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BERICHT/237: Ulrikes Kampf - und heute noch ... (SB)


"Wer seine Lage erkannt hat, wie sollte der aufzuhalten sein?"
(aus Bertolt Brecht: Lob der Dialektik)

Veranstaltung zum 40. Todestag von Ulrike Meinhof am 9. Mai 2016 in Hamburg



Stilisiertes Bild zum 40. Todestag Ulrike Meinhofs mit der Aufschrift 'Revolutionäre Geschichte aneignen und verteidigen' - Foto: © 2016 by Schattenblick

Veranstaltungsplakat
Foto: © 2016 by Schattenblick

Nein, totgeschwiegen werde Ulrike Meinhof nicht, sagte der ehemalige Anwalt Heinz-Jürgen Schneider, der auch Angeklagte der RAF verteidigt hat, eher werde sie als die klassische rote Hexe gehandelt, die in den Siedetopf der Demagogie geworfen wird. Anlaß für diese Äußerung, die den Literaturnobelpreisträger des Jahres 1972 Heinrich Böll zitiert, war eine Veranstaltung an der Universität Hamburg zum Todestag von Ulrike Meinhof, der sich am 8./9. Mai 2016 zum 40. Mal jährte. Eingeladen hatten das Netzwerk Freiheit für alle politischen Gefangenen, Hamburg sowie bekannte und unbekannte Freund*innen von Ulrike Meinhof, auf dem Podium saßen Rolf Becker, der sich nicht nur als facettenreicher Schauspieler, hervorragender Vorleser, sondern auch als nimmermüder linker Aktivist einen Namen gemacht hat und an diesem Abend Texte von Ulrike Meinhof selbst, von Christian Geissler, Dario Fo und Franka Rame vortrug, sowie der verantwortliche Redakteur der Zeitung Gefangeneninfo Wolfgang Lettow und der Journalist Peter Nowak.

Die Worte Bölls stammen aus einem noch heute lesenswerten Spiegelartikel vom Januar '72 [1], also aus einer Zeit vor der Verhaftung von Ulrike Meinhof. Inzwischen ist an die Stelle des Siedetopfes Schlimmeres getreten.

Die bourgeoise Linke, als deren brillantes intellektuelles Aushängeschild die Journalistin, Filmemacherin und Chefredakteurin von konkret besonders wegen ihrer gleichermaßen analytischen wie parteilichen Kolumnen galt, tat sich, angesichts ihres bewußten Schritts in den Untergrund, schwer mit Erklärungsversuchen, die sich von der politischen Konsequenz absetzen, die Verbindung aber dennoch unter dem Mantel von (linker) Solidarität und um der Vermeidung eines eigenen Gesichtsverlustes in der Szene willen nicht ganz kappen wollten: so wurde ihr ersatzweise attestiert, sie sei kopfkrank, dem Baader sexuell hörig, aus Versehen in die Illegalität hineingerutscht. Der heutige Welt-Herausgeber Stefan Aust, der als Verfasser des als "Standardwerk" gehandelten Buches Der Baader-Meinhof-Komplex [2] maßgeblichen Anteil am heutigen medialen Zerrbild der RAF im allgemeinen und Ulrike Meinhofs im besonderen hat, zumal ihm als einem ehemaligen Weggefährten in der Zeit von konkret besondere Glaubwürdigkeit unterstellt wird, hob aus aktuellem Anlaß in der ZDF-Talkshow bei Markus Lanz am 12. Mai noch einmal hervor, Ulrike Meinhof sei schwer depressiv, sadomasochistisch, ihr Leben eine klassische Tragödie gewesen. [3]

Die Botschaft ist angekommen. Jugendliche äußerten in einer Befragung nach dem Besuch des nach dem Buch von Aust benannten Films "Der Baader Meinhof Komplex": "Es war brutal, die Menschen waren krank", "Mit welcher Brutalität die Vereinigung vorgegangen ist, war mir vorher nicht wirklich klar. Durch den Film hat man das erst richtig zu sehen bekommen." Die Morde, das Blut, das bliebe im Kopf hängen ... [4] Die Ziele der RAF und ihre Beweggründe sind heute weitgehend im Orkus medialer Entsorgung verschwunden.

Die Veranstaltung in Hamburg verstand sich daher auch als ein Stück Gegenöffentlichkeit. Man habe den Ort auf dem Campus der Universität bewußt gewählt, erläuterte Mitorganisator Wolfgang Lettow, der sich seit Jahrzehnten für die Belange politischer Gefangener einsetzt, um auch ein jüngeres Publikum anzusprechen, und habe den Schwerpunkt absichtlich nicht auf den bewaffneten Kampf, sondern auf die Motive dahinter legen wollen. Und einen Übertrag in die heutige Zeit schaffen, ergänzte Jürgen Schneider, der die Veranstaltung moderierte, sprich, der Frage nachgehen: Was bedeutet Systemopposition heute?

Wer sich 40 Jahre nach ihrem Tod in Stuttgart-Stammheim mit dem Leben und Wirken von Ulrike Meinhof erinnernd befaßt, steht immer noch im Ruch krimineller Komplizenschaft. Dabei ist ihr Werdegang wie der vieler, die den Schritt in eine unumkehrbare Radikalität nicht gegangen sind, vor dem Hintergrund zeitgeschichtlicher Ereignisse durchaus nachvollziehbar, wenngleich nicht zielführend. Dies um so mehr angesichts einer Entwicklung, in der sich der Imperialismus weltweit, jedweder Rechtfertigungsattitüde entledigt, in einer zunehmend globalen Vernetzung von Wirtschaftsmacht und Deutungshoheit noch unverstellter, grausamer, tödlicher für Menschen und Umwelt offenbart.


Ulrike Meinhof sitzend mit Blick in die Kamera - Foto: Unbestimmtes Mitglied der Familie Meinhof [Copyrighted free use], via Wikimedia Commons

Die Journalistin Ulrike Meinhof um 1964
Foto: Unbestimmtes Mitglied der Familie Meinhof [Copyrighted free use], via Wikimedia Commons

Man erinnert sich an den Beginn ihrer politischen Aktivitäten zunächst in der Antiatombewegung, ihr Engagement gegen die Aufrüstung in den 50er Jahren, ihre Mitgliedschaft in der verbotenen KPD, ihre journalistische Parteinahme für die und innerhalb der außerparlamentarischen Opposition, ihre schreibende Kritik an den Verhältnissen der BRD und einer nicht erfolgten Aufarbeitung des Nationalsozialismus, ihre Teilnahme am breiten Widerstand gegen die Notstandsgesetze, ihr Eintreten für die Benachteiligten der Gesellschaft, Fürsorgezöglinge und Hilfsschulkinder, an Demonstrationen gegen den Vietnam-Krieg, der Hunderttausende auf die Straßen trieb, weltweit - und nicht zuletzt die Erfahrung, daß politischer Protest nicht nur unwirksam blieb, sondern heftigste Reaktionen des Staates und der Medien hervorrief.

"Sie war", sagte ihre Schwester Wienke Zitzlaff in einem Interview aus Anlaß des 40. Todestages mit der jungen Welt, "eine der wichtigsten Stimmen im Aufbruch der Studentenbewegung. Um ihre gründlich recherchierten Hintergrundsartikel rissen sich alle." [5]

Anhand seiner eigenen Biografie schilderte Wolfgang Lettow, wie sehr ihm die Texte Ulrike Meinhofs zu einem tiefgreifenderen Verständnis der politischen Lage und der Ereignisse Ende der 60er Jahre verholfen, den damals 16-, 17jährigen aber auch politisiert hätten. Der Tod von Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967 bei einer Demonstration von Studenten gegen den Besuch des Schah von Persien in Berlin, deren Proteste nicht nur von eingeflogenen Mitgliedern des iranischen Geheimdienstes, sondern auch von einer unbarmherzigen deutschen Polizei niedergeprügelt wurden, war für ihn wie für viele "ein Fanal - wir begriffen, was für ein Staat die Bundesrepublik war, nämlich kein demokratischer, sondern ein autoritärer, der mit dem Faschismus nie gebrochen hatte." Ulrike Meinhof schrieb dazu:

Bevor der Schah von Persien in die Bundesrepublik kam, wußten wir wenig über den Iran, wenig über unser eigenes Land. Als die Studenten auf die Straße gingen, um die Wahrheit über Persien bekannt zu machen, auf die Straße, weil ihnen eine weitere Öffentlichkeit als die Straße nicht zur Verfügung stand, da kam auch die Wahrheit heraus über den Staat, in dem sie selbst leben, da kam heraus, daß man einen Polizeistaat nicht empfangen kann, ohne selbst mit dem Polizeistaat zu sympathisieren.


Radikalisierung des Kampfes - Repression des Staates

Wie Ulrike Meinhof und andere Mitglieder der Bewegung beginnt Lettow, sich für benachteiligte Jugendliche aus Heimen zu engagieren, ist bei der Besetzung der Ekhofstraße im Jahr 1973 in Hamburg dabei, wo auch Fürsorgezöglinge eine neue Bleibe finden sollten und wo kostenlose medizinische Hilfe und Beratung für die vom Abriß bedrohten Bewohner im Stadtteil angeboten wurden. [6] Dann 1968 das Attentat auf Rudi Dutschke, den Sprecher der APO, der 1979 an den Spätfolgen starb, verursacht durch eine medial aufgeheizte Stimmung, besonders der Springer Presse, für die die Anhänger der APO Staatsfeinde waren. Es kommt zur Demonstration gegen den Springer Verlag und zur Verhinderung der Auslieferung der Bild-Zeitung.

Ende '68 stieß die APO an ihre Grenzen und spaltete sich in Rückkehrer zur SPD, K-Gruppen und radikalere linke Gruppierungen. Im selben Jahr setzten Andreas Baader und Gudrun Ensslin aus Protest gegen den Vietnamkrieg zwei Kaufhäuser in Frankfurt in Brand. Die Linke zerstritt sich in der Frage der Legitimität von Gewalt, der gegen Sachen, später der gegen Menschen. Die Aktion sah sich als Teil einer weltweiten Bewegung, wie auch der Angriff auf US-Stützpunkte in Frankfurt und Heidelberg, von wo aus Bomben nach Vietnam flogen. Die Befreiung Baaders am 14. Mai 1970 aus der Haft und das Abtauchen der Beteiligten in den Untergrund markierte den eigentlichen Beginn der RAF. In dieser Aktion, so Ulrike Meinhof später, seien schon alle Elemente des bewaffneten Kampfes enthalten gewesen.

Am 15. Juni 1972 wurde sie verhaftet. Aus der Zeit ihrer Isolation in der Vollzugsanstalt Köln-Ossendorf, in der sie für acht Monate, so lange wie kein Häftling zuvor, visuell und akustisch vollständig von der Außenwelt abgeschnitten war, Tag und Nacht kalkweiß gestrichenen Wänden und greller Neonbeleuchtung ausgesetzt, schreibt sie den "Brief aus dem toten Trakt", den Rolf Becker den Teilnehmern an diesem Abend noch einmal eindrücklich ins Gedächtnis rief:

Das Gefühl, es explodiert einem der Kopf (das Gefühl, die Schädeldecke müßte eigentlich zerreißen, abplatzen) - [...] das Gefühl, man stünde ununterbrochen, unmerklich, unter Strom, man würde ferngesteuert - das Gefühl, die Assoziationen würden einem weggehackt - [...]. Man kann nicht klären, ob man vor Fieber oder vor Kälte zittert - man kann nicht klären, warum man zittert - man friert. [...] Man kann die Bedeutung von Worten nicht mehr identifizieren, nur noch raten - der Gebrauch von Zisch-Lauten - s, ß, tz, z, sch - ist absolut unerträglich - [ ...]. Das Gefühl, innerlich auszubrennen - [...]. Rasende Aggressivität, für die es kein Ventil gibt. Das ist das Schlimmste. Klares Bewußtsein, daß man keine Überlebenschance hat; völliges Scheitern, das zu vermitteln; [...]. Das Gefühl, es sei einem die Haut abgezogen worden. [7]

Am 9. Mai 1976 wird Ulrike Meinhof tot in ihrer Zelle aufgefunden. Ein internationaler Untersuchungsbericht aus dem Jahr 1979 bestätigt Zweifel an einem Selbstmord durch Erhängen. Zu untypisch seien die vorgefundenen Merkmale an der Leiche für eine solche Todesursache. [8]

Obwohl laut einer Umfrage im November 1971 40 Prozent der bundesdeutschen Bevölkerung der RAF politische Ziele zugestanden, wurde eine solidarische Debatte um ihre Motive und die Bedingungen ihrer Inhaftierung kriminalisiert. Der damalige Innenminister Genscher begründete dies in seiner Rede vor dem Bundestag am 7.Juni 1972 so: "Die Sympathisanten sind das Wasser, in dem diese Guerilla schwimmt. Sie darf kein solches Wasser mehr finden." Der Film Bambule von Ulrike Meinhof über die Lage von Mädchen in der Heimerziehung, dessen Ausstrahlung im Fernsehen für den 24. Mai 1970 geplant war, durfte 22 Jahre lang nicht gezeigt werden, das Buch "Das Konzept Stadtguerilla" der RAF von 1971 wurde beschlagnahmt. Angehörige wurden verfolgt, Anwälte kriminalisiert. Das Gefangeneninfo wurde 30mal mit Verfahren überzogen, vor allem wegen Artikeln, die den Selbstmord der RAF-Gefangenen in Frage stellten.


"Modell Deutschland" - Kriminalisierung des Widerstands

Peter Nowak, dessen Politisierung nach eigenen Worten eher in den 80er Jahren stattfand, rief noch einmal die maßgebliche Verantwortung des damaligen Bundeskanzlers Helmut Schmidt für die Härte des Staates gegen die RAF, diesen Fleck in der bundesdeutschen Erfolgsgeschichte (Michael Sontheimer) in Erinnerung, der anläßlich seines Todes und Begräbnisses in Hamburg weitgehend unwidersprochen zum Helden stilisiert worden sei. Ulrike Meinhof, sagte Klaus Wagenbach an deren Grab, sei auch an den deutschen Verhältnissen gestorben, die sich, so Nowak, bis heute nicht geändert haben. Vielmehr sei Deutschland in den 70er Jahren aus der Vormundschaft der USA herausgetreten und habe angefangen, eine eigene imperialistische Politik zu betreiben, ein sozialistisches Ausscheren aus Europa und der Nato nicht geduldet, emanzipatorische Bewegungen in Portugal und Spanien in Zusammenarbeit mit den Geheimdiensten unterdrückt, vor einer sozialistischen Regierung in Italien gewarnt, einen Militärputsch zunächst in Griechenland, später in der Türkei mit Wohlwollen begleitet. Das "Modell Deutschland" sei eine Kampfansage gewesen an alle, die antagonistisch dachten, also die gesamte, damals auch jenseits der Sozialdemokratie noch starke Linke.

Diese Rückblicke waren für die, die dabei waren - und das waren die meisten in einem Publikum von überwiegend 50 plus, ein vielleicht überflüssiges Auffrischen zeitzeugenmäßiger Erinnerungen, für die Jüngeren, die immerhin, wenngleich in geringer Zahl, den Weg in den Hörsaal der Hamburger Uni gefunden hatten, dürfte die Fülle von Daten und Fakten, temporeich vorgetragen bzw. abgelesen, kaum nachvollziehbar, geschweige denn verständlich gewesen sein.

So bemerkte dann auch in der abschließenden offenen Runde ein junger Genosse, es erschlösse sich ihm nicht, inwieweit der bewaffnete Kampf als eine Weiterentwicklung der Proteste der 68er gedacht war: "Sollte das noch Bewußtseinswandel befördern, daß man Sachen in die Luft gehen läßt oder Leute erschießt?"

Dabei hielt das von Rolf Becker zuvor verlesene Pamphlet Ulrike Meinhofs aus dem Jahre 1967 bereits einige Spuren der Erklärung bereit:

Nicht Napalmbomben auf Frauen, Kinder und Greise abzuwerfen, ist kriminell, sondern, dagegen zu protestieren. Nicht die Zerstörung lebenswichtiger Ernten, was für Millionen Hunger und Hungertod bedeutet, ist kriminell, sondern der Protest dagegen. Nicht die Zerstörung von Kraftwerken, Leprastationen, Schulen und Deichanlagen ist kriminell, sondern der Protest dagegen. Nicht Terror und Folter durch Special Forces sind kriminell, sondern der Protest dagegen. Nicht die Unterdrückung einer freien Willensbildung in Südvietnam, das Verbot von Zeitungen, die Verfolgung von Buddhisten ist undemokratisch, sondern der Protest dagegen in einem "freien" Land. Es gilt als unfein, mit Pudding und Quark auf Politiker zu zielen, nicht aber, Politiker zu empfangen, die Dörfer ausradieren lassen und Städte bombardieren. Es gilt als unfein, auf Bahnhöfen und an belebten Straßenecken über die Unterdrückung des vietnamesischen Volkes zu diskutieren, nicht aber, im Zeichen des Antikommunismus ein Volk zu kolonialisieren. [9]

Und folgerichtig - auch aus diesem Artikel las Becker einige Zeilen, schrieb die Kolumnistin von konkret 1968: "Protest ist, wenn ich sage, das und das paßt mir nicht. Widerstand ist, wenn ich dafür sorge, daß das, was mir nicht paßt, nicht weiter geschieht." [10]


"Beweint nicht die Toten, ersetzt sie!"

In einem zweiten Beitrag faßte Wolfgang Lettow noch einmal zusammen, wofür Ulrike Meinhof stand: für den Kampf gegen die herrschenden Verhältnisse, gegen die Ausbeutung der Länder des Trikont, gegen die Unterdrückung nach außen wie nach innen, gegen eine Verschärfung der (Überlebens)bedingungen in Heimen und Knästen. Die Mißstände hätten sich in den letzten 40 Jahren nicht verbessert, sondern eher verschärft und warteten noch immer auf Veränderung. Er erinnerte an die Kriegseinsätze Deutschlands in 16 Ländern der Welt, den Aufstieg nach der Wiedervereinigung zur stärksten Macht in Europa, die Strangulierung Griechenlands, die Lage der Kurden in Kobane - an Verschärfungen im sozialen Bereich, Stichwort Agenda 2010, die als Vorbild für Europa dienten, die Lage vor allem kurdischer Gefangener und Mitglieder der PKK in deutschen Gefängnissen.

Das alles liefe nahezu ohne öffentlichen Widerstand. Isolationsfolter sei ein Exportartikel in andere Länder geworden, z.B. die Türkei, die Rechte von Gefangenen, in Hungerstreiks erkämpft, seien zurückgedreht worden.

Die Vereinzelung, von der Ulrike Meinhof schon 1974 erklärte, sie sei die Bedingung für Isolation, der Krieg aller gegen alle, das System der Angst, der herrschende Leistungsdruck, das Leben auf Kosten anderer habe sich potenziert, Existenzsicherung werde immer schwieriger. Die Allmacht des Systems beeinflusse auch die eigene politische Praxis, der Glaube daran, daß man etwas erreichen kann, ginge verloren. Um so mehr bliebe Widerstand vonnöten.

Das Prinzip Stadtguerilla sei, so eine Teilnehmerin, die selbst lange Zeit in Haft war, von vornherein ein Versuch gewesen, der selbstverständlich auch scheitern konnte. Diese Form antiimperialistischen Widerstands habe damals weltweit Verbreitung gefunden wie etwa in Gestalt der Tupamaros in Uruguay, der Montoneros in Argentinien oder der Sandinisten in Nicaragua. Die Diskussion um Gewalt müsse geführt werden, es müsse reflektiert werden, was gewesen ist. Sich nicht distanzieren, nicht zulassen, daß das alles unter dem Mantel der Geschichte verschwindet, sich nicht befrieden lassen, das Feuer im Kopf schüren, aus den Erfahrungen lernen, war der Tenor in verschiedenen abschließenden Redebeiträgen, die wesentlich zu einer Veranstaltung beitrugen, die mit über 60 Besuchern die Erwartung übertroffen hatte. Wir wissen heute nicht, wie wir kämpfen können, bemerkte einer, es gebe keine Strategie, keine Vorstellung, das sei das Problem. Alle Wut und Verzweiflung werde nichts nutzen, betonte Rolf Becker, wenn man nicht die Frage nach den Kräfteverhältnissen stellt. Ein Ausweg sei schwierig, eine Gegenöffentlichkeit herzustellen, dazu brauche es Geduld. Peter Nowak ergänzte, daß jede neue Bewegung gesellschaftliche Grundsatzfragen stellen muß, sonst sei sie so schnell wieder verschwunden wie Occupy. Sensibilität und Empathie seien Voraussetzung für politisches Handeln, erinnerte eine Teilnehmerin nicht nur an Ulrike Meinhof, sondern auch an den Widerstand von Frauen im Dritten Reich, nicht ausschließlich mit der Waffe, sondern auch mit Flugblättern.

An den angeregten Debatten weit über das Ende hinaus war abzulesen, daß Bedarf an einer Wiederaufnahme bzw. Fortführung des Streits um Strategie und Taktik, Inhalt und Methode besteht. Und daß es keine Antworten gibt. Was früher Vietnam war, ist heute Kurdistan, Syrien, Ende Gelände. Es lohnt eine Zeitreise, zu der die Veranstalter eingeladen hatten, in die Geschichte von Protest und Widerstand weltweit, doch auch die Solidarität mit den weiterhin Verfolgten aus der RAF war den Teilnehmern ein Anliegen. "Revolutionäre Geschichte aneignen und verteidigen!" - mit diesem Motto waren weitere Veranstaltungen in Berlin, Frankfurt, Wuppertal und Magdeburg überschrieben, Marginalien im breiten Strom geschichtspolitischer Vergessenskultur und gerade deshalb unverzichtbare Brücken in eine Zukunft sozialer Widerständigkeit.

Jürgen Schneider schloß die Veranstaltung, die in der Schärfe der Analyse und der Radikalität ihrer Argumentation an frühere Debatten sicherlich nicht heranreichte zu einer Zeit, als Antifaschismus und Antiimperialismus noch nicht voneinander zu trennen waren, die aber Fragen aufwarf und Schwachpunkte einer heutigen linken Praxis deutlich werden ließ, mit den Worten von Christian Geissler: "Beweint nicht die Toten, ersetzt sie." [11]


Anmerkungen:


[1] "Es kann kein Zweifel bestehen: Ulrike Meinhof hat dieser Gesellschaft den Krieg erklärt, sie weiß, was sie tut und getan hat, aber wer könnte ihr sagen, was sie jetzt tun sollte? Soll sie sich wirklich stellen, mit der Aussicht, als die klassische rote Hexe in den Siedetopf der Demagogie zu geraten?"
Heinrich Böll in: Der Spiegel 3/1972

[2] Stefan Aust: Der Baader-Meinhof-Komplex. Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 1985, völlig überarbeitete und ergänzte Neuausgabe 2008

[3] Markus Lanz
http://www.zdf.de/ZDFmediathek/kanaluebersicht/aktuellste/509418#/beitrag/video/2720464/Markus-Lanz-vom-12-Mai-2016

[4] http://www.stern.de/kultur/film/ -der-baader-meinhof-komplex--das-sagen-jugendliche-zum-raf-film-3735886.html

[5] Junge Welt vom 07./08.05.2016

[6] BERICHT/147: Als wir Häuser besetzten - Geschichten der Ekhofstraße (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prbe0147.html

[7] aus: Ausgewählte Dokumente der Zeitgeschichte: Bundesrepublik Deutschland (BRD) - Rote Armee Fraktion (RAF), GNN Verlagsgesellschaft Politische Berichte, 1. Auflage Köln Oktober 1987, Nr. 8, S. 90f

[8] Der Tod Ulrike Meinhofs. Bericht der Internationalen Untersuchungskommission
www.socialhistoryportal.org/raf/5520

[9] Ulrike Meinhof in konkret Nr. 5, 1967, in: Die Würde des Menschen ist antastbar, Berlin Wagenbach 2008, S. 92 ff, Napalm und Pudding

[10] Ulrike Meinhof in konkret Nr. 5, 1968, in: Die Würde des Menschen ist antastbar, Berlin Wagenbach 2008, S. 138 ff, Vom Protest zum Widerstand

[11] Der als Außenseiter innerhalb der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur diskreditierte Christian Geissler zeichnet in dem 1976 veröffentlichten "Wird Zeit, dass wir leben" das Bild vom Tagesablauf einer kämpfenden Gruppe und vom Leben in der Illegalität nach. Er greift dazu auf Berichte aus dem Widerstand gegen den NS-Staat und auf Eindrücke, die er Anfang der 70er Jahre in der Zusammenarbeit mit der RAF gesammelt hat, zurück. Geissler war Mitbegründer des Hamburger Komitees gegen Folter an politischen Gefangenen.


29. Mai 2016


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