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BERICHT/311: Pflegenot - Menschenrecht Gesundheit ... (2) (SB)



Die beispiellose Verrechtlichung von Arbeitskämpfen in der Bundesrepublik hat das traditionelle Feld der Auseinandersetzung antagonistischer gesellschaftliche Kräfte in ein Szenario des kodifizierten, ritualisierten und nicht selten symbolischen Abtausches verwandelt. Kaum hat ein Keim der Streikbereitschaft das Tageslicht erblickt, als auch schon die bange Frage im Raum steht, ob man das überhaupt darf und welchen Regeln folgend es gegebenenfalls vor sich gehen könnte. Der wilde Streik ist als Todsünde verfemt, der bloße Gedanke an einen politischen Streik zieht das Verdikt der Exkommunikation nach sich. Wie konnte es dazu kommen, daß zwar nach wie vor alle Räder stillstehen, wenn der starke Arm der lohnabhängig Beschäftigten es will, jedoch dieser Wille im Gestrüpp juristischer, administrativer und institutioneller Schlingpflanzen geschrumpft und verkümmert ist?

Das hat viel mit den Errungenschaften der Arbeiterbewegung zu tun, die seit Bismarcks Sozialgesetzen das erkämpfte bessere Leben nur im Zaumzeug systemkompatibler Duldsamkeit genießen darf. Was staatlicherseits als rechtlich verankertes Lehen gewährt wird, kann jederzeit kraft neuer gesetzlicher Verfügungen wieder entzogen werden. Es hat mit den Gewerkschaften zu tun, deren führende Repräsentanten im Zuge der paritätischen Mitbestimmung satter Pfründe und einflußreicher Posten in den Aufsichtsräten der Konzerne teilhaftig wurden. Sie bedienten ihre Kernklientel in Gestalt einer Arbeiteraristokratie, deren Festanstellung und ansehnlichen Einkünfte die Spaltung von dem wachsenden Heer prekär Beschäftigter und Erwerbsloser zementierte. Zu nennen ist insbesondere die von der rot-grünen Bundesregierung unter Schröder und Fischer forcierte Umwälzung von Arbeitswelt und Gesundheitssystem, welche die Verwertungskrise des Kapitals mittels einer Demontage des Sozialstaats in einen Konkurrenzvorteil der deutschen Ökonomie ummünzte.

So wird der Mensch als Konkurrent mit seinesgleichen auf die Ultima ratio reduziert, daß nach oben zu buckeln und nach unten zu treten die einzig gültige Überlebensmaxime sei. Daß es anderen im eigenen Land und erst recht jenseits der Grenzen noch viel schlechter geht, macht den Bundesbürger zum beteiligten Sachwalter eines Umlastregimes, in dessen Fesseln selbst der Impuls, sich zu wehren und den Kampf gegen die erdrückenden Wuchten aufzunehmen, zu ersticken droht. Daß Resignation und Unterwerfung trotz alledem nicht die ausschließliche Handlungskonsequenz sein muß, wird im folgenden zweiten Teil des Berichts über die Kämpfe der Beschäftigten im Pflegebereich deutscher Kliniken vertieft. Dabei soll es insbesondere um Fragen der Spaltung und Solidarität, der Schaffung kollektiver Bündnisse wie auch des Verhältnisses der unorganisierten und gewerkschaftlichen Basis zum Apparat von ver.di gehen.


Stehend beim Vortrag - Foto: © 2018 by Schattenblick

Foto: © 2018 by Schattenblick


Arbeitskämpfe in Berlin, Hamburg und Bremen

Der 160. Jour Fixe der Hamburger Gewerkschaftslinken [1], gemeinsam veranstaltet mit labournet tv [2], stand am 3. März in den Räumen der Föderation demokratischer Arbeitervereine (DIDF) [3] unter dem Thema "Kämpfe in Krankenhäusern in Hamburg, Bremen und Berlin - Organisierung von Pflegebündnissen - die Macht der Öffentlichkeit". Eröffnet von Dieter Wegner, der zu den Gründungsmitgliedern des Jour Fixe gehört, und moderiert von Bärbel Schönafinger von labournet tv gab das Treffen Berichten und Diskussionen im Kontext der Mobilisierungen und Streiks in den Kliniken mehrerer Städte Raum. Aus Berlin waren Michael K. (Krankenpfleger) und Silvia Habekost (Pflegerin im Vivantes Klinikum) zu Gast, aus Bremen Ariane Müller (Krankenschwester und Mitbegründerin des dortigen Pflegebündnisses), und für das Hamburger Pflegebündnis [4] sprach Christoph Kranich, der in der Verbraucherzentrale für Gesundheits- und Patientenschutz zuständig ist. Nachdem im ersten Teil des Berichts von dem Projekt labournet tv und den Streiks an der Berliner Charité in den Jahren 2015 und 2017 die Rede gewesen war, kommen wir nun zunächst zum Arbeitskampf der Beschäftigten bei Charité Facility Management (CFM) im Sommer 2017. CFM ist die größte unter mehreren Töchtern des Klinikkonzerns Charité und umfaßt den gesamten Versorgungsbereich.


Streik bei CFM in Berlin im Sommer 2017

Wie die Streikenden in einem Film berichten, arbeiten sie immer noch für weniger als 10 Euro. Manche Kollegen müssen nebenbei Flaschen sammeln, andere aufstocken, um über die Runden zu kommen. Sie verdienen 1100 Euro im Monat, und da die Mieten in Berlin bei 600 Euro liegen, bleibt ihnen kaum genug übrig, den Lebensunterhalt zu bestreiten. Deswegen haben sie sich entschlossen zu streiken und dem Senat klarzumachen, daß es so nicht weitergeht. Die Mitarbeiter seien heillos überfordert, weil Personalmangel herrscht. Sie fordern gleichen Lohn für gleiche Arbeit und kämpfen für jeden Beschäftigten, gleich welcher Nationalität er angehört. Sie kämpfen gegen die sachgrundlosen Befristungen, bei denen die Leute alle zwei Jahre ausgetauscht werden.

"Ohne uns geht gar nichts, ob das Reinigung ist, Krankentransport, Logistik, Sicherheit." Der Zusammenhalt der Beschäftigten im Streik sei überwältigend, der Müll habe sich ins Unermeßliche gestapelt, in vielen Bereichen sei die Versorgung ausgefallen, selbst der externe Krankentransport wurde ausgesetzt. In diesem Arbeitskampf, der auch mit Aktionen an anderen Kliniken geführt wird, spielen Streikversammlungen eine zentrale Rolle. Es werde nicht länger im kleinen Kreis entschieden, man entwickle eine gewisse Basisdemokratie. Dies sei ein politischer Kampf, der auf der Straße ausgetragen wird: "Wir lassen uns nicht gegen die Charité ausspielen (...) und wünschen uns, daß die gesamte Belegschaft auf die Barrikaden geht. Der harte Kern der Streikenden ist bereit, notfalls wochenlang zu streiken."


Was ist seither bei der CFM passiert?

Dazu führte Michael K. aus, daß gemeinsame Streiktage mit der Vivantes Service Gesellschaft (VSG) beim Vivantes-Konzern, der zu 100 Prozent dem Berliner Senat gehört, durchgeführt wurden. Die Kollegen wollen den Senat in die politische Pflicht nehmen, Veränderungen herbeizuführen, und sind bereit, dafür im Arbeitskampf Druck zu machen. Ein Gerichtsentscheid untersagte den Kollegen der VSG weiterzustreiken, weil sie die Rückführung in den Vivantes-Konzern gefordert hatten, was nicht tariffähig und damit auch nicht streikfähig sei. Das galt zwar nur für einen einzigen Tag, doch wurde der Streik danach nicht fortgesetzt. Aufgrund des politischen Drucks der Belegschaften beider Firmen wurde jedoch im Berliner Koalitionspapier festgelegt, daß man die CFM zum 1. Januar 2019 als 100prozentige Tochter in die Charité zurückholt. Die Löhne sollen erhöht werden, nach Möglichkeit in Richtung des Tarifvertrags Öffentlicher Dienst (TVÖD). Die Kollegen der VSG würden als Kompromiß gerne einen Tarifvertrag von 90 Prozent TVÖD haben, sofern darin festgehalten ist, daß sie zu einem bestimmten Zeitpunkt 100 Prozent bekommen. Das würden die Kollegen der CFM auch gerne haben. Angeboten wurde ihnen zunächst ein tariflicher Grundlohn von 11 Euro. Sie haben daraufhin einen Staatssekretär des Senats damit konfrontiert, daß dies ein Angebot auf Altersarmut sei. Dann wurden 11,50 Euro angeboten.

Die Tarifkommission der CFM beschloß mit Hilfe des zuständigen Gewerkschaftssekretärs, eine Abstimmung unter den ver.di-Mitgliedern durchzuführen. Zweidrittel lehnten die Vorschläge ab, weil die zur Wahl stehenden Möglichkeiten keine definitive Staffelung bis zum Erreichen des TVÖD vorsahen. Wenngleich es derzeit also keinen Tarifvertrag gebe, sei die Stimmung bei den Streikwilligen der CFM gut. Sie seien jetzt dabei, bei ver.di neue Streiktage zu beantragen, was bei einer Gewerkschaft in Deutschland nicht ganz einfach sei, so der Referent. Es werde einigen Kampf bei ver.di kosten und sicher kein Selbstläufer sein.


Portrait bei Vortrag - Foto: © 2018 by Schattenblick

Silvia Habekost
Foto: © 2018 by Schattenblick


Stand bei Vivantes und im Pflegebündnis Berlin

Silvia Habekost berichtete über die aktuelle Situation bei Vivantes und im Berliner Pflegebündnis. Vivantes ist mit 17.000 Beschäftigten noch größer als die Charité, zusammen versorgen sie fast die Hälfte der Patienten in der Stadt. Die dreizehn ausgelagerten Töchter sind alle im Besitz von Vivantes. Seit 2014 bekommen die Beschäftigten in der Pflege zu 100 Prozent TVÖD. Um das zu finanzieren, hat der Konzern noch stärker ausgelagert, damit er an den Löhnen sparen kann. Er wollte sogar die Therapeutinnen und Therapeuten ausgliedern, wogegen die ver.di-Aktiven organisiert haben, zeitgleich mit den Tarifkämpfen bei der Charité. Wenngleich es rückblickend gesehen besser gewesen wäre, gemeinsam zu streiken, sei der aktive Kreis bei Vivantes einfach zu klein gewesen, um alles zusammen zu bewältigen. Es wurde die Kampagne "Zusammenstehen" mit drei Forderungen ins Leben gerufen: Mehr Personal, TVÖD für alle (auch für die Töchter) und Rückführung aller Töchter. Die unbefristeten Therapeutinnen konnten ihre Ausgliederung verhindern, die Tochter nahm nur neu Eingestellte auf.

Man habe sich auf die VSG konzentriert, deren Streik am wirksamsten wäre. Sie steht seit zwei Jahren in Tarifverhandlungen, ist aber noch keinen konkreten Schritt weitergekommen. Insbesondere die Forderung TVÖD für alle lehnt der Arbeitgeber entschieden ab, obgleich es lediglich um 300 Beschäftigte geht. Die Verbindung zu den Kollegen bei CFM war schon deshalb wichtig, damit Vivantes nicht während eines Streiks die Arbeit dorthin auslagern konnte. Im Pflegebereich hatten Vivantes und Charité 2015 zwei gemeinsame Streiktage in der TVÖD-Runde. Bei Vivantes wurde eine Tarifkommission zum Thema Entlastung gewählt. Die Vereinigung Kommunaler Arbeitgeber (VKO) hat jedoch als Bundesverband den kommunalen Arbeitgeberverbänden verboten, Tarifverhandlungen zum Thema Entlastung aufzunehmen, bei Zuwiderhandlung droht der Ausschluß aus dem Bundesverband. Da habe ver.di kalte Füße bekommen und der Tarifkommission keine Verhandlungvollmacht für den Tarifvertrag Entlastung erteilt. So sei der Bewegung in voller Fahrt ein Bremsklotz verpaßt worden.

Das Bündnis "Berlinerinnen und Berliner für mehr Personal im Krankenhaus" begann 2015 zeitgleich zu den Kämpfen an der Charité Unterschriften dafür sammeln, daß in den damals gerade verhandelten Krankenhausplan verbindliche Personalbemessungen eingefügt werden. Es wurden 7000 Unterschriften gesammelt, doch was diesbezüglich in den Plan aufgenommen wurde, war nicht verbindlich.


Kampagne für einen Volksentscheid in Berlin

Im Zuge der Kampagne für einen Volksentscheid in Berlin wurde ein Gesetzentwurf formuliert, der Mindestgrenzen für Krankenhauspersonal vorsieht. Zudem soll das Land Berlin eine feste Quote in die Krankenhäuser investieren, damit die Pflegekräfte bezahlt werden können. Die Pflegearbeit muß aufgewertet werden, es muß genug Personal da sein, um alle zu versorgen. Silvia Habekost berichtete, daß seit dem 1. Februar Unterschriften gesammelt werden. Im Entwurf für das Landeskrankenhausgesetz sind Qualitätsvorgaben enthalten. Um den Personalbedarf festzustellen, wurden die Regeln aus dem Tarifvertrag der Charité weitgehend übernommen. Die Häuser sollen verpflichtet werden, ihre Zahlen offenzulegen, und müssen mit Konsequenzen rechnen, wenn sie diese nicht einhalten. Erforderlich sind nun im ersten Schritt mindestens 20.000 Unterschriften, die binnen eines halben Jahres gesammelt werden müssen.

Als kürzlich Unterschriften am Vivantes-Klinikum gesammelt werden sollten, aber mit Schwierigkeiten zu rechnen war, wurde sicherheitshalber die ver.di-Regionaldirektorin telefonisch über das Vorhaben informiert. Sie wollte jedoch eine Email entsprechenden Inhalts haben, die dann prompt an die Geschäftsführung weitergeleitet wurde. Diese sprach sich gegen den Volksentscheid aus und untersagte öffentliche Sammelaktionen in den Vivantes-Häusern. Deshalb wurden Unterschriften vor dem Krankenhausgelände gesammelt. Die Unterschriftenlisten liegen aber auf den Stationen aus, viele sind schon ausgefüllt zurückgekommen. Nun gehe es darum, kräftig zu mobilisieren, so Silvia Habekost.


Stehend neben Projektion mit Plakat zum Hamburger Volksentscheid - Foto: © 2018 by Schattenblick

Christoph Kranich
Foto: © 2018 by Schattenblick


Das Hamburger Bündnis für mehr Personal

In einem Film über den Streik am AK St. Georg in Hamburg im Jahr 2016 kam zur Sprache, daß die Kollegen bei Streiks im produzierenden Gewerbe einfach ihre Maschinen abschalten. Das sei in der Klinik nicht so einfach, da man die Patienten nicht alleinlassen wolle. Es sei jedoch möglich, die Betten wegzustreiken, wie es die Kolleginnen an der Charité vorgemacht haben. So habe man dem Arbeitgeber angekündigt, daß 232 Betten bestreikt würden.

Wie Christoph Kranich vom "Hamburger Bündnis für mehr Personal im Krankenhaus" vorrechnete, ist seit 25 Jahren die Zahl der Ärzte um 66 Prozent gestiegen, doch die der Pflegekräfte um 10 Prozent gesunken. Die Verweildauer hat sich halbiert, die Fälle haben sich um ein Drittel vermehrt. Bundesweit hat sich der Anteil der privaten Krankenhäuser mehr als verdoppelt. In Deutschland hat eine Pflegekraft zweieinhalbmal so viele Patienten zu betreuen wie zum Beispiel in den USA oder in Norwegen.

Vor einem Jahr hat das Bündnis den Internationalen Tag der Pflege zum Tag des Pflegenotstands umdefiniert und eine erste Demonstration organisiert, der eine zweite im September folgte. Es wurden etliche ver.di-Aktionen unterstützt und eine eigene Veranstaltung mit dem Pflege-Ethiker Michael Wunder durchgeführt. Seit dem 8. März läuft eine Volksinitiative, für die in nur drei Wochen 10.000 Unterschriften gesammelt werden müssen. Diese zeitliche Enge ist darauf zurückzuführen, daß die Europawahl dazwischenkam. Bis zur Bürgerschaftswahl im Februar 2020 sollen Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid über die Bühne gehen. Die Forderungen sind dieselben wie in Berlin: Mehr Personal, gesetzliche Vorgaben, attraktivere Pflegeberufe, Gesundheitsversorgung darf sich nicht am Profit orientieren. Im Grunde gehe es ja um den letzten Punkt, der sich aber nicht so schnell per Gesetz ändern lasse. Im Bündnis vertreten sind Patientenorganisationen, ver.di ("aber mit gespaltener Zunge"), es sind jedoch viele Basis- und Betriebsgruppen von ver.di dabei, die ver.di-Frauen, Pflegende, aber keine Verbände der Pflegenden, da die Pflege außerhalb von ver.di nicht gut organisiert sei, der Verein der Demokratischen Ärztinnen und Ärzte, etliche zivilgesellschaftliche Vereine wie der Sozialverband Deutschland oder der Stadtteilverein St. Georg, zwei Hamburger Parteien und etliche Einzelpersonen.


Hält Flugblatt mit dem Logo des Bremer Bündnisses hoch - Foto: © 2018 by Schattenblick

Ariane Müller
Foto: © 2018 by Schattenblick


Geschichte und Stand der Kämpfe in Bremen

In einem Film berichtet Ariane Müller über Geschichte und Stand der Kämpfe in Bremen. Sie arbeitet seit 1974 im Krankenhaus und ist seit 1981 in der größten Bremer Klinik als Krankenschwester auf der Intensivstation beschäftigt. 2005 wurde die unabhängige Betriebsgruppe "Uns reicht's Bremen" gegründet. Der Neubau des Klinikums wurde letzten Endes durch den Abbau von Stellen finanziert. Die Arbeitsbedingungen wurden immer schlechter, die Pflegenden sind physisch und psychisch am Ende. Die Betriebsgruppe verfolge den Ansatz, alle Bremer Krankenhäuser zusammenzufassen. Es seien zwar nur 10 bis 15 Prozent aller Kolleginnen bei ver.di organisiert, doch fänden sich ja auch noch andere Leute, die etwas machen wollen. Kernforderungen seien ein Ende der krankmachenden Arbeitsbedingungen und mehr Personal.

Im Grunde müsse das Fallpauschalensystem abgeschafft werden, was aber so schnell nicht gelingen werde. Kurzfristig erreichbar sei hingegen, mehr Personal zu bekommen. Man habe den Bremer Senat aufgefordert, eine angemessene Personalbemessung in Angriff zu nehmen. Gesundheit sei das höchste Gut und ein Menschenrecht, es könne nicht wie eine Ware behandelt werden. Während Pflegekräfte und Patienten ausgebeutet würden, verdienten sich bestimmte Kreise eine goldene Nase. Da führten bloße Appelle nicht weiter, es gelte Druck aufzubauen und sich bundesweit zu vernetzen, um flächendeckend Streiks zu organisieren: "Ohne uns läuft im Krankenhaus nichts. Wir können alle Räder stillstehen lassen. Wir müssen das Selbstbewußtsein entwickeln, daß wir diese Macht haben!"

Wie Ariane Müller beim Jour Fixe ausführte, gibt es in Bremen vier Krankenhäuser in öffentlicher Hand und mehrere kirchliche Kliniken. Selbst in den öffentlichen Krankenhäusern sei es nicht leicht, dem Bremer Bündnis Gehör zu verschaffen. Sie gehöre dem Betriebsrat an, der SPD-orientiert sei und Stimmung gegen das Bündnis mache. Viele Betriebsratsmitglieder säßen seit Jahren auf diesem Posten und könnten gar nicht mehr in der Praxis arbeiten. Zudem fürchteten sie, ihren Einfluß zu verlieren. Inzwischen seien auch Verbindungen zum Klinikum Bremen-Ost geknüpft, und am 20. April soll ein Treffen der ver.di-Betriebsgruppen aller vier öffentlichen Krankenhäuser mit dem Bremer Bündnis stattfinden.

Wie die Gewerkschaftsführung auf die Anfrage, warum bestimmte Betriebsräte und ver.di-Betriebsgruppen dem Bündnis Steine in den Weg legen, schriftlich bestätigt hat, begrüße ver.di solche Bündnisarbeit: "Solche Bündnisse übernehmen in der Öffentlichkeit wichtige politische Aufgaben, um über die Betriebsebene hinaus zu wirken und auch andere bisher nicht Betroffene oder auch andere Beteiligte zu erreichen. In diesem Sinne können wir uns nur gemeinsam weiterhin erfolgreiche Arbeit wünschen." Sie habe diesen Brief an alle Betriebsräte und ver.di-Betriebsgruppen weiterverteilt, und seitdem seien sie still, so Ariane Müller. Es gelte nun, in Bremen noch mehr Mitstreiterinnen zu gewinnen und Unterschriften in allen Krankenhäusern für eine Petition zu sammeln. Zudem seien Prüfsteine für die anstehenden Betriebsratswahlen aufgestellt worden.


Navigation zwischen Skylla und Charybdis

Mit Blick auf den bundesweiten Stand der Kämpfe im Pflegebereich und deren gewerkschaftliche Unterstützung zog Silvia Habekost eine zuversichtliche Bilanz. Die Pflegekräfte seien vielerorts im Aufruhr: Im Saarland wurde am Klinikum Völklingen die Betriebsvereinbarung geschlossen, daß niemand während der Nachtschicht allein arbeiten muß. In St. Ingbert hat eine Station mehr Personal bekommen, andere schließen sich dieser Forderung an. Am Universitätsklinikum Marburg-Gießen wurden ein Tarifvertrag Entlastung abgeschlossen und 100 neue Stellen zugesagt. Die Unikliniken Freiburg, Heidelberg, Tübingen und Ulm haben Streiks durchgeführt, an denen sich insgesamt 1800 Beschäftigte beteiligten. In Dachau ist der Träger Helios in den kommunalen Arbeitgeberverband eingetreten, so daß der TVÖD wirksam würde. Die Beschäftigten haben dagegen protestiert, da sie zwar gern mehr Geld mitnehmen, aber nicht auf Entlastung verzichten wollen. An der Uniklinik Düsseldorf wird hinsichtlich des Tarifvertrags auch für die Töchter mitverhandelt. In der aktuellen TVÖD-Runde wird neben der Forderung von 6 Prozent mehr Gehalt auch Entlastung für die Krankenhäuser gefordert. Der Nachtzuschlag soll von 15 auf 20 Prozent angehoben werden. Allgemein ist für alle, die im Schichtbetrieb arbeiten, die halbe Stunde Pause Teil der Arbeitszeit. Bekäme man das auch für die Krankenhäuser, entspräche es einem freien Tag extra im Monat. Zudem versuche das Bündnis "Krankenhaus statt Fabrik", etwas gegen die Krankenhausfinanzierung über die Fallpauschalen zu unternehmen, was bei ver.di inzwischen auch ganz oben angekommen sei.

Ariane Müller regte Strategien des Widerstands im Klinikalltag an, wie etwa Zusatzarbeiten zu verweigern oder sich die erforderliche Zeit zu nehmen, um alles angemessen zu schaffen. Man könne schon ein bißchen Sand ins Getriebe streuen. Was sich indessen Klinikleitungen einfallen lassen, um eine zu erwartende Personalbemessung zu unterlaufen, berichtete eine Kollegin aus Hamburg, die auf einer Intensivstation arbeitet. Die Station mit ihrem günstigeren Bemessungsschlüssel wurde aufgeteilt und räumlich mit einer benachbarten IMC-Station zusammengelegt. Dort liegen die Patienten am Monitor, können aber sprechen und sind erfahrungsgemäß aufwendiger zu betreuen als Intensivpatienten, weil der Durchlauf viel stärker ist. Dennoch ist dort nur ein Schlüssel von 1:4 vorgesehen, und sollten die Pflegekräfte krankheitsbedingt ausfallen, muß das Intensivteam aushelfen.

Wie ein Kollege aus dem Hamburger Bündnis bekräftigte, sei eine zentrale Frage, was geschehen soll, wenn eine im Tarifvertrag erkämpfte Personalbemessung unterlaufen wird. Wer kontrolliert, wer legt Konsequenzen bei Nichteinhaltung fest? Hier kämen die Tarifberater aus dem Kollegenkreis oder andere neue Strukturen in Frage, die es in früheren Arbeitskämpfen nicht gab. Sie repräsentierten eine potentielle Gegenmacht, die man einst Räte genannt habe. Die geforderte Personalbemessung sei mit dem System der Krankenhausfinanzierung nicht kompatibel. Utopisch gedacht gehe es darum, das Fallpauschalensystem in Frage zu stellen, wofür man allerdings ver.di zum Jagen tragen müsse.

Nachdem aus Hamburg und Bremen das Vorbild der Berliner Kämpfe lobend hervorgehoben worden war, hielt Michael K. den Ball warnend flach: Je weiter man sich von der Charité entferne, um so bombastischer höre sich an, was dort passiert. Die erkämpften Strukturen hätten bestenfalls den Sinn, die Versorgung der Patienten zu verbessern. Die Krankenhäuser seien jedoch dem wirtschaftlichen Handeln verpflichtet, die Patientenversorgung sei nicht das erste Ziel. Da die Personalkosten etwa 60 Prozent des Budgets ausmachen, sei es für das Krankenhaus lukrativer, teure medizinische Leistungen zu verkaufen, die sich nicht jeder leisten kann, als billigere für alle anzubieten. Die Zerschlagung in Tochterfirmen bringe Einsparungen, weil dort keine Tariflöhne gezahlt werden und die Urlaubsregelungen schlechter sind. Zudem sei die übriggebliebene Charité in 17 Zentren, Vivantes nach Häusern und Regionen unterteilt, die innerhalb des Krankenhauses in Konkurrenz zueinander stehen, die von den Beschäftigten verinnerlicht werde. Der Einsatz von Kollegen, die nicht mindestens dreijährig ausgebildet sind, nur bestimmte Teilbereiche bearbeiten und schlechter bezahlt werden, forciere eine Hierarchisierung auf den Stationen, der Umgang miteinander sei hart. Auch das sei im Sinne einer Strategie der Spaltung und Entsolidarisierung durchaus beabsichtigt.

Nähere man sich in Deutschland dem amerikanischen System, welches das teuerste weltweit und zugleich das ungerechteste sei, stelle sich über die aktuell bearbeiteten Themen hinaus grundsätzlich die Frage, was für ein Gesundheitssystem wir haben wollen. Selbst wenn es gelinge, einen besseren Tarifvertrag durchzusetzen, fehle es an Pflegepersonal, was zu einer Rationierung der Gesundheit führen könne. In Bereichen wie der Onkologie mit ihren teuren Medikamenten werde längst offen darüber diskutiert, welche Patienten diese Therapien bekommen sollen und welche nicht. Habe man in der Pflege nur den eigenen Tarifvertrag im Blick, laufe man Gefahr, einer Rationierung von medizinischen und Pflegeleistungen Vorschub zu leisten, öffnete Michael K. abschließend den Blick auf ein Gesundheitssystem unverhohlener sozialer Selektion.


Fußnoten:


[1] http://www.gewerkschaftslinke.hamburg

[2] http://www.labournet.tv

[3] Die Migrantenselbstorganisation DIDF (Föderation demokratischer Arbeitervereine e.V.) wurde im Dezember 1980 als Dachverband von Vereinen aus der Türkei gegründet.
http://www.didf.de

[4] http://www.pflegenotstand-hamburg.de


Berichte und Interviews zum Jour Fixe "Kämpfe in Krankenhäusern" im Schattenblick unter:
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BERICHT/309: Pflegenot - Menschenrecht Gesundheit ... (1) (SB)


10. März 2018


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