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BERICHT/206: Kurdischer Aufbruch - Widerstand, Gegenangriff, Revolution ... (2) (SB)


Der demokratische Konföderalismus als Heilsversprechen

Die kapitalistische Moderne herausfordern II - Konferenz an der Universität Hamburg, 3. bis 5. April 2015 [1]


Transparent mit der Schrift 'Eine Blume können sie ausreißen, aber den Frühling können sie nicht aufhalten. Gestern Rosa Luxemburg, heute Sakine Cansiz' - Foto: © 2015 by Schattenblick

Transparent im Eingangsbereich der Konferenz "Die kapitalistische Moderne herausfordern"
Foto: © 2015 by Schattenblick

Ein Aufbruchbewegung wie die kurdische, die auch ihrer zweiten internationalen Konferenz innerhalb weniger Jahre den programmatischen Titel "Die kapitalistische Moderne herausfordern" gab, nimmt Anleihen an kapitalismuskritischen Positionen, ohne sich explizit als marxistisch zu definieren. Dafür mag es Gründe geben, die in Marx' Kritik der politischen Ökonomie zu vermuten sein könnten, derzufolge die Herrschaft des Menschen über den Menschen durch den als unversöhnlich postulierten Interessengegensatz zwischen zwei Klassen, die sich an der Frage des Besitzes von Produktionsmitteln voneinander scheiden lassen, zu definieren sei, weshalb die kurdische und auch die Frauenfrage Nebenwidersprüche wären, aber auch in der Bereitschaft, am Prinzip des Nationalstaats - und sei es aus taktischen Gründen - festzuhalten.

In der Geschichte linker Gegenkulturen wie auch nationaler Befreiungsbewegungen ist das Verhältnis zur Staatlichkeit in ideologischer wie pragmatischer Hinsicht stets eine zu klärende Frage gewesen. Vielfach wurden Lösungskonzeptionen eines demokratischen Sozialismus bevorzugt, die auf parlamentarischen Wegen die Übernahme der Macht im Staate vorsahen, um dann einen Systemwechsel durchführen und die bisherige, auf die Aufrechterhaltung der kapitalistischen Verwertungsordnung gerichtete Politikgestaltung durch eine sozialistische ersetzen zu können. Ihnen stehen Analysen und Modellentwürfe gegenüber, die das Staatsprinzip generell verwerfen und einen föderativen Aufbau gesellschaftlicher Strukturen "ohne Staat" propagieren, wofür häufig der Begriff "basisdemokratisch" verwendet wird.

Wo es eine Basis gibt, muß es sprachlogisch auch einen Überbau geben. Einen demokratischen Aufbau von unten zu postulieren, ist nicht möglich, ohne auf das Kernprinzip gesellschaftlicher Herrschaft zurückzugreifen, kann es doch kein Unten ohne ein Oben geben. Der Demokratiebegriff wurde Ende des 16. Jahrhunderts aus dem griechischen Wort "demokratia" (Volksherrschaft) entlehnt und bedeutet laut etymologischem Wörterbuch eine "Regierungsform, bei der die Regierung den politischen Willen des Volkes repräsentiert". Als Volk wiederum wurden ursprünglich Leute, aber auch ein Heerhaufen oder eine Kriegerschar bezeichnet. Etymologisch wird die heutige Bedeutung einer "Gesamtheit der durch Sprache, Kultur und Geschichte verbundenen (und zu einem Staat vereinten) Menschen" in die Zeit humanistischer Aufklärung und des entstehenden Nationalbewußtseins rückdatiert.

Diese Anmerkungen mögen an dieser Stelle genügen, um die Problematik anzudeuten, die darin liegen könnte, das Dilemma der Staatlichkeit durch die Demokratie eines Volkes (ohne Staat) ersetzen zu wollen. Wozu und von wem kann überhaupt eine Gesamtheit durch Kriterien wie Sprache, Kultur oder Geschichte miteinander verbundener Menschen gebildet werden, setzt dieser Vorgang nicht bereits eine übergeordnete Instanz voraus? Und was ist mit den Interessengegensätzen, die zwischen Menschen, die auf diese Weise zwar als Volk definiert werden könnten, aber auf verschiedenen Seiten der Barrikaden stehen, um einmal sinnbildlich den Reichtum der einen, basierend auf einer Position der Stärke, die es ihnen ermöglicht, zu Lasten anderer ihre Vorteilslage zu sichern, zum Ausdruck zu bringen? Steht nicht zu befürchten, daß diese, wenn es um Befreiung geht, eminent wichtige Frage bagatellisiert und schöngeredet wird selbst dann, wenn mit hehren Worten demokratische Ansprüche formuliert werden?

Einen gesellschaftlichen Fortschritt zu postulieren, wie es in bürgerlicher wie marxistischer Geschichtsschreibung gleichermaßen getan wird, läßt da doch vermuten, sich ungeachtet aller Kritik, Reformbemühungen und Verbesserungsvorschläge mit dem Raub arrangieren und an ihm partizipieren zu wollen.

Wie nun aber stellt sich die kurdische Bewegung zu diesen Fragen? Hat sie möglicherweise, ausgehend von der spezifischen, historisch herleitbaren Situation des kurdischen Volkes, dem einzigen in einer solchen Größenordnung, das im europäisch-asiatischen Raum zu keinem Zeitpunkt einen eigenen Staat gründen konnte, einen Schritt nach vorn machen können, indem sie das nationalstaatliche Prinzip als für sich nicht hilfreich und inhaltlich kontraproduktiv bewertete mit der Folge, sich anderen Konzepten zuzuwenden bzw. eigene Modellvorstellungen zu entwickeln?


Der kurdische Aufbruch - ein Vorschlag zur Sache?

Die von Abdullah Öcalan, der Leitfigur der heutigen Bewegung des kurdischen Aufbruchs, 1979 mitbegründete Kurdische Arbeiterpartei (PKK), die ab August 1984 in militärischen Auseinandersetzungen mit der türkischen Armee stand, war 1993 von dem zunächst als Ziel des kurdischen Befreiungskampfes ausgewiesenen eigenen Nationalstaat wieder abgerückt. Die von ihr stattdessen propagierte föderative Autonomielösung innerhalb der bestehenden Grenzen, also in Anerkennung der Zugehörigkeit zum türkischen Staat, führte jedoch nicht zu der erhofften Beilegung des Konflikts durch politische Verhandlungen mit der türkischen Regierung.

Nachdem Öcalan 1999 nach einer Irrfahrt durch ein Europa, in dem ihm niemand die Tür öffnete, in Kenia entführt und in der Türkei zum Tode verurteilt worden war, rief er abermals zur Einstellung des bewaffneten Kampfes auf. Die eigentlich naheliegende und Öcalan keineswegs diskreditierende Frage, ob nicht in Erwägung gezogen werden müsse, daß er als totalisolierter politischer Gefangener, auf der Gefängnisinsel Imrali unter der Kontrolle Ankaras stehend, das von ihm weiterentwickelte Konzept einer demokratischen Autonomie seinen Anhängern nicht ohne Billigung der türkischen Regierung hätte nahebringen können, wurde auf dem Hamburger Kongreß nicht thematisiert.

In der hiesigen Solidaritätsbewegung wurde die Abkehr von der Idee eines als Alternative zum Kapitalismus konzipierten befreiten sozialistischen kurdischen Nationalstaats mit einer intensiven Reflexion über die Rolle des Nationalstaates infolge der durch den Zusammenbruch des Realsozialismus veränderten Perspektiven erklärt. Demnach habe die Bewegung infolgedessen damit begonnen, den Nationalstaat als ein Konstrukt bürgerlicher Macht im Kontext kapitalistischer Entwicklung abzulehnen und politisch anzugreifen. Ihrer jetzigen Analyse zufolge sei er als Ausgangspunkt von Unterdrückungsmechanismen wie Religion, Sexismus, Rassismus und Nationalismus zu verstehen. [2] Darüber, daß die befreite Gesellschaft weder in den realsozialistischen noch den zwar dekolonialisierten, aber in wirtschaftliche Abhängigkeit und Schuldknechtschaft übergeführten jungen Staaten Afrikas und anderer Kontinente bislang nicht habe verwirklicht werden können, wird sich unter Interessierten recht schnell eine Übereinkunft herstellen lassen. Doch welche Schlußfolgerungen sind daraus zu ziehen?


Auf staatlichen Pfaden in die Freiheit?

Auch die kurdische Befreiungsbewegung befaßte sich dem Vernehmen nach intensiv mit der Frage, ob staatliche Strukturen als Exekutivorgane kapitalistischer Verwertung grundsätzlich abzulehnen seien oder ob es auf dem Weg zur Befreiung zweckdienlich sei, sich ihrer als eine Art Etappenstadium zu bedienen, um etwa auf dem Verhandlungswege Fortschritte in eigener Sache zu erzielen. Öcalans neues Konzept eines demokratischen Konföderalismus war stark beeinflußt vom libertären Kommunalismus des US-amerikanischen Öko-Anarchisten Murray Bookchin. Dieser sah die Polis der antiken Städte Griechenlands als vorbildlich an, weil die Mitglieder dieser Bürgerversammlungen gleichberechtigte Entscheidungsmöglichkeiten gehabt hätten. Daß dies nur für männliche Bürger gegolten hatte und das alte Griechenland eine Sklavenhaltergesellschaft gewesen war, stand dem Loblied auf diese Urform demokratischer Staatlichkeit bei Bookchin wie vielen anderen offenbar nicht entgegen.

Welche Erfahrungen hat nun die kurdische Bewegung mit dieser Konzeption machen können? In der Konfrontation mit dem türkischen Staat hatte sich schnell herausgestellt, daß dieser unter keinen Umständen bereit war, mit den Repräsentanten der überwiegend kurdischen besiedelten Gebiete über eine territoriale Abspaltung zwecks Gründung eines kurdischen Staates zu verhandeln. Für die in insgesamt vier Staaten - in der Türkei, im Irak, im Iran und in Syrien - lebenden Kurdinnen und Kurden wiederholte sich damit eine Erfahrung, die sie in früheren Befreiungsversuchen und Aufständen immer wieder gemacht hatten, nämlich daß keiner der genannten Staaten einen eigenständigen Kurdenstaat zuläßt.


Befreiung ohne eigenen Staat?

Wer wie die kurdische Bewegung den Staat immer wieder als Ausgangspunkt der eigenen Unterdrückung erfahren hat, wird in dem libertären Kommunalismus Bookchins möglicherweise ein gangbares Alternativkonzept und eine Lösung aus dem Dilemma vermuten. Bookchin spricht davon, daß zur vorherrschenden Kultur des zentralisierten, bürokratischen Nationalstaats Gegeninstitutionen entwickelt werden müßten, damit eine dezentralisierte, föderative und von den Bürgern einer Kommune ausgehende Macht entstehe, die die vom Nationalstaat beanspruchte Kontrolle über das soziale und politische Leben erlangen könne. [3] Dementsprechend wird der demokratische Konföderalismus der kurdischen Bewegung als eine Form der Selbstverwaltung verstanden, die dem Modell der Staatlichkeit als eine Art permanenter sozialer Revolution gegenübersteht, verbunden mit der langfristigen Perspektive, den Nationalstaat zu überwinden, indem alle seine Strukturen in Selbstorganisation übernommen werden.

Nach Darstellung der kurdischen Solidaritätsbewegung wurde 2005/2006 in den im Osten der Türkei liegenden Kurdengebiete mit der praktischen Umsetzung basisdemokratischer Konzepte begonnen. Wo immer die Basisbewegung sich als stark genug erwiesen habe, wurden Freie Bürgerräte, Stadtteil-, Stadtviertel- und Stadträte gegründet. 2008/2009 hätten sich die vom türkischen Staat zunächst zurückhaltend beobachteten Räte als unabhängige Strukturen neu formiert, um zivilgesellschaftliche Organisationen, Parteien, Berufsgruppen, Frauen- und Umweltvereine vertreten zu können. [2] Dies führte zu langanhaltenden Verhaftungswellen und einer Lawine von Gerichtsprozessen, mit der die autonomen Organisationsstrukturen insgesamt kriminalisiert wurden. Ein Jahr, nachdem 2011 auf einem Kongreß die Demokratische Autonomie ausgerufen worden war, wurden über 8000 Menschen wegen Mitgliedschaft in der Union der Gemeinschaften Kurdistans, die diesen Aufbau betrieb, nach den türkischen Antiterrorgesetzen festgenommen.

Die Konfrontation zwischen der Bewegung des kurdischen Aufbruchs, so wie sie sich derzeit in der Türkei und in Syrien, im Irak und im Iran manifestiert, und den jeweiligen Staaten und beteiligten Drittmächten, stellt ein hochsensibles Thema dar, das nicht nur die Kurdinnen und Kurden betrifft, die hier den Anspruch, in überschaubaren sozialen Zusammenhängen die Lebensgestaltung in die eigenen kollektiven Hände zu nehmen, formuliert haben. Wer wollte es ihren Protagonistinnen und Protagonisten verdenken, wenn sie auf der Konferenz "Die kapitalistische Moderne herausfordern II" in eigener Sache aktiv sind und den Anwesenden ihr konföderalistisches Konzept nahezubringen suchen?


Die Genannten am Podiumstisch sitzend - Foto: © 2015 by Schattenblick

Session zur Demokratischen Moderne - Emine Ayna, Asya Abdullah, Eirik Eiglad, Michael Panser und Havin Guneser (v.l.n.r.)
Foto: © 2015 by Schattenblick


Rojava - der Traum von einem befreiten Leben im Bürgerkriegsland Syrien

Daß gerade Rojava, die autonomen kurdischen Kantone im Norden Syriens, in Vorträgen und Diskussionen einen breiten Raum einnahm und, wie vielfach zu spüren war, Anlaß zu großer Freude und Hoffnungen geboten hat, bedarf keiner Erläuterung. Das Gebiet, in dem das Modell der demokratischen Nation der kurdischen Bewegung dem Vernehmen nach bislang am weitesten aufgebaut und realisiert werden konnte, liegt in in einer von kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Milizen, der sogenannten Freien Syrischen Armee und den regulären Streitkräften Syriens stark in Mitleidenschaft gezogenen Region, in der nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks bereits über vier Millionen Menschen durch den Krieg vertrieben wurden.

Den Blick auf die Innenverhältnisse dieser Enklaven zu richten, ohne ihre Entstehungs- und Lebensbedingungen zu berücksichtigen, könnte dazu verleiten, in diesem Modell ein generelles Lösungskonzept zu vermuten, mit dem sich das erstrebte alternative Gesellschaftsmodell ohne Konfrontation mit der Staatsgewalt realisieren ließe. Es mag der menschlichen Neigung, aus positiv bewerteten Beispielen Hoffnung zu schöpfen, geschuldet gewesen sein, daß auf der Konferenz eher im Nachrange thematisiert wurde, wie extrem repressiv staatliche Organe agieren und reagieren, sobald sie den Eindruck gewinnen, von der Bevölkerung organisierte Selbstverwaltungsstrukturen könnten im Begriff stehen, den Staat überflüssig zu machen.


Demokratische Nation als Heilmittel gegen Nationalismus?

Auf der Hamburger Konferenz "Network for an Alternative Quest II" referierte am 3. April Asya Abdullah Osman [4], die Ko-Vorsitzende der Partei der Demokratischen Einheit (PYD) in Rojava/Syrien, im Rahmen der zweiten Session zum Thema "Demokratische Moderne". In ihrem Vortrag "Demokratische Nation - ein Heilmittel gegen Nationalismus?" beschrieb sie zunächst, daß, wer sich für die kurdische Bewegung politisch betätigen wollte oder auch nur die Regierung kritisierte, Gefängnisstrafen und schwere Mißhandlungen riskierte. Tausende Kurden und Kurdinnen seien sogar getötet worden. Lange Jahre habe dies auch für Rojava gegolten, auch hier waren die kurdische Sprache und Kultur verboten. Die kurdische Bevölkerung habe keine eigenen Rechte gehabt, es gab weder eine autonome Verwaltung noch eigene Finanzen. Viele Menschen hätten sich deshalb gezwungen gesehen, ihr Land zu verlassen - in den Städten jedoch drohte ihnen die Assimilierung.


Die Referentin am Rednerpult stehend - Foto: © 2015 by Schattenblick

Asya Abdullah
Foto: © 2015 by Schattenblick

Das Gegenmittel dazu sei, so Asya Abdullah, das Modell der demokratischen Nation, wie es im Westen Kurdistans Schritt für Schritt aufgebaut werde. Ein solches Projekt zu errichten, sei weder einfach noch bequem. Es erfordere eine geistige Revolution, um der Mentalität des Nationalstaats die Idee der demokratischen Nation entgegenzusetzen. Die PYD-Kovorsitzende sprach deshalb von einem philosophischen Bewußtseinswandel und einem neuen Paradigma. Bei den Bemühungen um den Aufbau einer demokratischen Nation habe Rojava in den zurückliegenden Jahren eine führende Rolle einnehmen können, obwohl sich die westkurdischen Gebiete massiver Angriffe und eines sowohl vom Ausland als auch innerhalb Syriens verhängten Wirtschaftsembargos erwehren müssen.

Dennoch sei Rojava heute, wie die Referentin betonte, ein erfolgreiches Modell der demokratischen Nation. Während die nationalstaatliche Politik auf dem grundlegenden Verbot beruhe, selbst Politik zu machen, sei dies für die demokratische Nation gerade wesentlich, weil sie davon ausgehe, daß eine Gesellschaft für sich selbst Entscheidungen treffen könne. In einem solchen System stünde Politik nicht, wie in den Nationalstaaten, im Dienste der Herrschaft, sondern der gesamten Gesellschaft und habe die Bedürfnisse der Menschen zu berücksichtigen. Diesen Prinzipien entsprechend werden alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens organisiert, wobei dieser Aufbau bei der Kommune - in der Nachbarschaft, im Dorf oder im Stadtteil, also in den kleinsten Zellen der Gesellschaft - beginne.

Auf diese Weise entstünde, so die PYD-Kovorsitzende, wie in Rojava bereits geschehen, eine sich selbst verwaltende gesellschaftliche Kraft. In diesem Modell sei die gesamte Kultur - also die vielen verschiedenen Identitäten, Sprachen, Religionen und politischen Auffassungen - zu einer demokratischen Nation zusammengeführt worden. In den kurdischen Kantonen gäbe es eine gemeinsame Allianz der Bevölkerung, die als demokratisches System für alle Völker Syriens von Interesse sein könnte. Dem Modell zufolge organisiere sich die Gesellschaft selbst, indem sie Akademien errichtet, Kooperativen und Genossenschaften aufbaut und Wahlen abhält, wenn dies in ihrem Interesse liege. Die demokratische Nation Rojavas sei zur Zeit das erfolgreichste System, weil dies kein anderes besser verstünde, so die Referentin.

Das darin entwickelte wirtschaftliche Modell ziele nicht, wie die Ökonomie des heutigen Kapitalismus, darauf ab, den gesamten Produktionsprozeß zu kontrollieren. In Rojava werde daran gearbeitet, die drängenden Probleme der Gesellschaft, wie sie auch in einer weitgehend durch den Krieg zerstörten Stadt wie Kobanê bestehen, zu lösen, wofür viele größere, aber auch kleine Projekte entwickelt worden seien. Das juristische System, das normalerweise im Dienste der Herrschenden stünde, gäbe den Menschen die Möglichkeit, ein Recht zu entwerfen, das den gesellschaftlichen Interessen diene, ihre Probleme löse und den Prozeß vorantreibe. Für dieses Recht der demokratischen Nation sei Rojava heute - womöglich sogar für den gesamten Mittleren Osten - ein Modell. Mit den Worten, daß eine solche Gesellschaft mit anderen Kulturen und Völkern in eine Art Basis- oder Volksdiplomatie treten und kooperative Bündnisse und Allianzen mit ihnen schließen würde, rundete die Referentin das Bild ab.


E. Ayna und A. Abdullah nebeneinander am Tisch sitzend - Foto: © 2015 by Schattenblick

Die Frauenfrage kommt nicht an zweiter Stelle - Asya Abdullah mit der HDP-Politikerin Emine Ayna (links)
Foto: © 2015 by Schattenblick


Ohne die Freiheit der Frau keine Befreiung des kurdischen Volkes

In dem in der Frauenfrage vielfach als rückständig kritisierten Nahen und Mittleren Osten könne der kurdische Aufbruch, wie auf der Konferenz deutlich gemacht wurde, eine zukunftsweisende Rolle einnehmen, weil in der Bewegung der Standpunkt vertreten werde, daß ohne die Befreiung der Frau die grundsätzliche Befreiung des (kurdischen) Volkes nicht zu erreichen sei. Die kurdische Politikerin erläuterte in ihrem Vortrag, wie entscheidend die Stellung der Frau beim Aufbau der demokratischen Autonomie ist. In der Ideologie, um nicht zu sagen Philosophie dieses Systems sei die Freiheit der Frau bereits definiert und angelegt. Frauen übernähmen mit ihren eigenen Vorstellungen und ihrer Identität Führungsrollen und träfen zentrale Entscheidungen in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens, in Politik und Wirtschaft, Bildung und Verteidigung. Sie stünden im Zentrum dieser Prozesse und seien eigentlich die allergrößte "Nation" im System der demokratischen Autonomie in Rojava. Es sei ein Frauensystem, und je mehr es sich durchsetze, umso mehr gewänne die Frau.

Natürlich sei, so Aysa Abdullah, auch die Verteidigung wichtig. Wenn eine Gesellschaft dafür nicht sorge, sei nicht nur ihre Existenz in Gefahr. Sie könne dann ihr eigenes System nicht aufbauen und sich nicht selbst verwalten. Es gäbe viele Kräfte in der Region, die aus den unterschiedlichsten Gründen Krieg führten, doch in Rojava seien die Volksverteidigungskräfte ausschließlich mit der Verteidigung des Lebens, aber auch der Kultur der dort lebenden Menschen befaßt. Gegen die vielfältigen Bestrebungen, den Krieg noch zu vertiefen, die religiösen und kulturellen Konfliktlinien zu verschärfen und den Aufbau einer demokratischen Gesellschaft zu schwächen, werde in Rojava seit vier Jahren Widerstand geleistet. Die Philosophie der demokratischen Nation sei dabei das Gegenmittel gegen den sich womöglich sogar noch ausweitenden Bürgerkrieg, so das Fazit der Referentin.

Sie bezeichnete Rückständigkeit, Unmenschlichkeit und Reaktion als Produkte des Kapitalismus, die im Mittleren Osten in den letzten Jahren in Form des Islamischen Staates Gestalt angenommen hätten und eine große Gefahr für die Gesellschaft, aber auch die gesamte Menschheit darstellten. Die kurdische Bewegung stehe in diesem Kampf und unterstütze das Paradigma der demokratischen Nation. Die PYD-Kovorsitzende stellte zum Abschluß ihres Vortrags die Frage, wie die gesamte Gesellschaft für dieses Modell gewonnen und der bisherige Aufbau gegen die täglichen Angriffe verteidigt werden könne und lud die Anwesenden ein, nach Rojava zu kommen, um die demokratische Autonomie, aber auch die Reaktion, gegen die Widerstand geleistet werde, kennenzulernen.


Großes Interesse am Modell Rojava

Mit langanhaltendem Applaus reagierten die Konferenzteilnehmenden im Audimax der Hamburger Universität auf die Rede Asya Abdullahs. Ob die demokratische Autonomie als gesellschaftlicher Gegenentwurf, der antipatriarchalen, antistaatlichen und antikapitalistischen Ansprüchen Genüge tut, in Rojava tatsächlich schon so weit realisiert werden konnte wie von ihr dargestellt, ist für Außenstehende schwer zu beantworten. Die Frage nach einem selbstbestimmten Leben in der Praxis eines alltäglichen Überlebenskampfes aufzuwerfen, zeugt jedoch von einer Unbeugsamkeit, die über ideologische Erklärungen und mögliche Irrtümer hinausgreift und nachvollziehbar macht, warum auf der Konferenz dem Modell Rojava ein so großes Interesse entgegengebracht wurde.


Fußnoten:
[1] Siehe den ersten Teil des Berichts im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → POLITIK → REPORT:
BERICHT/202: Kurdischer Aufbruch - Widerstand, Gegenangriff, Revolution ... (1) (SB)

[2] Demokratische Autonomie in Nordkurdistan. Rätebewegung, Geschlechterbefreiung und Ökologie in der Praxis - eine Erkundungsreise in den Südosten der Türkei (Broschüre). Herausgeber_innen: Kampagne TATORT Kurdistan c/o Informationsstelle Kurdistan (ISKU) e.V., Mesopotamien Verlag, Neuss, 2012

[3] Murray Bookchin - Kommunalisierung: Die Wirtschaft als Eigentum der Kommunen
https://www.anarchismus.at/texte-anarchismus/libertaerer-kommunalismus/6145-murray-bookchin-die-wirtschaft-als-eigentum-der-kommunen

[4] Siehe auch das Interview mit Asya Abdullah im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → POLITIK → REPORT:
INTERVIEW/254: Kurdischer Aufbruch - Volksbefreiung, Selbstbefreiung ...    Asya Abdullah im Gespräch (SB)


Bisherige Beiträge zur Konferenz "Die Kapitalistische Moderne herausfordern II" in Hamburg im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → POLITIK → REPORT:

BERICHT/190: Kurdischer Aufbruch - fortschrittlicher Beginn (SB)
BERICHT/192: Kurdischer Aufbruch - Gesichter des Kapitals ... (1) (SB)
BERICHT/193: Kurdischer Aufbruch - Gesichter des Kapitals ... (2) (SB)
BERICHT/194: Kurdischer Aufbruch - Gesichter des Kapitals ... (3) (SB)
BERICHT/195: Kurdischer Aufbruch - Gesichter des Kapitals ... (4) (SB)
BERICHT/197: Kurdischer Aufbruch - in demokratischer Urtradition ... (SB)
BERICHT/198: Kurdischer Aufbruch - Konföderalismus sticht Kulturchauvinismus ... (SB)
BERICHT/202: Kurdischer Aufbruch - Widerstand, Gegenangriff, Revolution ... (1) (SB)
INTERVIEW/250: Kurdischer Aufbruch - demokratische Souveränität und westliche Zwänge ...    Dêrsim Dagdeviren im Gespräch (SB)
INTERVIEW/251: Kurdischer Aufbruch - der Feind meines Feindes ...    Norman Paech im Gespräch (SB)
INTERVIEW/254: Kurdischer Aufbruch - Volksbefreiung, Selbstbefreiung ...    Asya Abdullah im Gespräch (SB)
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INTERVIEW/258: Kurdischer Aufbruch - Volle Bremsung, neuer Kurs ...    Elmar Altvater im Gespräch (SB)
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26. Juli 2015


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