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BERICHT/269: Gegenwartskapitalismus - Staatsverhängnis, Volksgefängnis ... (SB)




F. Kav spricht, in Großaufnahme - Foto: © 2017 by Schattenblick

Fuat Kav
Foto: © 2017 by Schattenblick

Ist der Staat Teil der Lösung oder Teil des Problems? Auf eine solche, zugegeben plakative Formel gebracht ließe sich eine Diskussion bringen, die in ihren Ansätzen unverkennbar bereits geführt wird, aber noch nicht den gesellschaftlichen Durchbruch erlangt hat, der ihr gebührt. Die soziale Frage, keineswegs eingedämmt und brennender denn je, wie auch die kaum noch in Abrede zu stellende Tatsache, daß die zurückliegenden Jahrhunderte kapitalistisch organisierter und repressiv durchgesetzter Produktions- und, damit eng verzahnt, Verfügungs- und Eigentumsverhältnisse, die für den Menschen nutzbaren Lebensbedingungen auf diesem Planeten weitgehend geschädigt und ruiniert haben, stehen immer mehr im Mittelpunkt des allgemeinen Interesses mit der Folge, daß die herrschenden Verhältnisse und ihre Nutznießer mehr und mehr in Frage gestellt werden.

Kapitalismuskritik, einst in den Ruch der Parteinahme für sozialistische oder kommunistische Positionen gestellt, scheint heute gesellschaftsfähig geworden zu sein, solange sich ihre Protagonisten mit den zivilgesellschaftlich vorgeebneten Bahnen der Protestes begnügen. Die Eliten in Staat, Politik und Wirtschaft bleiben angesichts dieser sich möglicherweise noch radikalisierenden Kritik offenbar nicht untätig und suchen, um eine aus ihren Augen schlimmere Entwicklung noch vor ihrer Entstehung zu stoppen, ihre bisherigen Strategien der Integration und Einbindung noch zu verstärken.

So hat, um nur ein Beispiel zu nennen, der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen 2011 einen "Gesellschaftsvertrag für Transformation" propagiert, um der Gefährdung der Existenzgrundlagen heutiger und künftiger Generationen entgegenzuwirken. Zu diesem Zweck solle ein "zeitgemäßer Ordnungsrahmen" geschaffen werden und auf der Basis eines "breiten gesellschaftlichen Dialogs" zu einer Übereinkunft führen, bei der "Individuen und zivilgesellschaftliche Gruppen, Staaten und die Staatengemeinschaft sowie Unternehmen und Wissenschaft gemeinsame Verantwortung für den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen übernehmen". Zentrales Element dieses Gesellschaftsvertrags sei der "gestaltende Staat mit deutlich erweiterter Bürgerbeteiligung". [1]

Propagiert wird auf der Basis einer Sachzwanglogik, die mit der bereits realen wie drohenden Klimakatastrophe begründet wird, ein gesamtgesellschaftlicher Schulterschluß unter staatlicher oder auch überstaatlicher Führung, dem sich alle Menschen, so als säßen sie "in einem Boot", unterzuordnen hätten. Das mit dem Prinzip Staat verknüpfte Versprechen, in ihm und durch ihn die bestmöglichen Lebensbedingungen für die in ihm lebenden Menschen sicherstellen zu können, erfährt hier noch eine Steigerung durch die Propagierung des "gestaltenden" Staates, der sich im Unterschied zu dem lediglich die Rahmenbedingungen gewährenden liberalen Rechtsstaat in alles einmischt, was er für gestaltungswürdig erklärt.


Zukunftsfrage Anarchismus

Mit der Einschätzung vieler Menschen, daß die heutigen Eliten in Staat, Gesellschaft und Wirtschaft die herrschende Verwertungsordnung zu Lasten großer Bevölkerungsteile sowie der Umwelt stets gegen jeden Widerstand und Protest durchsetzen, haben derartige Konzepte selbstverständlich nicht das Geringste zu tun. Sie lassen Staat und Kapitalismus, wo sie sind, und definieren die Problem- und Lösungsfelder weit außerhalb. Wird jedoch der kapitalistische Staat oder auch das Prinzip Staat generell in Analyse und Kritik miteinbezogen oder sogar in ihren Mittelpunkt gerückt, stehen Fragen und Positionen zur Debatte, die ideengeschichtlich wie auch im Verlauf der historischen Ereignisse seit der Entstehung des Kapitalismus keineswegs neu sind.

Anarchistische Bewegungen haben den Verlauf seitdem in einem womöglich weitaus größeren Umfang, als allgemein bekannt ist, beeinflußt und bestimmt. Daß sich Staatlichkeit bzw. das Konzept des Nationalstaats als unfähig und kontraproduktiv für die Bewältigung oder auch nur Inangriffnahme der anstehenden, noch völlig ungelösten Menschheitsprobleme erweisen könnten, scheint den französischen Filmemacher Tancrède Ramonet zu seinem 2013 von ARTE produzierten zweiteiligen Dokumentarfilm "Kein Gott, kein Herr! - Ein kleine Geschichte der Anarchie" [2] veranlaßt zu haben. Im Programm der ARD wurde die auch ins Deutsche übertragene Filmdokumentation wie folgt angekündigt: [3]

Der Anarchismus brachte die Welt immer wieder ins Wanken, ermöglichte aber auch die ersten sozialen Errungenschaften und beeinflusste die großen Revolutionen des 20. Jahrhunderts. Wo nahm diese Bewegung ihren Anfang, die seit 150 Jahren jeden Herrn und jeden Gott ablehnt? Warum ist der Anarchismus, der eine bessere Welt wollte als die, die sie früher war, noch immer aktuell? Warum ist seine Geschichte mehr denn je die unsere?


Ist ein Leben ohne Staat heute überhaupt möglich?

In der kurdischen Geschichte steht diese Frage keineswegs in einem theoretischen Kontext, wurde dem kurdischen Volk, von zwischenzeitlichen, anderslautenden Versprechungen einmal abgesehen, die Gründung eines eigenen Staates doch stets verwehrt. Wenn die kurdische Bewegung heute diese Frage stellen und mit einem klaren Ja beantworten kann, liegt dem eine jahrzehntelange Auseinandersetzung und Diskussion zugrunde, aber auch, was die jüngere Geschichte betrifft, konkrete Alltagserfahrungen beim Aufbau nicht-staatlicher Gesellschaftskonzepte wie dem Demokratischen Konföderalismus. In einer Zeit, in der die gesellschaftspolitischen Auseinandersetzungen in vielen Regionen der Welt so zugespitzt sind, daß mehr und mehr Fragen dieser Art gestellt werden, könnten sich die von der kurdischen Bewegung in den Selbstverwaltungsgebieten Rojavas gemachten Erfahrungen auch für Menschen in anderen Erdteilen, Kulturen und Lebenszusammenhängen als nützlich erweisen.

Auf der von einem Zusammenschluß kurdischer Organisationen und Netzwerke veranstalteten Konferenz "Die kapitalistische Moderne herausfordern III - Demokratische Moderne entfalten - Widerstand, Rebellion, Aufbau des Neuen", die vom 14. bis 16. April an der Universität Hamburg stattfand, standen Fragen und Diskussionen dieser Art auf dem Programm. In Session III, die am zweiten Konferenztag dem Thema "Wege, das Neue aufzubauen und zu verteidigen" gewidmet war, nahm mit Fuat Kav ein langjähriger Mitstreiter der kurdischen Befreiungsbewegung an der Podiumsdiskussion teil. Nach seiner Verhaftung im Jahre 1980 verbrachte er, wie er selbst sagte, 20 Jahre, 6 Monate und 6 Tage im Gefängnis. Nach seiner Freilassung betätigte er sich publizistisch. Seit 2003 lebt er im Exil und arbeitet mit vielen demokratischen und zivilgesellschaftlichen Organisationen in Europa zusammen.


Die Genannten nebeneinander am Podiumstisch sitzend - Foto: © 2017 by Schattenblick

Session III der Konferenz "Die kapitalistische Moderne herausfordern III" mit Zilan Yagmur, Raul Zibechi, David Graeber, Simon Dubbins, Fuat Kav und Miguel Juaquin (v.l.n.r.)
Foto: © 2017 by Schattenblick


Unverzichtbarkeitsglaube in Frage gestellt

In seinem Vortrag über den Staat bzw. die Überwindung des Staates stellte er zunächst die Frage, was der Staat überhaupt sei, was es bedeute, in einem Staat zu leben und ob eine Gesellschaftsform ohne Staat möglich sein könnte. Diese Diskussionen seien in der kurdischen Gesellschaft immer wieder geführt worden, wobei sich bereits gezeigt habe, daß auch ohne Staat ein gesellschaftliches Zusammenleben aufgebaut werden kann. Der Staat seinerseits habe immer versucht, sich gegenüber der Gesellschaft bzw. den Menschen zu legitimieren. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, würden fast alle Menschen, auch Wissenschaftler, aber vor allem auch Marxisten und sogar Befreiungsbewegungen, den Staat für unverzichtbar halten. Vielleicht sei es möglich, auch ohne ihn klarzukommen, wie manche einschränkten, aber zunächst einmal werde er als etwas Gegebenes angesehen.

Dabei sei er, so Kavs Auffassung, in jeder Beziehung das Grundübel, was sich in der Geschichte beispielsweise auch der Sowjetunion gezeigt habe. Abdullah Öcalan, der in der Türkei inhaftierte Vorsitzende der verbotenen Kurdischen Arbeiterpartei (PKK), habe zur Frage des Staates gesagt, daß mit ihm keine gute Sache aufgebaut werden könne. Das Prinzip Staat beinhalte einen Mechanismus des Militarismus, der Polizei und der Bürokratie, der dazu führe, daß jeder, der ihn in Händen hält, dieser Funktionalität geopfert werde. Das gelte auch für Menschen, die zunächst mit einer guten Gesinnung angefangen hätten, Sozialisten waren oder einer bestimmten Klasse angehörten, und dann aber doch von dem Staat, den sie aufbauen wollten, geformt wurden. Sie haben sich, wenn man es so ausdrücken wollte, dem Staat ergeben.

Der Referent favorisiert ein Demokratieverständnis, demzufolge auch von einem sozialistischen Staat nicht gesagt werden könne, daß er demokratisch sei. Wo ein Staat ist, könne keine Demokratie sein, wo Demokratie ist, könne kein Staat sein. Freiheit und Staat seien zwei Dinge, die sich vollkommen widersprechen und gegenseitig ausschließen. Sobald irgendwo ein Staatsmechanismus aufgebaut wird, könne es dort keine Demokratie mehr geben, ganz unabhängig davon, wie er sich nennt - ob Sozialismus, Diktatur des Proletariats oder kapitalistische Moderne. Bakunin [4] habe gesagt, daß selbst ein Engel, auf den Sitz der Regierung gestellt, irgendwann zum Teufel werde.


Staatsdoktrin religiös verbrämt?

Öcalan sei in seiner Analyse zu dem Schluß gekommen, daß jeder Staat sein eigenes Dasein glorifizieren und sich selbst als etwas Unverzichtbares und Unüberwindbares in nahezu religiös aufgeladener Weise darstellen würde, so als wäre er der Stellvertreter Gottes oder Allahs auf Erden, der in dessen Namen alle Gewalt in sich konzentriert und in die Praxis umsetzt, ob nun in schlechten oder guten Dingen. Vom Wesen her sei jeder Staat gleich, so habe Öcalan gesagt, auch wenn es verschiedene Ideologien oder Unterschiede in der Umsetzung gäbe. Von einer Handvoll Profiteuren abgesehen, werden alle Menschen unterdrückt, ausgebeutet und zum Schweigen gebracht, der Staat monopolisiere und baue seine Herrschaft über die Gesellschaft immer weiter aus.


F. Kav am Rednerpult - Foto: © 2017 by Schattenblick

Der Staat - ein Stellvertreter Gottes oder Allahs auf Erden?
Foto: © 2017 by Schattenblick

Wenn dies alles Gründe seien, das Prinzip Staat zu bekämpfen und überflüssig zu machen, wäre doch zu fragen, wie dies in Angriff genommen werden und gelingen kann. Zunächst einmal müsse der Staat theoretisch und ideologisch überwunden werden, denn solange er auf dieser Ebene nicht analysiert und verstanden wird, könne niemand zu dem Schluß kommen, auch ohne ihn leben zu können. In unserer Mentalität und unserem Bewußtsein gäbe es nach einer fünftausendjährigen Geschichte staatlicher Versuche, sich auch das kommunale Leben unterzuordnen, tiefe Spuren dieses Denkens, die wir in uns selbst bekämpften müßten. In unseren Seelen wie auch in unseren Gedanken habe sich eine Herrschaft der Furcht eingenistet, die wir jedoch überwinden können, so Kav.

In Kurdistan, wo schon seit so langer Zeit ein schreckliches Ausmaß an Unterdrückung herrscht und die Autonomie des kurdischen Volkes negiert wird, hätten sich die Menschen innerlich schon längst vom Staat, insbesondere dem türkischen, gelöst. Das beste Beispiel dafür seien die Frauen, die jeden Tag aufs Neue ihren Widerstand zum Ausdruck bringen. In seiner eigenen Haftzeit sei von ihm und seinen Mitgefangenen immer wieder verlangt worden, sich zu ergeben, den (türkischen) Staat zu akzeptieren und ihrer eigenen Lebensart abzuschwören, wozu sie immer nein gesagt hätten. Deshalb seien, so die Schlußfolgerung des Referenten, nicht die kurdischen Gefangenen, die sich gedanklich nicht hätten gefangennehmen lassen, sondern der Staat und seine Ideologie als Verlierer aus dieser Auseinandersetzung hervorgegangen.


Das Undenkbare denken

Wiewohl es auf dem Weg der Befreiung erforderlich sei, den Glauben an die Unverzichtbarkeit des Staates theoretisch und ideologisch zu analysieren, sei er damit allein nicht zu überwinden. Nur eine große Organisation, die auch die Jugend und die Frauen einschließt, könne die Aufgabe, eine Gesellschaft ohne Staat aufzubauen, in Angriff nehmen und bewerkstelligen. Wie sonst, wenn nicht durch den Aufbau von etwas Neuem durch eine dementsprechende Organisation, könne der Staat überflüssig gemacht werden, fragte der Referent im vollbesetzten Audimax der Universität Hamburg und konnte sich der gespannten Aufmerksamkeit der Zuhörenden an diesen keineswegs ausschließlich die kurdische Bewegung betreffenden und deshalb für sie interessanten Fragen sicher sein.


Blick auf das Audimax - Foto: © 2017 by Schattenblick

Von grundlegendem Interesse - Fragen nach Staat, Gott und Befreiung
Foto: © 2017 by Schattenblick


Fußnoten:


[1] Ein Gesellschaftsvertrag für die Transformation. Factsheet Nr. 1/2011, Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU), www.wbgu.de

[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Kein_Gott,_kein_Herr!_Eine_kleine_Geschichte_der_Anarchie

[3] http://programm.ard.de/TV/Programm/Jetzt-im-TV/?sendung=28724104895631

[4] Michail Bakunin (1814-1876) war ein russischer, international tätiger Anarchist. Er gilt als Vordenker eines Kollektivistischen Anarchismus, worunter die Abschaffung des Staates wie auch des Privateigentums an Produktionsmitteln zu verstehen ist.


Beiträge zur Konferenz "Die kapitalistische Moderne herausfordern III" im Schattenblick unter:
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26. Mai 2017


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