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BERICHT/197: Kurdischer Aufbruch - in demokratischer Urtradition ... (SB)


Staat und Repression durch demokratischem Konföderalismus aufheben

Die kapitalistische Moderne herausfordern II - Konferenz an der Universität Hamburg, 3. bis 5. April 2015


Es hat den Anschein, als seien die Kurden im Augenblick die einzigen, die die Türkei zusammenhalten und der Gesellschaft eine Entwicklungsperspektive und Zukunft geben, was um so nötiger ist, als das Land unter dem antidemokratischen Kurs Erdogans schweren Zeiten entgegenblickt. Der Wahlerfolg der Demokratischen Partei der Völker (HDP), die die 10-Prozent-Hürde trotz massiver Verleumdungskampagnen genommen hat, verhinderte jedenfalls, daß die AKP mit einer Zweidrittelmehrheit jede progressive Gegenkraft im Land erstickt hätte. Insofern wird Erdogans Vorhaben, ein Präsidialsystem in der Türkei einzuführen, nicht mehr ohne weiteres zu realisieren sein. Die AKP ist zwar weiterhin die stärkste Fraktion im türkischen Parlament, muß sich jetzt jedoch einen Juniorpartner für eine Regierungsfähigkeit suchen. Die HDP hat ihr Hauptziel, erstmals seit langem wieder eine echte Oppositionskraft im Parlament zu etablieren, umgesetzt und Erdogan aus seinen neoosmanischen Träumen gerissen.


Auf dem Podium - Foto: © 2015 by Schattenblick

Selma Irmak
Foto: © 2015 by Schattenblick

Dazu tragen auch Politikerinnen wie Selma Irmak bei. Als Gründungsmitglied der DTP wurde sie im Rahmen der Operationen des türkischen Staates gegen den KCK (Koma Civakên Kurdistan - Union der Gemeinschaften Kurdistans) verhaftet und ist heute Co-Vorsitzende des Demokratischen Gesellschaftskongresses (DTK). Obwohl sie 2011 ins Parlament gewählt wurde, hielt man sie bis 2014 in Haft. Nach ihrer Entlassung trat sie der Fraktion der HDP bei. Auf der Konferenz "Die Kapitalistische Moderne herausfordern II" hielt sie einen Vortrag unter dem Titel "Bakur: Vom Staat zur Demokratie". Darin stellte Irmak in Grundrissen die Ziele und das Programm des zwar prokurdischen, doch keineswegs allein auf die Kurden in der Türkei beschränkten DTK vor. Als Sammelbecken säkularer, sozialemanzipatorischer und radikalökologischer Bewegungen verfolgt die HDP kein geringeres Ziel, als den Traum von einer anderen, repressionsfreien Türkei Wirklichkeit werden zu lassen, in der ethnische Minderheiten nicht mehr vom Staatsapparat drangsaliert und ihrer kulturellen Identität beraubt werden, eine abweichende sexuelle Orientierung weder Ausgrenzung noch Sanktionen nach sich zieht, die ökologische Frage nicht ökonomischen Forderungen weichen muß und die Armut der Bevölkerung nicht zur lukrativen Investitionsquelle des nach Verwertungsmöglichkeiten suchenden transnationalen Kapitals wird.

Zu Beginn ihrer Rede protestierte sie mit Vehemenz gegen die Hinrichtung von Revolutionären im Iran und gedachte der Märtyrer, die ihr Leben ließen für eine Welt mit menschlichem Antlitz und gegen Unterdrückung und institutionelle Bevormundung. Der Weg vom Staat zur Demokratie sei das Leitmotiv des Modells in Nordkurdistan, wie es vom Demokratischen Gesellschaftskongress verfolgt wird. Die Idee des demokratischen Konföderalismus baut darauf auf, daß ein Leben mit weniger Staat durchaus möglich ist, wenn Menschen die Geschicke in die eigenen Hände nehmen und statt der Konkurrenz, die zur Atomisierung und wachsenden Unmündigkeit führt, Strukturen der Solidarität und wirtschaftlicher Kooperation den Vorrang geben. Ausgehend davon, daß die Demokratie älter sei als der Staat und Menschen lange vor der Gründung von Nationalstaaten Formen des Miteinanders geschaffen hätten, in denen die Macht nie in den Händen einzelner gegen die Interessen der anderen gelegen habe, ging sie auf die ideologischen Grundlagen der Nationalstaaten ein.

Staaten hätten sich vor etwa 5000 Jahren gebildet. Parallel dazu entwickelte sich die Geschichte des Patriarchats, die wiederum auf der Ausbeutung von Frauen aufgebaut sei. Identitäres Merkmal aller staatlichen Systeme sei der Militarismus und damit die Umformung der Menschlichkeit zur Achse einer räuberischen Aggression. Im selben Zuge, als Konflikte um Ressourcen und Märkte den Ausbruch von Kriegen zwischen den Staaten provozierten, wendete sich die Regierungsgewalt auch gegen die eigenen Gesellschaften. Der Staat eignete sich die Arbeit der Menschen an und machte ihre Produkte zur Ware, um sie durch Handel und Export anderswo zu verkaufen. Der gesellschaftliche Reichtum würde so dem Volk gestohlen, um die Herrschaft der politischen Eliten, Großgrundbesitzer und Kapitaleigner zu festigen.

Irmak leugnet nicht, daß die Existenz des Staates möglicherweise zu einer bestimmten Zeit notwendig gewesen sei, um Bedürfnisse und Notlagen unter den Menschen zu organisieren. Das rechtfertigende Motiv für Machtstrukturen habe sich jedoch verselbständigt und in Staatsideologien verhärtet. Daher müsse der Staat als Inbegriff einer gegen den Menschen gerichteten Administration überwunden werden, um jene Stärke zurückzugewinnen, die seit jeher das Grundmotiv menschlicher Zusammenkünfte bildete. Der Staat habe aus Völkern Nationen gemacht, um sie mit einer fremdverfügten Identität gegeneinander ausspielen zu können. Dagegen habe es in der Geschichte eine kontinuierliche Linie des Widerstands gegeben. Dieser revolutionäre Strang sei nie zerrissen. Bestes Beleg dafür ist die Revolution in Rojava, die sich gegen ein hegemoniales System der ethnischen Aufspaltung richtete.

Aus Sicht der Referentin haben feministische, ökologische und marxistische Bewegungen im Kern stets die Staatlichkeit hinterfragt und ihr das Existenzrecht abgesprochen. Allerdings hätten sie es versäumt, nach der Zerschlagung des Staates etwas Neues aufzubauen. Der Staatssozialismus müsse in diesem Sinne als Kompromiß gegenüber einer grundlegenden Staatskritik gewertet werden. Alle bisherigen Kämpfe und Theorien stellten unstrittig ein wertvolles Erbe dar, weil sie die Frage nach einer Alternative zum Staat aufgeworfen hätten. Vor dem Hintergrund des Scheiterns im Kernanliegen revolutionärer Freiheitsbestrebungen sei eine Neuinterpretation zur Überwindung des Staates daher dringend erforderlich.

Die Auseinandersetzung ließe sich auf einen simplen Nenner bringen: Alles Nichtstaatliche ist demokratisch, weil es die Menschen dazu bringt, sich eigenverantwortlich zu organisieren. Auf einer kommunalen Ebene sei dies sogar als Parallelsystem zum Staat zu realisieren, bis Rätestrukturen von Region zu Region und über alle Grenzen hinaus den staatlichen Überbau überflüssig machten. Das Konzept, demzufolge jede Nation ihren Staat habe, sei keine Lösung für die Dringlichkeit der Probleme. So würden die in einem Staatsgebiet lebenden Völkern unterschiedlich behandelt, ob aus Gründen eines ethnischen Rassismus oder weil die Staatsdoktrin eine bestimmte Sprache und Kultur präferiert. Immer wird die Unteilbarkeit der Menschen angegriffen, ist mit dieser doch kein Staat zu machen.

Ohne diese Institution gehe es nicht, so das Ammenmärchen der Staatstheoretiker, die darüber hinwegzutäuschen versuchten, daß die Demokratie bereits vor 15.000 Jahren entwickelt wurde. Seinerzeit hätten die Völker vornehmlich in Freiheit und Frieden neben- und miteinander gelebt, ohne auf einen Herrscher und Adelsgeschlechter angewiesen zu sein. 10.000 Jahre lang hätten die Menschen Formen des Umgangs entwickelt, die weder Hierarchien noch übergeordnete Interessen kannten und in denen Frauen und Männer, jung und alt, unabhängig von Religion, Herkunft und Besitzstand in kollektivistischen Strukturen gleichgestellt gewesen seien.

Die Referentin verglich das gesellschaftliche Modell des DTK mit einem Granatapfel, dessen Kerne zwar asymmetrisch angeordnet sind und in dem jeder Kern seine eigene Ausprägung und Form aufweist, doch zusammen bilden sie erst den Granatapfel, ohne daß ein Teil gegenüber dem anderen Vorrang beanspruchen könne. Der Referentin war es wichtig hervorzuheben, daß der DTK auch die Gesellschaft der anderen im Notfall verteidigen würde, weil Spaltung jedweder Art immer zu Lasten der Freiheit gehe und das Konzept der Herrschaftslosigkeit perforierte. Ihr zufolge stellt die Schale des Granatapfels das übergreifende Prinzip der Demokratie dar.


Selma Irmak auf dem Podium - Foto: © 2015 by Schattenblick

DTP, DTK, HDP - als Frau und Politikerin an allen Fronten
Foto: © 2015 by Schattenblick

Der DTK hat über 5000 Mitglieder, es gibt Quoten für die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen, für Diskriminierte, abweichende Identitäten und alle Kulturen in Nordkurdistan. Die im Rat der 501 und in den Kommissionen für gesellschaftliches Zusammenleben verfaßten Beschlüsse werden an den Gesamtrat weitergeleitet, wo sie in allen Einzelheiten erörtert und entsprechend umgesetzt werden. Dies verhindert, daß die Gesellschaft zur Beute einer Partei wird, zumal die Räte in Regionen und Dörfern ihre Delegierten in den Rat der 501 entsenden und damit die Teilhabe gesichert ist. Auf diese Weise ist ein Diktat von oben ebenso ausgeschlossen wie das im Politbetrieb nicht unübliche Durchregieren eines Ministers innerhalb seines Ressorts. Auch sind im DTK Frauen auf allen Ebenen vertreten.

Die historische Notwendigkeit, eine Alternative zum Staat aufzubauen, zeige sich auch daran, daß der 1923 gegründete türkische Nationalstaat den Kurden zwar eine Autonomie versprochen, dies aber nie eingelöst habe. Der DTK versteht sich nicht explizit als Stimme des kurdischen Volkes, sondern als Gremium mit dem Ziel einer Demokratisierung der gesamten Türkei. Denkbar wäre eine demokratische Reform durch das Einrichten von 25 autonomen Gebieten, was zur Schwächung des Zentralismus führen würde. So hätten Lasen, Tscherkessen, Armenier, Kurden sowie alle anderen Volksgruppen die Möglichkeit, an der Gestaltung der Gesellschaft mitzuwirken und müßten sich nicht dem Regierungssitz in Ankara beugen. Irmak hob hervor, daß der DTK keineswegs eine alleinige Autonomie für Kurdistan verfolge, vielmehr gehe es um eine Zusammenarbeit zwischen den Regionen, Religionen und verschiedenen Völkern. Das Projekt des demokratischen Konföderalismus habe auch eine Perspektive für den Mittleren Osten. Mit diesen Prinzipien ließe sich sogar eine andere Welt aufbauen.

Die tiefe Wunde, die der Nationalismus am Körper des Menschengeschlechts gerissen hat, müsse auskuriert werden, damit er nie wieder als Mittel der Kriegführung mißbraucht werden kann. Nationalistische Ideologien implizierten immer Konkurrenz und Feindschaft und stellten einen Krieg gegen die Gesellschaft dar, was im Extremfall zum Genozid ganzer Volksgruppen geführt habe. Durch die Gesellschaft gehe jedoch auch ein geschlechterspezifischer Riß. Nach der Philosophie Öcalans sind die Freiheit der Gesellschaft und die Freiheit der Frau aufs engste miteinander verknüpft. Patriarchale Traditionen aufzubrechen, wie sie durchaus auch in der kurdische Gesellschaft verinnerlicht sind und in der Frauen als Menschen zweiter Klasse betrachtet werden, ist ein vorrangiges Ziel im DTK. Um so hoffnungsvoller stimme die Revolution in Rojava, die wie ein Sonnenstrahl in die Herzen aller Menschen auf der Welt eingegangen sei. In der Tradition der Frauenkämpfe sei Rojava der höchste Punkt, der bisher je erreicht wurde. In jedem Stadtteil, in jeder Straße gäbe es eine Frauenrevolution.

Frauen, die früher nicht auf die Straßen gehen konnten, weder einen Mund noch eine Zunge hatten, mischen sich nun in die gesellschaftliche Gestaltung ein. Dies sei nicht selten ein Aufbegehren gegen ihren Vater, ihren Mann oder Bruder. Die Frauen in Rojava brechen die Riegel patriarchaler Bevormundung auf und geben der Revolution ihre Farben. So gesehen unterscheidet sich Rojava von allen anderen Revolutionen, weil tatsächlich eine neue Gesellschaft aufgebaut wird. Der Funke springt auch in andere Regionen der Welt über. Sie selbst sei heute Ko-Vorsitzende des Demokratischen Gesellschaftskongresses in Nordkurdistan. An diesen Punkt seien kurdische Frauen heute angekommen.

Doch Kurdistan ist noch immer verwundet. Seine Menschen haben keine Rechte, seine Sprache und Kultur sind verboten. Noch immer herrscht Krieg in diesem Teil der Welt. In Ostkurdistan müssen Eltern ihre Kinder begraben. Die Tragödie des Nationalismus geht weiter. Doch die Revolution in Rojava zeige einen Weg aus dem Dilemma, wie sich ein freies Leben und Demokratie aufbauen lassen. Die Referentin würdigte Abdullah Öcalan als denjenigen, der diese Hoffnung im Herzen trage und überall ausgesät habe, doch auf einer Insel gefangen ist. Daß in einer europäischen Stadt wie Hamburg über seine Ideen diskutiert wird, er selbst aber in Imrali festsitzt, sei eine nicht hinnehmbare Ungerechtigkeit. Deshalb müsse Öcalan freigelassen werden. Selma Irmak richtete ihren Aufruf an alle SozialistInnen, InternationalistInnen, AnarchistInnen, FeministInnen und alle Freunde und Freundinnen der Völker in Europa, um gegen das Verbot der PKK und anderer kurdischer Organisation ihre Stimme zu erheben. Mit Blick auf die Fragestellung der Konferenz erklärte sie: Sobald Menschen glauben, daß eine andere Welt möglich ist, wird die letzte Stunde für den Kapitalismus schlagen.


Beiträge zur Konferenz "Die kapitalistische Moderne herausfordern II" im Schattenblick unter
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16. Juni 2015


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