materials, darunter Passagen aus Bushs eigenen Memoiren, in denen er sich zu seiner Rolle bei der Entscheidung, mutmaßliche "Terroristen" dem Waterboarding zu unterziehen, äußerte, hat das ECCHR beim zuständigen Gericht in der Schweiz Strafanzeige gestellt und dies auch publiziert. Das hat Bush dazu veranlaßt, von der geplanten Reise abzusehen. Dies wertete Kaleck als "Zwischenerfolg", den man zehn Jahre früher als unmöglich abgetan hätte. Aufgrund der Aktivitäten von ECCHR und anderen Menschenrechtsorganisationen wagt sich inzwischen eine ganze Reihe ehemaliger Mitglieder der Bush-Regierung nicht mehr nach Europa. Dies gilt nicht nur für ältere Ex-Kabinettsmitglieder wie Rumsfeld und Cheney, sondern auch für die jüngeren Anwälte, die noch beruflich aktiv sind und sich in ihren Entfaltungsmöglichkeiten eingeschränkt sehen. So können sie zum Beispiel nicht mehr an internationalen Juristentagungen in Europa teilnehmen.

Die Entschlossenheit der Menschenrechtsanwälte haben auch die rund 500 Personen zu spüren bekommen, die in den Jahren nach 9/11 entweder als CIA-Beamte oder als Mitarbeiter von privaten Sicherheitsunternehmen bzw. Charterflugzeugfirmen die "außergewöhnlichen Überstellungen" mutmaßlicher "islamistischer Terroristen" bewerkstelligt haben und in dem Zusammenhang entweder europäische Bürger verschleppt oder sich im europäischen Raum bewegt haben. Gegen zwölf Personen laufen Ermittlungsverfahren in Deutschland wegen der Entführung des Libanesen Khaled El Masri. In Italien ist es wegen der Verschleppung des Ägypters Abu Omar 2003 von Mailand in ein Gefängnis bei Kairo sechs Jahre später zu Verurteilungen und Haftbefehlen gegen 22 CIA-Mitarbeiter, einen US-Luftwaffengeneral sowie zwei ranghohe Vertreter des italienischen Geheimdienstes gekommen. Alle Amerikaner, die in diese Vorfälle verstrickt sind, wurden in Abwesenheit verurteilt und können deshalb nicht mehr nach Europa reisen, weil gegen sie ein internationaler Haftbefehl vorliegt. Dies hatte zur Konsequenz, daß einer der Beteiligten, der zu einem Posten in der CIA-Station in London befördert worden war, diesen nicht antreten konnte. Die britische Regierung mußte Washington vorsorglich von der Anreise abraten.

Kaleck glaubt hierin nicht unwichtige Teilerfolge zu erkennen. Er erinnerte daran, daß sich ganz am Anfang größere Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International von der Idee, gegen die Verantwortlichen für die Folterpraxis der USA juristisch vorzugehen, mit der Begründung, das Ansinnen sei zwecklos, da man sich mit mächtigen Leuten anlegen würde, distanziert haben. Kaleck und seine Mitarbeiter haben sich jedoch nicht beirren lassen, denn sie glaubten damals und glauben es noch heute, daß das Völkerstrafrecht nicht nur angewandt werden darf, wenn es um die Verbrechen irgendwelcher afrikanischer Militärmachthaber geht, sondern universelle Geltung haben muß. Auch wenn das ECCHR seine Arbeit auf diesem Feld fortsetzen wird, mußte Kaleck doch feststellen, daß sich die politischen Rahmenbedingungen in den USA nach der Wahl Barack Obamas 2008 nicht in dem Maße zum Positiven entwickelt haben, wie es sich die progressiven Kräfte dort gewünscht hätten. Dadurch ist in den USA die Aufarbeitung der Menschenrechtsverbrechen der Bush- Administration genauso auf der Strecke geblieben wie Obamas angekündigte Schließung von Guantánamo.

Kaleck machte geltend, daß die zahlreichen Opfer der Folter- und Verschleppungspraktiken der Amerikaner bis heute weder eine Entschädigung noch eine Entschuldigung seitens der USA erhalten haben. Dies steht ihnen jedoch zu; dafür werde das ECCHR im Namen seiner Mandanten bis zum Schluß kämpfen, so Kaleck. Das einzige Opfer, das bisher entschädigt wurde, ist der Kanadier Maher Arar, der 2002 bei einer Zwischenlandung auf dem New Yorker Flughafen JFK von den US-Behörden festgenommen und anschließend nach Syrien geflogen worden war, wo man ihn über ein Jahr lang in eine sarggroße Zelle einsperrte und schwer mißhandelte. 2003 wurde Arar freigelassen und kehrte zu seiner Familie nach Kanada zurück. Dort hat ihn 2007 eine Untersuchungskommission von jedem Terrorverdacht freigesprochen und die Beteiligung der kanadischen Sicherheitsbehörden an seinem Martyrium verurteilt. Er bekam eine finanzielle Entschädigung von Ottawa und eine Entschuldigung von Premierminister Stephen Harper. Trotzdem kann Arar bis heute nicht in die USA reisen, weil sein Name dort nach wie vor auf der berüchtigten No-Fly-Liste steht. Dagegen kämpft Arar mit Hilfe unter anderem des New Yorker CCR an. Angesichts des kanadischen Beispiels mahnte Kaleck an, es hätte der Bundesregierung - ob rot-grün, schwarz-rot oder aktuell schwarz-gelb - gut zu Gesicht gestanden, sich bei den beiden Folteropfern der USA hierzulande, nämlich Khaled El Masri und Murat Kurnaz, zu entschuldigen und sie finanziell zu entschädigen. Das sei nicht zuviel verlangt. Dazu brauche man sich nicht einmal mit dem Bündnispartner USA anzulegen.

Alle Versuche des CCR und der American Civil Liberties Union (ACLU), in den USA die Fälle Al Masri und Kurnaz strafrechtlich aufzuarbeiten, sind gescheitert, während die Bemühungen um finanzielle Entschädigung aus Washington für die beiden Männer im Ansatz steckengeblieben sind. Vor diesem Hintergrund vertrat Kaleck die Ansicht, daß die europäischen Staaten hier ganz klar in der Pflicht sind. Sie sollten sich bei ihren Bürgern, die in die Fänge des US-Folterprogramms geraten sind, entschuldigen, sie entschädigen und ihnen alle straf- und zivilrechtlich relevanten Informationen zur Verfügung stellen. Schließlich hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte 2012 Khaled El Masri Recht mit seiner Klage gegen Mazedonien gegeben, die Verantwortlichen in Skopje schuldig gesprochen, gegen die Grundrechte des Mannes verstoßen zu haben, und ihm eine Entschädigung zugesprochen.

Auch wenn die konkreten Vergehen in diesen Fällen inzwischen einige Jahre zurückliegen, sei das alles nicht "Schnee von gestern"; wer das behaupte, habe keine Ahnung, was Folter bedeute und wie nachhaltig sie sich auf das Leben der Betroffenen auswirke, so Kaleck. Deswegen werde sich das ECCHR weiterhin für die Betroffenen einsetzen und versuchen, das internationale Folterverbot durchzusetzen - auch in den USA. Kaleck führte hier ganz konkret das Schicksal El Masris an, der durch seine Foltererlebnisse psychisch vernichtet wurde, seit seiner Freilassung immer wieder mit dem Gesetz in Konflikt geraten ist und deshalb seit einigen Jahren in einem deutschen Gefängnis sitzt. Derzeit kann niemand sagen, wie es um El Masris Seelenzustand bestellt ist, gab Kaleck zu bedenken.

Kurnaz und Kaleck gemeinsam auf dem Podium - Foto: © 2013 by Schattenblick

Schwierige juristische Sachverhalte verständlich machen
Foto: © 2013 by Schattenblick

Nach der detailreichen Tour d'horizon kam die erste Frage aus dem Publikum, und zwar nach dem Stellenwert Murat Kurnaz' bei den Menschenrechtsklagen in Spanien gegen Guantánamo. Darauf erwiderte Kaleck, das ECCHR sei als Vertreter des öffentlichen Interesses zugelassen worden. Auch habe man Kurnaz als Zeugen anerkannt und erwartet nun, daß er demnächst vernommen wird. In Verbindung mit Klagen wegen CIA-Folterflügen mit spanischem Bezug habe er den Behörden dort bereits Rede und Antwort gestanden.

Aufgeworfen wurde auch die Frage nach den rechtlichen Konsequenzen der Verwendung des US-Luftwaffenstützpunktes Ramstein bei Folterflügen der CIA. Die Bundesregierung hätte, so der Fragesteller, zumindest behauptet, auch in Ramstein gelte deutsches Recht. Laut Kaleck betraf diese Frage vor allem den Fall des ägyptischen Geistlichen Abu Omar, der nach der Entführung in Mailand vom Luftwaffenstützpunkt Aviano zunächst nach Ramstein geflogen wurde, bevor man ihn anschließend an die Folterschergen Hosni Mubaraks auslieferte. In Deutschland hat die zuständige Staatsanwaltschaft die Ermittlungen in dem Moment eingestellt, als sie erfuhr, daß in Italien in dieser Angelegenheit juristisch gegen die Beteiligten der Entführung vorgegangen wurde, da die Kollegen dort weit besseren Zugang zum ganzen Sachverhalt hatten. In Ramstein wie auch an anderen europäischen Standorten krankten die Ermittlungen daran, daß man zwar aufgrund der fleißigen Arbeit von Freiwilligen, sogenannten Plane Spotters, die Start- und Landedaten jener Flugzeuge, die nachweislich von der CIA benutzt wurden, besaß, jedoch die konkreten Angaben über die Fracht, d. h. Beweise dafür, daß einer oder mehrere Entführte mit ihnen transportiert wurden, fehlten. Diese Daten hat man leider nur zum Teil rekonstruieren können, erklärte Kaleck.

Seiner Einschätzung nach bestanden daher bessere Aussichten auf Ermittlungserfolg in Litauen und Polen, weil die CIA dort in den ersten Jahren des "globalen Antiterrorkrieges" geheime Haftlager, sogenannte "black sites", unterhalten hat. In Polen läuft die Ermittlung zwar langsam, aber immerhin an. In Litauen ist sie dagegen vollends zum Erliegen gekommen. Es bestand das Problem, die Berichte der einzelnen Gefangenen mit dem Geschehen am jeweiligen Ort in Verbindung zu bringen. In Polen konnte man das, in Litauen dagegen nicht. Nicht zufällig werden solche Gefangenen in der Regel mit einem Stofftuch über dem Kopf oder geschwärzten Schutzbrillen vor den Augen transportiert, damit sie nicht erkennen, wohin man sie bringt oder wo sie gelandet sind. Daher kam es auch in Deutschland wegen der CIA- Folterflüge zu keiner Ermittlung, weil man nicht wußte, ob jemand in den Maschinen unfreiwillig transport wurde, oder ob es sich um einen Leerflug handelte.

Auf die Frage nach der Sachlage in Rumänien, wo es ebenfalls ein geheimes CIA-Foltergefängnis gegeben hat, sagte Kaleck, es sei bezeichnend, daß es sich dabei wie auch bei Polen und Litauen um Länder des von Donald Rumsfeld postulierten "neuen Europas" handelt, die sich nach dem illegalen Einmarsch angloamerikanischer Streitkräfte 2003 in den Irak auch an der dortigen Besatzung militärisch beteiligt haben. In allen drei Staaten haben die Menschenrechtsorganisationen, die gegen das CIA-Folterprogramm vorgingen, Unterstützung von der Zivilgesellschaft erfahren. In Polen hat die Justiz, als 2007 die Regierung Donald Tusks an die Macht kam, auch politische Rückendeckung erhalten. In Rumänien liefen die Dinge ganz anders als in Polen und Litauen. Die Bukarester Behörden haben gemauert und vertuscht. Es kam lediglich zu einer Reihe von Auskunftsklagen, die am massiven staatlichen Widerstand gescheitert sind. Dagegen hat es in Litauen immerhin einen Untersuchungsausschuß gegeben, der Einzelheiten ans Tageslicht gefördert und eine größere öffentliche Diskussion ausgelöst hat.

Jemand wollte wissen, ob sich die früheren Behauptungen, wonach in Ramstein, speziell auf dem US-Luftwaffenstützpunkt Coleman, gefoltert wurde, erhärtet hätten. Kaleck erklärte hierzu, das ECCHR sei dem nachgegangen und habe festgestellt, daß die Verdachtsmomente zu unbegründet waren, als daß man sich damit an die Ermittlungsbehörden hätte wenden können.

Es wurde zudem die Frage gestellt, ob es nicht im gesellschaftlich-politischen Sinne zweckmäßiger wäre, statt die Einzelfälle strafrechtlich zu verfolgen, ein Gremium, ähnlich dem Russell-Tribunal während des Vietnamkrieges, einzuberufen und mit angesehenen Persönlichkeiten zu besetzen, der sich dann in aller Öffentlichkeit unter anderem anhand von Enthüllungen seitens Wikileaks mit den zahlreichen Auswüchsen des Komplexes "Antiterrorkrieg" - Drohnenangriffen, Verschleppungen, illegalen Inhaftierungen, Folter et cetera - auseinandersetzen könnte.

Kaleck meinte, das eine Vorgehen schließe das andere nicht aus. Beim Russell-Tribunal in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts ging es nicht zuletzt darum, aufgrund der Erfahrungen aus dem Nürnberger Tribunal das internationale Strafrecht weiterzuentwickeln. Das ECCHR und verbündete Organisationen verfolgen das Ziel, das heute gültige, im Vergleich zu dem vor fünfzig Jahren weiterentwickelte internationale Strafrecht durchzusetzen - auch gegen die Mächtigen in den USA und den anderen westlichen Industriestaaten. Die laufenden Klagen haben die Funktion, die Doppelmoral des Westens aufzudecken. Angesichts des vorhandenen Widerstands der entsprechenden Eliten erfüllen sie auch die Funktion, daß die juristische Arbeit, sollte sie jetzt nicht zum Erfolg führen, in einigen Jahren wiederaufgenommen werden könnte, sobald der politische Wind sich dreht.

Kaleck verwies in diesem Zusammenhang auf ein Gespräch, das er am Tag zuvor mit einer Freundin in der Türkei führte. Sie hatte beklagt, daß ein berüchtigter Sicherheitsbeamter, der sich dort in der Vergangenheit durch die Folterung von Oppositionellen und andere Menschenrechtsverletzungen einen entsprechenden Ruf verschafft hat [vermutlich Huseyin Capcin - Anm. d. SB-Red.], vor einiger Zeit auf Betreiben der regierenden islamisch-konservativen AK-Partei um Premierminister Recep Tayyip Erdogan zum Polizeipräsidenten der Millionenstadt Istanbul befördert worden sei. Kaleck führte dies auf die fehlende Aufarbeitung derlei Verbrechen in der Türkei zurück und zeigte sich daher wenig überrascht über die zahlreichen Meldungen von Übergriffen und Verschleppungen durch die Polizei im Zusammenhang mit den jüngsten Protesten um die Bebauung des Istanbuler Gezi-Parks. Um die Beförderung von Folterern und ähnliches zu verhindern, sind strafrechtliche Initiativen von ECCHR et al wichtig, so Kaleck.

Die nächste Frage aus dem Publikum richtete sich nach dem aktuellen Stand des Hungerstreiks in Guantánamo Bay: Wie viele Inhaftierte nehmen daran teil und wie ist es um ihre Gesundheit bestellt? Dazu Kaleck: Am Status quo hat sich nichts verändert. Mehr als 100 der 166 Gefangenen nehmen am Hungerstreik teil, von denen 28 wegen akuter Lebensgefahr derzeit zwangsernährt werden.

Von Kaleck wollte jemand wissen, ob das ECCHR den Standpunkt einer Gruppe islamischer Juristen in Südafrika, die anläßlich des neuerlichen Besuchs Barack Obamas am Kap der guten Hoffnung die Verhaftung des US-Präsidenten wegen Guantánamo und der CIA-Drohnenangriffe gefordert hat, teile. Darauf erwiderte Kaleck, die südafrikanischen Kollegen hätten den Drohnenkrieg der USA als Verbrechen gegen die Menschlichkeit bezeichnet. Diese Überzeugung teile das ECCHR nicht. Nichtsdestotrotz arbeite das ECCHR eng mit Mirza Shahzad Akbar, jenem Anwalt, der in Pakistan juristisch am meisten gegen die Drohnenangriffe im Grenzgebiet zu Afghanistan auf den Weg gebracht hat, eng zusammen. Es seien in Pakistan wegen der Drohnenangriffe Verfahren, welche das ECCHR mitantreibe, anhängig. Dazu kommt eine Reihe von Ermittlungsverfahren in Deutschland wegen der Tötung mehrerer mutmaßlicher deutscher Al-Kaida-Mitglieder 2010 im pakistanischen Nordwasiristan. Davon verspricht sich das ECCHR Aufklärung um die genauen Umstände des Drohnenangriffs.

Aus dem Publikum kam der Einwand, die Drohnenangriffe der CIA in Pakistan seien aus zweifacher Hinsicht illegal. Erstens, weil Zivilisten dabei in nicht geringer Zahl ums Leben kommen, und zweitens, weil Pakistan keine Kriegspartei sei. An dieser Stelle mußte Kaleck, der die Empörung über die CIA-Dronenaktivitäten teilte, als Fachmann einiges zu bedenken geben. Das humanitäre Völkerrecht erlaube im Krieg die Tötung bewaffneter Gegner auch in großer Zahl - ob es einem gefalle oder nicht. Es müßte daher der Beweis erbracht werden, daß die Opfer der Drohnenangriffe keine Militanten seien bzw. daß die US-Behördenvertreter die Tötung von Zivilisten, sozusagen als Kollateralschäden, billigend in Kauf genommen hätten. Wenngleich Pakistan offiziell nicht am Afghanistan-Krieg beteiligt sei, könnten die USA durchaus argumentieren, daß in Nordwasiristan und anderen Teilen des Grenzgebiets ein bewaffneter Konflikt herrsche und von dort aus Angriffe auf amerikanische Streitkräfte in Afghanistan ausgingen. In einem solchen Fall gestattet das humanitäre Völkerrecht Angriffe auf militärische Ziele und bewaffnete Kombattanten, vorausgesetzt, dadurch entstandene Begleitschäden wie Tötung und Verletzung von Zivilisten fielen, verglichen mit dem militärischen Nutzen, nicht unverhältnismäßig aus. Das Gegenbeispiel dazu wäre der Kundus-Vorfall 2009 in Afghanistan, als rund 200 Zivilisten bei einem NATO-Luftangriff auf zwei von den Taliban gestohlene Tanklastwagen ums Leben kamen.

Was bei den Drohnenangriffen die legitimen militärischen Ziele sind, ist häufig unklar. Dieser Umstand läßt sich darauf zurückführen, daß quasi alle Informationen aus der Konfliktzone von den westlichen Geheimdiensten filtriert und damit verfälscht werden. Alle Informationen, die man aus den USA über das Geschehen in Nordwasiristan erhält, sind nicht besonders gehaltvoll, geschweige denn aufschlußreich. Daher sieht das ECCHR dem Ergebnis der Ermittlungen der Bundesanwaltschaft bezüglich der Tötung der mutmaßlichen deutschen Al-Kaida-Mitglieder im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet mit Spannung entgegen, so Kaleck. Ganz anders bewertete dieser die CIA-Drohnenangriffe im Jemen, weil dort seiner Meinung nach kein internationaler bewaffneter Konflikt stattfindet. Laut Kaleck gibt es in Deutschland keinen namhaften Staatsrechtler, der die CIA-Drohnenangriffe im Jemen rechtfertigt, und zwar deshalb, weil das Land nicht als Kriegsschauplatz betrachtet werden kann. An dieser Stelle bemängelte Kaleck unter Verweis auf den eigenen Auftritt im Februar vor dem Menschenrechtsausschuß des Bundestags in Berlin die eindeutige Distanzierung der deutschen Politik am Vorgehen der Amerikaner im Jemen.

Auf der einen Seite hat man laufende Ermittlungen um konkrete Tatvorgänge und auf der anderen herrscht ein laufender Disput darüber, was im Krieg erlaubt ist und was nicht, wobei sich die Grenzen des Zulässigen dauernd verschieben. Die Amerikaner versuchen, ihre Auffassung nicht nur de facto, sondern auch juristisch als die neue Normalität durchzusetzen. Daher wünscht sich Kaleck von der politischen Führung in Deutschland und den anderen europäischen Staaten, daß sie dagegen eindeutig Stellung beziehen, um die bedenkliche Entwicklung im Kriegs- und Völkerrecht in ihr Gegenteil zu verkehren. Er kritisierte sie dafür, zu sehr Rücksicht auf die geheimdienstlichen Empfindungen der USA - Stichwort "nationale Sicherheit" - zu nehmen, was eine echte Diskussion im Sinne der Transparenz verhindert. Zu Recht trat er explizit für ein Verbot von bewaffneten Drohnen ein und warnte vor einer Situation, in der praktisch jeder Staat über solche Waffensysteme verfügt und sie nach Belieben einsetzt.

Murat Kurnaz erzählt von Guantánamo - Foto: © 2013 by Schattenblick

Leidvolle Erinnerungen
Foto: © 2013 by Schattenblick

Was "Fünf Jahre Leben" betrifft, erklärte sich Murat Kurnaz einerseits enttäuscht darüber, daß die deutschen Dienststellen in dem Streifen keinerlei Erwähnung fanden, war andererseits aber froh, daß der Film überhaupt gedreht und sein Fall damit wieder ins öffentliche Bewußtsein gebracht wurde. Als er nach Deutschland zurückkam, gab es Angebote aus Hollywood, sein Schicksal zu verfilmen. Das Geld war verlockend, zumal er damals keinen Job hatte. Doch die Amerikaner wollten Kurnaz in einem schlechteren Licht und die US-Verantwortlichen in einem besseren darstellen, als es der Fall gewesen ist, weshalb er sich gegen eine Mitwirkung an den Plänen entschieden hat, die sich bald darauf ohnehin zerschlugen. Später hat sich Regisseur Stefan Schaller gemeldet, der wie Kurnaz 1982 geboren wurde und von Anfang an die Geschichte verfolgt hatte, um sie zu verfilmen. Er hatte, als Kurnaz noch in Guantánamo war, Kontakt zu dessen Anwalt aufgenommen. Als Schaller vor zwei Jahren mit einem Vorschlag für einen Spielfilm gekommen ist, hat Kurnaz seinen Segen dazu gegeben, weil er den Eindruck hatte, es würde etwas Gutes dabei herauskommen. Tatsächlich ist er mit dem Film im großen und ganzen zufrieden, ausgenommen die Tatsache, daß die Rolle der Deutschen bei seinem Martyrium außen vor geblieben ist. Auf diesen Aspekt einzugehen, sei das einzige, was die Filmemacher hätten besser machen können, so Kurnaz.

Wolfgang Kaleck machte darauf aufmerksam, daß im Kinofilm die strafrechtliche Seite der Geschichte ausgespart wurde. Kurnaz ist verschleppt, gefoltert und fünf Jahre lang widerrechtlich inhaftiert worden. Das sind nach nationalem und internationalem Recht schwere Verbrechen. Aus politischen Gründen hat man auf die strafrechtliche Ahndung des an Kurnaz verübten Unrechts verzichtet. Keiner der Verantwortlichen, weder die Soldaten in Afghanistan und Guantánamo Bay noch diejenigen beim Militär und in der Politik, die in der Befehlskette weiter oben standen, ist jemals zur Rechenschaft gezogen worden. Kaleck fragte Kurnaz, wie er heute darüber denkt und ob er noch Forderungen in diesem Zusammenhang hat.

Kurnaz stellte fest, daß ihm fünf Jahre seines Lebens "gestohlen worden" sind. Diese werde er niemals zurückbekommen, und das wisse er auch, meinte aber dennoch, daß man ihm eine gewisse Wiedergutmachung hätte zukommen lassen können, indem man sich bei ihm entschuldigt. Darüber hinaus sähe er es schon gern, wenn die Verantwortlichen gerichtlich zur Verantwortung gezogen würden. "Sie sollten nicht einfach so davonkommen", meinte er. Auf die Frage Kalecks, ob er eine Bestrafung der Verantwortlichen wolle, erklärte Kurnaz, er gehe davon aus, daß es hierzu niemals kommen werde. Dennoch möchte er, daß die Angelegenheit juristisch aufgearbeitet wird, damit Politiker in Zukunft nicht einfach tun und lassen können, was sie wollen. Für ihn wäre das schon ein kleiner Erfolg, sagte er. Kaleck stimmte Kurnaz an der Stelle zu und erinnerte an den bereits erwähnten Fall der Beförderung eines berüchtigten Folterpolizisten in der Türkei als Negativbeispiel, was passiert, wenn ein Staat oder eine Gesellschaft schwere Menschenrechtsverbrechen nicht aufarbeitet.

Ein Journalist fragte Kurnaz, was er sich für die deutschen Politiker und Behördenvertreter wünsche, die dafür gesorgt haben, daß er 2002 nicht aus Guantánamo freikam und die ihm später sogar die Einreise nach Deutschland zu verweigern versucht hatten, weil er seine Aufenthaltserlaubnis nicht verlängert hatte und sie die illegale Zwangsinhaftierung als Entschuldigung bzw. Erklärung nicht anerkennen wollten. Rechtlich sieht sich Kurnaz in einer schwierigen Position. Er könnte anstrengen, gerichtlich gegen diese Personen vorzugehen, nur haben ihm seine Anwälte wegen mangelnder Erfolgsaussichten davon abgeraten. Zu erfahren, daß man nach dem Gesetz nichts errreichen kann, sei hart gewesen, so Kurnaz. Schließlich haben Vertreter des Bundesnachrichtendienstes ihn in Guantánamo tagelang vernommen und festgestellt, daß von ihm keine terroristische Gefahr ausgehe. Sie haben anschließend ihren Vorgesetzten mitgeteilt, daß er vollkommen unschuldig sei und zu Unrecht hinter Gittern sitze. Das haben die Politiker und die höheren Beamten, darunter der damalige Kanzleramtschef Frank-Walter Steinmeier, in dem Moment gewußt, als sie sich gegen Kurnaz' Freilassung entschieden und dies der deutschen Öffentlichkeit jahrelang verschwiegen haben. Sie haben auch die Tatsache des Besuchs der BND-Mitarbeiter in Guantánamo für sich behalten, weil das gegen deutsches Recht verstieß. Da es ein Foltercamp war, hätten die BND-Vertreter es gar nicht betreten, geschweige denn dort Vernehmungen durchführen dürfen.

Kaleck verwies auf den ECCHR-Bericht vor zwei Jahren, bei dem es um eine kritische Bewertung der Arbeit des Untersuchungsausschusses des Bundestages ging, der sich mit der Frage der Verwicklung deutscher Stellen - Politik in Berlin, BND auf Guantánamo und KSK im afghanischen Kandahar - befaßt hat. Daraus haben sich nach Meinung des ECCHR-Chefs ausreichende Verdachtsmomente für strafrechtliche Ermittlungen gegen deutsche Funktionsträger ergeben. Es wäre jedoch vor Gericht schwierig, ihre Schuld nachzuweisen, zumal der Untersuchungsausschuß an bestimmten Stellen aus gutem Grund nicht weiter nachgeforscht und sich Steinmeier bei seinem Auftritt nach anwältlicher Einschätzung Kalecks "geschickt verteidigt" hat. Aufgrund der mangelnden Erfolgsaussichten haben sich Kurnaz, sein Bremer Anwalt Bernard Docke und das ECCHR nach reiflicher Überlegung gegen eine Entschädigungsklage entschieden.

Kurnaz und Kaleck hören aufmerksam zu - Foto: © 2013 by Schattenblick

Erste Fragen von der Presse
Foto: © 2013 by Schattenblick

Außerdem wollte ein Journalist von Kurnaz wissen, ob sich nach seiner Freilassung überhaupt irgendein deutscher Behördenvertreter bei ihn gemeldet und ihm Unterstützung bei der Wiedereingliederung - auf dem Arbeitsmarkt, mit einer Therapie usw. - angeboten hat. Überhaupt nicht, erklärte Kurnaz, das Gegenteil sei der Fall. Die zuständigen Stellen haben ihm das Leben nach der Rückkehr nach Deutschland, zum Beispiel bei der Arbeitssuche, so schwierig wie möglich gemacht, indem sie wider besseren Wissens in der Öffentlichkeit weiterhin an der Legende von ihm als "Bremer Taliban" festhielten. Auch die spätere Verteidigungslinie von Steinmeier, man hätte Kurnaz 2002 nicht nach Hause geholt, weil man sich angeblich nicht sicher gewesen sei, ob von ihm nicht doch eine Bedrohung ausgehe, bereitet ihm bis heute Probleme. Sich selbständig zu machen und überhaupt der Umgang mit anderen Menschen fiele ihm schwer, weil viele Leute in ihm den potentiellen Terroristen sehen bzw. zu sehen meinen. Auf die Frage nach seinen aktuellen Arbeitsverhältnissen ging Kurnaz nicht ausführlich ein, sondern erklärte lediglich, er habe derzeit keine feste Einstellung und schlage sich mit Gelegenheitsjobs durch.

Als erneut die Frage gestellt wurde, wer außer Steinmeier Schuld auf sich geladen habe, erinnerte Kaleck die Anwesenden daran, daß derzeit in Deutschland ein Bundestagswahlkampf stattfindet. Die Hauptverantwortlichen sitzen in den USA; sie hätten sich das Folter- und Verschleppungsprogramm ausgedacht und es umgesetzt. Um die Lage der damaligen rot-grünen Regierung von Gerhard Schröder und Joschka Fischer besser zu verstehen, erzählte Kaleck von einer Diskussion, an der er letztes Jahr neben Vertretern der früheren Regierung Dänemarks teilgenommen hat. Bei der Gelegenheit berichteten sie, wie sie nach den Flugzeuganschlägen vom 11. September 2001 den USA die volle Solidarität Kopenhagens versicherten und dadurch in eine Situation - zum Beispiel die Gewährung von Landungs- und Überflugsrechten an verdächtige CIA-Chartermaschinen - gerieten, die sie vorher nicht für möglich gehalten hätten. Ähnlich ist es damals der Führung der Bundesrepublik ergangen, so Kaleck.

Er gestand der Führung in Berlin zu, nicht vollständig gewußt zu haben, worauf sie sich damals beim "Antiterrorkrieg" einließ. Im Gegensatz dazu war er sich nach einem halben Leben der Auseinandersetzung mit dem Thema darüber vollkommen im klaren. Wer Ende 2001 die Bilder und Berichte von der brutalen Verhaftung des schwerverletzten John Walker Lindh, des "amerikanischen Taliban", in Afghanistan und dessen anschließende Inhaftierung auf einem US-Kriegsschiff im Indischen Ozean mitbekommen habe, hätte sich denken können, wie mit den ausländischen "Terrorgefangenen" umgesprungen werden würde. Als dann im Januar 2002 die ersten Bilder von Guantánamo samt Insassen veröffentlicht wurden, bekam auch die große Öffentlichkeit einen Einblick in das neue Unrechtsregime, zumal spätestens dann die verschiedenen Menschenrechtsorganisationen wie die American Civil Liberties Union und das CCR in den USA Alarm schlugen. Ab Mitte 2002 hätten in Berlin die Regierungsvertreter wie Ministerialbeamten gleichermaßen wissen müssen, was in Guantánamo, Kandahar und an anderen Orten mit den "Terrorgefangenen" geschah. Ihnen das nachzuweisen, ist jedoch unheimlich schwierig.

Die Anwendung von Folter sei für die USA nichts Neues, so Kaleck. Man brauche sich nur mit der Geschichte der vom Pentagon maßgeblich unterstützten Bekämpfung der Linken in Lateinamerika durch Washington-hörige Militärs seit dem Zweiten Weltkrieg zu befassen. Die Schreckensherrschaft der Diktaturen und rechtsgerichteten Milizen in Ländern wie Argentinien, Brasilien, Chile, El Salvador, Guatemala und Kolumbien, um nur einige zu nennen, sind gut dokumentiert und hinlänglich bekannt. Die in Guantánamo und anderswo eingesetzten Terrormethoden waren bereits im Rahmen der Operation Condor von südamerikanischen Offizieren, die speziell hierfür an der berüchtigten School of the Americas des Pentagons in Panama ausgebildet wurden, angewandt worden. Neu jedoch an der Nach-9/11-Situation war, daß ranghohe Vertreter der US-Regierung, allen voran Vizepräsident Dick Cheney, den Rückgriff auf solche Maßnahmen rechtfertigten und offen dazu standen. Spätestens, als die BND-Mitarbeiter aus Guantánamo zurückkamen und ihren Vorgesetzten von ihren Erlebnissen dort berichteten, dürften die Verantwortlichen in Berlin gewußt haben, welche Verbrechen dort begangen wurden.

Gerade aus seiner Verantwortlichkeit in Bezug auf Kurnaz hat sich Steinmeier beim späteren Untersuchungsausschuß des Bundestages herausgeredet. Dies geht aus den parlamentarischen Protokollen ganz klar hervor, meinte Kaleck. Bei der entscheidenden Besprechung über die Erkenntnisse der beiden vom Besuch bei Kurnaz in Guantánamo zurückgekehrten BND-Beamten will er nicht anwesend gewesen, sondern von einem Untergebenen vertreten worden sein. Dadurch will er von der Einschätzung der beiden BND-Mitarbeiter bezüglich der Harmlosigkeit von Kurnaz nichts erfahren, sondern statt dessen von den Chefs von BND und Verfassungsschutz den gegenteiligen Eindruck bekommen haben. Die Legende von der potentiellen, von Kurnaz für die Bundesrepublik ausgehenden Bedrohung entstammt angeblich einer Einschätzung des Bremer Verfassungsschutzes. Zum Eklat beim Untersuchungsausschuß kam es, als gerade die Bremer Unterlagen über diesen vermeintlichen Sachverhalt als nicht auffindbar bzw. verschwunden gemeldet wurden. Murat Kurnaz hakte an dieser Stelle mit dem Hinweis ein, wonach aus den Akten hervorgeht, daß Steinmeier zum fraglichen Zeitpunkt mit anderen Behördenvertretern die Frage erörterte, wie man ihm, Kurnaz, bei einer Entlassung aus Guantánamo die Einreise nach Deutschland verweigern könnte - etwa durch eine Aberkennung der Aufenthaltserlaubnis.

Kaleck, der selbst früher als Strafverteidiger gearbeitet hat, meinte, in solchen Situationen gäbe es zwei Verteidigungsstrategien. Die eine lautet Schweigen. Die andere läuft darauf hinaus, daß man versucht, einen Weg zu finden, damit am Ende keiner der Beteiligten strafrechtlich belangt werden kann. Als dieser Themenkomplex beim Untersuchungsausschuß behandelt wurde, drängte sich bei Kaleck der Verdacht auf, daß sich im Fall Kurnaz die Verantwortlichen in Berlin für die zweite Variante entschieden hätten. Er sprach von einer "wasserdichten" Version der Ereignisse: Wenn man sie einmal "ausgedacht hat, dann hat man sie gut ausgedacht".

Auf die Frage, ob man die Verantwortlichen in Deutschland nicht strafrechtlich zum Beispiel wegen unterlassener Hilfeleistung belangen könnte, meinte Kaleck, man hätte vor Gericht große Schwierigkeiten, hierfür den endgültigen Beweis zu erbringen. Inzwischen bestreitet niemand, daß es ein Angebot der Amerikaner, Kurnaz freizulassen, gab. Problematischer sei es jedoch, festzustellen, wann und in welchem Zusammenhang dies passiert ist. Wer genau auf amerikanischer Seite hat das Angebot unterbreitet und gegenüber wem auf deutscher Seite? Erfolgte es nur mündlich oder auch schriftlich? Hier herrscht bis heute Unklarheit. Angesichts der diversen Behauptungen und Gegenbehauptungen darf man nicht vergessen, so Kaleck, daß damals im Herbst 2002 die Administration von US-Präsident George W. Bush großes Interesse daran hatte, die rot-grüne Regierung um Schröder und Fischer wegen ihrer demonstrativen Verweigerungshaltung in der Frage des bevorstehenden Krieges gegen den Irak anzuschwärzen bzw. Gerüchte über sie in die Welt zu setzen. Außer Frage steht, daß die Geschichte mit der versuchten Streichung der Aufenthaltserlaubnis "skandalös" ist, doch nach derzeitigem Kenntnisstand kann man dazu momentan wegen des nicht ausreichenden Bestands an gesicherten Informationen weder straf- noch zivilrechtlich etwas erreichen, stellte Kaleck leider fest.

Jemand aus dem Publikum erinnerte daran, daß, als Kurnaz 2006 nach Bremen heimkehrte, der damalige Bundesinnenminister Otto Schily in der Öffentlichkeit so getan habe, als hätte man es bei ihm immer noch mit einem bösen Taliban-Mitglied oder Al-Kaida-"Schläfer" zu tun, den Polizei und Geheimdienst im Auge behalten müssen, und daß Steinmeier 2007 vor dem Untersuchungsausschuß des Bundestages die Entscheidung, Kurnaz aus Guantánamo nicht herauszuholen, mit der Behauptung zu rechtfertigen versuchte, man durfte das Risiko nicht eingehen, daß er nach Deutschland zurückkommt und terroristisch irgend etwas Schlimmes anstellt. Daraus ergebe sich die Frage, ob Schily und Steinmeier damit Kurnaz nicht mutwillig verleumdet bzw. diffamiert hätten und dafür belangt werden könnten. Dazu meinte Kaleck, auch hier wäre es schwer, eine gerichtliche Verurteilung zu erwirken. Was man aber auf jeden Fall sagen kann, erklärte Kaleck mit einer unüberhörbaren Prise Ironie, ist, daß zwei der wichtigsten deutschen Politiker der jüngsten Epoche durch ihr schäbiges Verhalten gegenüber einem unschuldigen Folteropfer "wahre menschliche Größe" gezeigt hätten.

Der Schattenblick fragte nach der Rolle des damaligen Bundesministers für Äußeres, denn während sich alle auf Steinmeier einschießen, heißt es in den Medien, im Gegensatz zum ehemaligen Kanzleramtsberater hätte sich Joschka Fischer bei den Amerikanern für die Freilassung von Kurnaz eingesetzt und sogar entsprechende Briefe an seine Mutter geschrieben - ob das der Wahrheit entspreche oder nur Legende sei? Bei Kurnaz löste die Frage ein Schmunzeln aus. Den Brief hätte Fischer nur geschrieben, nachdem Kurnaz' Bremer Anwalt Bernard Docke ihn praktisch dazu gezwungen hat, sagte er. In der ganzen Angelegenheit sei der einstige Grünen-Chef "eher negativ aufgefallen", so Kurnaz - eine Feststellung, der auch Kaleck zustimmte.

Kurnaz geht auf eine Frage ein - Foto: © 2013 by Schattenblick

Kurnaz gibt freimütig Auskunft
Foto: © 2013 by Schattenblick

An Kurnaz wurde von einer Journalistin die Frage gerichtet, ob es ihm etwas ausgemacht hätte, wenn er deutscher Staatsbürger gewesen wäre, ob er die deutsche Staatsbürgerschaft inzwischen angenommen hätte oder wegen der schlechten Behandlung der letzten Jahre behördlicherseits einem solchen Schritt ablehnend gegenüberstünde? Kurnaz meinte, es hätte schon einen großen Unterschied gemacht, als er festgenommen und nach Guantánamo überführt wurde. Als Bürger der Bundesrepublik Deutschland wäre das Außenministerium in Berlin dazu verpflichtet gewesen, ihm zu helfen. Bis heute hat er die deutsche Staatsbürgerschaft nicht angenommen, doch hänge das nicht mit irgendwelchen Ressentiments zusammen, sondern er scheue einfach den burökratischen Aufwand. Bisher habe er sie bei keiner seiner Reisen ins Ausland gebraucht, werde sie aber irgendwann einmal beantragen.

Ein anderer Pressevertreter wollte von Kurnaz wissen, ob er eine Klage gegen den türkischen Staat angestrengt hätte. Darauf antwortete Kurnaz, er habe das nicht einmal in Erwägung gezogen, denn ihm sei klar, daß es nichts brächte. Er berichtete, auch Vertreter des türkischen Geheimdienstes hätten ihn 2002 in Guantánamo vernommen und seien zu dem Schluß gekommen, daß er ein deutscher Spion und daher für sie uninteressant sei. Zu dieser Einschätzung sind sie offenbar gelangt, weil Kurnaz zwei Freunde bei der Polizei in Bremen - normale Streifenpolizisten, wohlgemerkt - hatte. Folglich wurden die wenigen türkischen Guantánamo-Häftlinge von ihrer Regierung nach Hause geholt, während Kurnaz - aus Sicht Ankaras ein deutsches Problem - weiterhin hinter Gittern blieb.

Kaleck meinte, es sei eine Frage des politischen Willens, die hier zur Diskussion stehenden Sachverhalte vollends aufzuklären. Jenen Willen hätte es beim Untersuchungsausschuß des Bundestages in Ansätzen gegeben, nach dem Abschluß der Arbeit des Gremiums jedoch nicht mehr. Nach Ansicht Kalecks endete der Untersuchungsausschuß mit einem "bizarren Szenario", denn bis zum Schluß waren den Parlamentariern wichtige Unterlagen von den zuständigen Regierungsbehörden vorenthalten worden. Bei der Klage einiger Bundestagsabgeordneten gegen die umstrittene Praxis bekamen die Beschwerdeführer vom Bundesverwaltungsgericht Recht. Doch gab es keine Möglichkeit, die eingeforderten Unterlagen auszuwerten, denn der Untersuchungsausschuß existierte zu diesem Zeitpunkt nicht mehr. Er hätte bei der nächsten Legislaturperiode wieder ins Leben gerufen werden müssen, wovon aber die Fraktionen im Bundestag - aus welchen Gründen auch immer - absahen. Dennoch besteht laut Kaleck durchaus Hoffnung, das Thema irgendwann wieder juristisch aufzugreifen, denn aus den USA kommen bei Prozessen oder seitens irgendwelcher Whistleblower immer wieder neue Erkenntnisse auf, die Anlaß dazu bieten.

Auf die Frage, was er sich von der Teilnahme am Ermittlungsverfahren in Spanien erhoffe, erklärte Kurnaz, es handele sich hier quasi um einen Präzedenzfall auf europäischem Boden wegen Folter in Guantánamo; als ehemaliger Inhaftierter des Lagers fühle er sich praktisch dazu verpflichtet, die Klage der Geschädigten so weit wie möglich zu unterstützen. Hierzu gehörte unter anderem ein Auftritt vor dem Gericht in Spanien samt Befragung durch den zuständigen Ermittlungsrichter. Kurnaz kennt viele derjenigen, die immer noch in Guantánamo festgehalten werden, und fühlte sich in der Pflicht, etwas für ihre Freilassung zu tun.

Doch es geht nicht nur um Guantánamo. Kurnaz behauptete in diesem Zusammenhang, aufgrund seiner Zusammenarbeit mit verschiedenen Menschenrechtsorganisationen, darunter Amnesty International, zu wissen, daß die CIA und die US-Spezialstreitkräfte in entlegenen Teilen der Welt, zum Beispiel in Afrika, circa 23 "black sites" unterhalten, wohin sie mutmaßliche muslimische "Terroristen" verschleppen, foltern und häufig auch umbringen. Im Vergleich zu den Insassen in jenen grauenhaften Geheimgefängnissen geht es den Inhaftierten in Guantánamo noch gut. Ihr Aufenthaltsort ist immerhin bekannt - sie sind nicht einfach "verschwunden" - und es kümmern sich Anwälte und Menschenrechtsorganisationen um ihr Schicksal, auch wenn sie nur bedingt etwas ausrichten können. Kurnaz erklärte, er kämpfe dafür, daß nicht nur Guantánamo, sondern auch die noch existierenden "black sites" geschlossen werden. Was den laufenden Hungerstreik in Guantánamo Bay betrifft, so erklärte Kurnaz, mehr als 100 der 166 Gefangenen nehmen daran teil. Von den Noch-Guantánamo-Häftlingen kenne er etwa 50 Prozent persönlich.

Ein Teilnehmer der Diskussion wollte vom Ex-Guantánamo-Häftling wissen, wie der Umgang der Gefangenen untereinander gewesen ist. Kurnaz sagte, die ersten Jahre seien schwierig gewesen. Die Leute kannten sich nicht. Man scheute sich davor, den anderen allzu direkte Fragen zu stellen, um sich nicht der Gefahr auszusetzen, für einen Spion gehalten zu werden. Sprachlich gab es große Verständigungsproblemen. Mit vielen Gefangenen, die nur Farsi oder Paschto sprachen, konnte sich Kurnaz am Anfang nicht unterhalten. Die Sprachwelten lagen zu weit auseinander. Es drängte ihn natürlich, all die Sachen, die er in Guantánamo erlebt hat, mit jemanden zu besprechen. Aber mit vielen Gefangenen konnte man ohnehin nicht richtig sprechen, denn sie waren bereits psychisch gestört. Die Gefängnisleitung hat genau gewußt, wer welche Sprache sprach und hat die Leute so in Zellen bzw. Käfigen aufgeteilt, daß sie in ihrer unmittelbarer Nähe möglichst niemanden hatten, der ihre Muttersprache beherrschte, um so die Kommunikation unter den Insassen zu erschweren. Daher hat sich Kurnaz Englisch, Arabisch und ein paar Brocken Farsi angeeignet, was bedeutete, daß er sich in den letzten zwei, drei Jahren seiner Gefangengschaft gut mit den meisten anderen Häftlingen unterhalten konnte.

Der Schattenblick verwies auf die von Kaleck kritisierte, fehlende Aufarbeitung von schweren Menschenrechtsverletzungen während der Militärdiktatur in der Türkei, was zur Folge hatte, daß heute dort ein bekannter Folterscherge ein hohes Amt im Sicherheitsapparat bekleidet, und fragte den ECCHR-Chef, ob es nicht eine Parallele dazu in der Bundesrepublik gibt; schließlich sei der 2012 zum Präsidenten des Verfassungsschutzes berufende Hans-Georg Maaßen derjenige gewesen, der 2002 als Referatsleiter für Ausländerrecht im Berliner Innenministerium entschieden hatte, Kurnaz die unbefristete Aufenthaltserlaubnis zu entziehen, da er mehr als sechs Monate außer Landes gewesen sei und sich nicht bei den zuständigen Behörden gemeldet habe (2005 wurde jene Entscheidung vom Bremer Verwaltungsgericht, weil rechtswidrig, aufgehoben).

Kaleck warnte vor einem vorschnellen Vergleich. Immerhin sei der Vorstoß Maaßens im Rahmen des Untersuchungsausschusses thematisiert und von mehreren Politikern und Kommentatoren heftig kritisiert worden. Nichtsdestotrotz meinte Kaleck, daß die Entscheidung, jemanden zum Verfassungsschutzchef der Bundesrepublik zu machen, der die Rechtsauffassung vertritt, man dürfte einem türkischen Mitbürger, der quasi sein ganzes Leben in Deutschland verbracht habe, die unbefristete Aufenthaltserlaubnis und somit den Schutz der europäischen Union entziehen, auf daß er dann der Willkür der Amerikaner in Guantánamo vollends ausgesetzt werde, schon "skandalös" sei. Aber man könne den früheren Ministerialbeamten Maaßen nicht dafür allein verantwortlich machen; wie bereits angesprochen, bei den damaligen Beratungen an der Regierungsspitze hätten die Vorgesetzten Schilly und Steinmeier den Ton vorgegeben.

Kaleck zeigte sich enttäuscht darüber, daß die Politiker in Deutschland, die für den Verbleib Kurnaz' in Guantánamo Bay verantwortlich waren, fünf Jahre später vor dem Untersuchungsausschuß keine Einsicht in ihr Fehlverhalten zeigten, sondern bis zum Schluß die Entscheidung als richtig verteidigten. Er sagte, sie hätten wie die Kollegen in Dänemark die Karten auf den Tisch legen und einräumen können, nach den Flugzeuganschlägen vom 11. September beim Versuch, dem Bündnispartner USA im Antiterrorkampf behilflich zu sein, das Augenmaß verloren zu haben und in einigen Fällen über das Ziel hinausgeschossen zu sein. Daneben hätten sie sich bei den Betroffenen entschuldigen und sich um eine angemessene Wiedergutmachung kümmern können. Auf eine solche menschliche Erwiderung im Sinne des Bedauerns seitens der Regierung warte man in Deutschland bis heute, stellte Kaleck zwar resümierend, aber auch trotzig fest. Den juristischen Kampf haben er und Murat Kurnaz offenbar noch lange nicht aufgegeben.

ECCHR-Plakat mit dem Titel 'Enforcing Human Rights Law by New Means' - Foto: © 2013 by Schattenblick

Das ECCHR - im Kampf um die Einhaltung der Menschenrechte
Foto: © 2013 by Schattenblick

19. Juli 2013