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BERICHT/226: Treffen um Rosa Luxemburg - Multiform schlägt Uniform ... (SB)


Mit Kunst und Kultur gegen den Krieg der Kulturkämpfer

21. Rosa Luxemburg Konferenz in Berlin


Über den Südosten der Türkei spannt sich ein Netz aus Furcht und Terror. In vielen Städten der Region wie in der Altstadt von Diyarbakir, die als Hochburg der Kurden gilt, aber auch in Cizre und Silopi regt sich weder tags noch nachts Leben. Die Stille rührt von den Ausgangssperren her, die die Regierung seit Juni letzten Jahres verhängt, als sei es nicht sie gewesen, die den zweijährigen Waffenstillstand mit der PKK aufgekündigt hat. Wenn gepanzerte Fahrzeuge durch verwaist wirkende Häuserschluchten jagen, dann richten sich ihre Waffen gegen eine Bevölkerung, die sich dem türkischen Repressionsapparat widersetzt, weil ihr Leben in Gefahr ist. 200.000 Kurdinnen und Kurden sind gegenwärtig auf der Flucht, über 200 Zivilisten, darunter viele Kinder und alte Menschen, kamen seit dem Ausbruch der Feindseligkeiten ums Leben. Auch von gezielten Hinrichtungen ist die Rede.


Beim Vortrag - Foto: © 2016 by Schattenblick

Aydin Cubukcu
Foto: © 2016 by Schattenblick

Der politische Aktivist, Schriftsteller und Revolutionär Aydin Cubukcu, der 1947 im mittelanatolischen Sivas geboren wurde und infolge des Militärputsches 1972 zunächst zum Tode, dann jedoch zu einer 19jährigen Haftstrafe verurteilt wurde, engagiert sich seit langem im kurdischen Friedensprozeß. Als Herausgeber der monatlich erscheinenden sozialistischen Kultur-, Kunst- und Literaturzeitschrift Evrensel Kültür und Redakteur von Hayat TV erhob er im Rahmen der Rosa-Luxemburg-Konferenz seine Stimme gegen die unverantwortliche Kriegspolitik der Regierung in Ankara, die nicht nur in den kurdischen Gebieten der Türkei, sondern mit unabsehbaren Folgen auch Feuer an das Pulverfaß des gesamten Nahen und Mittleren Ostens legt. In diesem Sinne rief Cubukcu alle Kommunisten und fortschrittlichen Demokraten auf, sich unter der Führung der Arbeiterklasse solidarisch zusammenzuschließen, um den drohenden Krieg mit fatalen Auswirkungen für alle Kulturen, Religionen und Bevölkerungen in dieser Region zu stoppen. Dies sei um so nötiger, als sich die Türkei unter ihrem Präsidenten Erdogan immer mehr in Richtung Faschismus bewege. Gerade weil der Nahe Osten zum Operationsfeld verschiedener islamistischer Terrororganisationen geworden sei, die von staatlichen Akteuren und imperialistischen Strömungen instrumentalisiert würden, sei die Gefahr eines Abgleitens in eine weltweite Katastrophe heute realer als je zuvor.

Daß Cubukcu seinen Vortrag unter den Titel "Politischer Kampf und Kultur" stellte, scheint nur auf den ersten Blick widersprüchlich und der Situation unangemessen zu sein. Tatsächlich, so der Referent, könnte die in Kunst und Kultur geborgene Mannigfaltigkeit an menschlichen Ausdrucksformen und Identitäten ein unentbehrliches Mittel im Kampf gegen Faschismus, Imperialismus und Krieg sein, da deren Imperative auf den ideologischen Ausschluß von kreativen Formen des Miteinanders beruhten. Frauen- und Kinderrechte, Umweltschutz oder das Eintreten für das Wohl der Tiere gehörten nicht zum Equipment faschistoider Systeme, deren Rassenideologie auch eine Entzweiung der Arbeiterklasse betreibe, so der Mitbegründer der Partei der Arbeit (EMEP), der zuletzt auch als Kandidat für die HDP zur Wahl stand.

Daß Kultur und Klassenkampf keine verschiedenen Pole im revolutionären Ringen um eine andere Gesellschaft darstellen, sondern mit Blick auf das gleiche Ziel emanzipatorisch ineinandergreifen, ist für Cubukcu eine ebensolche Selbstverständlichkeit wie die Pflicht aller politisch engagierten Menschen, sich zum Schutz der demokratischen Errungenschaften in klaren Worten und Taten gegen imperialistische Kriege zu positionieren. Vielmehr hätten die Potentiale der Vernichtung inzwischen eine Dimension erreicht, die es notwendig macht, die politische Widerstandskultur wie das Kulturelle überhaupt als Waffe in der Hand des Revolutionärs zu begreifen. Es gehe nicht so sehr um eine abgehobene Sicht auf Literatur, sondern darum, für eine neue Welt zu kämpfen, in der auch das geschriebene Wort und jeder grenzüberschreitende Gedanke seinen Platz finden.


Aydin Cubukcu am Rednerpult - Foto: © 2016 by Schattenblick

Entschiedener Streiter für eine Kultur der Befreiung
Foto: © 2016 by Schattenblick

Cubukcu erinnerte in diesem Zusammenhang an die Entstehungsgeschichte der sozialistischen Zeitschrift Evrensel Kültür, die seit nunmehr 25 Jahren existiere. Zu der Zeit, als sie konzipiert wurde, standen die werktätigen Massen der Türkei im Begriff, erneut die Bühne des Kampfes zu betreten, um sich dem erdrückenden Militärputsch vom 12. September 1980 entgegenzustellen. Seinerzeit hatte der Kampf im öffentlichen Dienst für die Gründung von Gewerkschaften erste Risse im Machtapparat der Militärdiktatur freigelegt. In einem solchen Umfeld schien es als Teil des politischen Kampfes unverzichtbar zu sein, den Streit um einen gesellschaftlichen Wandel auch auf einer kulturellen Ebene zu führen. Evrensel Kültür sah und sieht seine Hauptaufgabe darin, den Sozialismus gegen die ideologische Hegemonie des Bildungsbürgertums sowie des reaktionär-faschistischen Staates zu setzen, um auf diese Weise die Möglichkeiten für den Aufbau einer sozialistischen Kultur in der Gegenwart zu fördern. In diesem Sinne, unterstrich Cubukcu, verteidige Evrensel Kültür die Werte der sozialistischen und demokratischen Revolution, wie sie sich in der Welt und der Türkei während vieler Jahrhunderte angesammelt hätten.

Die Zeitschrift erforscht das jahrtausendealte Erbe Anatoliens, die dort gewachsenen Traditionen des Aufbegehrens wie auch die Eigentümlichkeiten der arbeiternahen Volkskultur. Die Auseinandersetzung mit der Folklore dieses Landstriches dient dabei keinem elaborierten Selbstzweck. Es geht dem Referenten zufolge nicht um museale oder archäologische Studien, um sie in Beziehung zur Neuzeit zu setzen. Vielmehr sollen die dort der Despotie der Grundherren abgerungenen Kulturtechniken der freien Rede und des Miteinanders der Völker und Herkunftslinien davor bewahrt werden, in einem islamistischen Umfeld unwiderruflich verlorenzugehen. Der Islam versuche, sich als Eroberungsreligion und Ausdruck einer fremdverfügten Kultur mehr und mehr im alltäglichen Leben zu verankern und dabei freie und liberale Werte immer stärker in den Hintergrund zu drängen.

Der kurdische Freiheitskampf habe nicht nur für die Türkei eine hohe Bedeutung, sondern betreffe das Schicksal aller Menschen rund um den Globus, die nicht bereit sind, tatenlos zuzuschauen, wie die Welt erneut in den vernichtenden Strudel aus Rassenhaß und Demokratiefeindlichkeit hineinschlittert. An Rosa Luxemburg zu erinnern, wie es die Konferenzteilnehmer in Berlin tun, mache nur Sinn, wenn ihr politischer Kampf als Appell gegen Faschismus und Imperialismus verstanden werde. Diesem revolutionären Erbe gerecht zu werden, mahnte Cubukcu dringend an, bedeute, die Kräfte der Revolution zu vereinigen, damit der Krieg der Reaktion den Sozialismus nicht erneut in Blut, Feuer und Kugeln ersticke.

Der türkische Staat entwickelt sich in seinen Institutionen, aber auch in Schulen, Fabriken und Militärabteilungen bis hin ins Parlament zu einem islamistischen Überwachungsregime, in dem jeder einzelne auf das Befolgen der religiösen Gebote überprüft werde. Der auf diese Weise gesellschaftlich geschaffene Druck werde von der AKP-Regierung zu einem Instrument politischer Repression umgeformt. Zwar herrsche in der Türkei nicht wie etwa in Saudi-Arabien, Pakistan und Afghanistan das Gesetz der Scharia, aber der Einfluß der Religion auf die Zivilgesellschaft habe inzwischen durchaus antidemokratische Tendenzen angenommen.

Der Laizismus als Grundpfeiler der türkischen Republik sei Cubukcu zufolge zwar nie mehr als der Deckel über der offiziellen Religion gewesen, aber heutzutage werde der sunnitische Islam auf allen Ebenen der Gesellschaft in ein normatives Leitprogramm eingebunden. So erinnerte der Referent daran, daß die Arbeitszeiten in der Türkei am Tag seines Abfluges wegen der obligatorischen Freitagsgebete noch einmal umgestellt worden seien. Für Cubukcu ein weiterer Beleg dafür, daß die republikanische Verfaßtheit in der Trennung von Politik und Religion, wie es dem Staatsgründer Mustafa Kemal vorgeschwebt habe, längst zum Relikt der Vergangenheit geworden sei. In der heutigen Türkei werde der Islam wie eine Staatsideologie praktiziert, in der Kinder Imamschulen besuchen müßten und das Bekenntnis zur Religion die Gewissensfreiheit abgelöst habe.

Eine Gesellschaft, die Ideologie, Religion und Herkunft mit der Politik verknüpft, werde in letzter Konsequenz immer in einer Diktatur enden, so der Referent. Aus diesem Grunde sei der Kampf auf kultureller Ebene, sei es durch Kunst, Literatur, Philosophie oder Geschichtswissenschaft, von großer Wichtigkeit, um gegen das reaktionäre Gedankengut der AKP-Regierung vorzugehen, die ihre Politik mit dem Nimbus des Geheiligten umgibt, um jeder Kritik von vornherein die demokratische Rechtfertigung zu nehmen. Im Augenblick werde in der Türkei kein Kampf zwischen Türken, Kurden und anderen nationalen Gemeinschaften geführt, sondern zwischen reaktionären und fortschrittlichen Kräften, wobei die Religion in erster Linie als Instrument der Aufwiegelung eingesetzt wird.

Tatsächlich finde im Nahen Osten ein imperialistischer Stellvertreterkrieg statt, bei dem sowohl die US-Amerikaner und Russen, als auch die Iraner und Saudis ihre Interessen bei der Umgestaltung der Region auf militärischem Wege verfolgen. Im Sinne ihres Vorherrschaftsstrebens führt die AKP-Regierung einen Krieg sowohl nach innen als auch nach außen, notfalls mit der Konsequenz eines die Türkei in ihren demokratischen Reststrukturen vollständig aufreibenden Bürgerkrieges.


Auf dem Podium mit erhobener Faust - Foto: © 2016 by Schattenblick

Ulla Jelpke stellt Aydin Cubukcu vor
Foto: © 2016 by Schattenblick

Aydin Cubukcu hat auf der Rosa Luxemburg Konferenz daran erinnert, daß Kunst und Kultur nicht minder als die materialistischen Grundlagen gesellschaftlicher Existenz ein umkämpftes Feld sind, über das keine "objektiven" Aussagen getroffen werden können. Entscheidend dafür, ob kulturelle Aktivitäten Unterdrückung und Ignoranz fördern oder das Gegenteil dessen bewirken, ist die Position der Menschen, die sich ihrer bedienen. So legitimiert der kulturalistische Tenor der rechten Offensive bei aller begründeten Kritik an der Instrumentalisierung des Islam für aggressive und repressive Zwecke Krieg und Zerstörung unter Ausblendung der macht- und hegemonialpolitischen Gründe für die Entsendung deutscher Truppen in den Nahen und Mittleren Osten. Imperialistische Politik läßt sich durch antimuslimischen Rassismus bestens bemänteln, und wer glaubt, die eilfertige Verdächtigung geflüchteter Menschen als fünfte Kolonne des IS bleibe auf diese Gruppe beschränkt, wird sich durch die angeblichen Verteidiger des Abendlandes selbst bedroht sehen, wenn er sich nicht in vorauseilendem Gehorsam auf die Seite von Staat und Nation schlägt.

Von daher ist dem sogenannten Kampf der Kulturen, der über eine einschlägige Grundlegung im Arsenal imperialistischer Legitimationsstrategien verfügt [1], ein Kulturbegriff entgegenzusetzen, der gerade dasjenige hervorbringt, was als das Schwache und Verletzliche am Menschen stets vordringliches Ziel mörderischer Absichten war. Solidarisch für notleidende und unterdrückte Menschen einzustehen wird nicht aus ökonomischem Nutzenkalkül oder moralischer Bürgerpflicht haltbar, sondern gewinnt aus der Unteilbarkeit des Schmerzes von Ohnmacht und Gewalt versehrten Lebens jene Stärke, die sich in der Überwindung widrigster Bedingungen bewahrheitet. Kunst und Kultur können in der Vielfalt ihrer Formen, dem Reichtum ihrer Sprachen und der Immanenz ihres Hervortretens zeigen, daß die Uniformität ideologischer Zurichtung an der Wirklichkeit dieser subjektiven Parteinahme stets brechen wird.


Mobilisierungsplakate - Fotos: 2016 by Schattenblick Mobilisierungsplakate - Fotos: 2016 by Schattenblick Mobilisierungsplakate - Fotos: 2016 by Schattenblick

Aus der Ausstellung historischer Aufrufe zur Rosa Luxemburg Konferenz
Fotos: 2016 by Schattenblick


Mobilisierungsplakate mit Motiven von Thomas J. Richter - Fotos: 2016 by Schattenblick Mobilisierungsplakate mit Motiven von Thomas J. Richter - Fotos: 2016 by Schattenblick Mobilisierungsplakate mit Motiven von Thomas J. Richter - Fotos: 2016 by Schattenblick

Den Traum von einer Sache ins Bild gesetzt
Fotos: 2016 by Schattenblick


Fußnote:

[1] Ingolf Ahlers - Der Westen in Not
http://www.krisis.org/1998/der-westen-in-not/


21. Rosa Luxemburg Konferenz in Berlin im Schattenblick
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30. Januar 2016


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