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BERICHT/324: Kolonialwirtschaftsgeschichte - mein Frieden, dein Krieg ... (SB)



Abbildung: [Public domain], via Wikimedia Commons

Der Boxerkrieg zur kolonialen Unterwerfung Chinas, geführt vom Deutschen Reich, Frankreich, Großbritannien, Italien, Japan, Österreich-Ungarn, Rußland und den USA
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Die Menschen, die in den Kolonien lebten, waren den fremden Herrschern untertan und hatten oft keine eigenen Rechte. Bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges im Jahre 1914 lebte mehr als die Hälfte aller Menschen dieser Welt in Kolonien. Erst nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges im Jahre 1945 gaben die europäischen Staaten ihre Kolonien allmählich wieder auf, so dass diese Länder unabhängig wurden. Etliche von ihnen leiden bis heute darunter, dass sie so lange von fremden Staaten beherrscht wurden. [1]

Diese für Kinder ab dem Grundschulalter konzipierte Kolonialismus-Erklärung der Bundeszentrale für politische Bildung spiegelt die bis heute vorgehaltene Interessenlage Deutschlands und anderer ehemaliger Kolonialmächte wider. Mit dem kaum an Verharmlosung zu unterbietenden Adjektiv "fremd" - und nicht etwa "räuberische Fremdherrschaft", was dem Kolonialjoch in der vollen Breite seiner ungeschminkten Motive eher zu Gesicht gestanden hätte -, offenbart sich die Absicht jener Staaten, die sich mit dem Schwert die (übrige) Welt untertan machten, sich auch nach über einhundertjähriger Ignoranz und Tabuisierung aus der Verantwortung zu stehlen.

Zivilgesellschaftlichen Initiativen zu Kolonialismus und Rassismus wie auch der jüngeren Geschichtsforschung ist überhaupt zu verdanken, daß die Aufarbeitung des kolonialen Erbes in Politik und Gesellschaft zumindest auf die Agenda gestellt wurde. Der Hamburger Senat, bemüht um eine seiner Auffassung nach angemessene Erinnerungskultur, schuf 2014 mit der Einrichtung der Forschungsstelle "Hamburgs (post-) koloniales Erbe/Hamburg und die frühe Globalisierung" die wissenschaftlichen Voraussetzungen für die Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit wie auch ihrer Nachgeschichte.


Foto: © 2018 by Schattenblick

Prof. Zimmerer, Leiter der Forschungsstelle zum kolonialen Erbe Hamburgs, während seines Eingangsreferats
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Kolonialismus ein (ausschließlich) historisches Phänomen?

Die koloniale Epoche endete nach landläufiger Überzeugung Anfang der 1960er Jahre, als die meisten kolonisierten Nationen in die staatliche Unabhängigkeit entlassen wurden. Dessen ungeachtet nimmt das Interesse am Phänomen des Kolonialismus stetig zu. Zum einen wird immer deutlicher, dass koloniale Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse ein wichtiger Bestandteil der Entwicklung der modernen Welt gewesen sind. Die Geschichte des Kapitalismus oder der Globalisierung waren eng mit der kolonialen Ordnung verknüpft.
Sebastian Conrad, Historiker [2]

Die deutsche wie europäische Kolonialgeschichte als eine historisch abgeschlossene Epoche einer - und sei es - kritischen Nachbetrachtung zu überantworten, läßt sich heute kaum noch aufrechterhalten. Die Armuts- und Elendsverhältnisse, die mit der kolonialen Unterwerfung ganzer Völker und Kontinente durch die militärisch überlegenen Staaten des Nordens einst geschaffen und seitdem in globalökonomischer Form gesichert und fortentwickelt wurden, sind einfach zu offenkundig. So wird in der neueren Forschung der Kolonialismus - als dessen Hoch-Zeit die Epoche von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis 1960, als die Mehrzahl afrikanischer Kolonien unabhängig wurden, gesehen wird - als eine Art frühe Globalisierung bewertet.

Wiewohl die ökonomischen Voraussetzungen und Folgen der Kolonialpolitik nicht zu verleugnen sind, bedeutet dies noch lange nicht, daß die Globalisierung, von der heute so viel gesprochen wird, als wäre sie ein Kind des späten 20. Jahrhunderts, als handelsmonopolistischer Treibstoff der zur Vergangenheit erklärten Kolonialgeschichte in deren kritische Aufarbeitung einbezogen wird.

Nach wie vor wird mit der Vorstellung der "einen Welt", die immer weiter "zusammenwachse", gern und häufig die Perspektive verknüpft, sie käme allen Menschen zugute. Konkret belegen läßt sich dieses Versprechen nicht. Seine Attraktivität wächst an, je unabweislicher ungelöste Menschheitsprobleme wie der durch die Klimakatastrophe noch verstärkte Nahrungs- und Trinkwassermangel dem globalweiten Abgrund entgegenteuern.


Graphik: by jesuits (Die katholischen Missionen) [CC BY 3.0 (https://creativecommons.org/licenses/by/3.0)], via Wikimedia Commons

16 Staatsoberhäupter, die die Welt unter sich aufteilen - Illustration aus der Jesuiten-Monatsschrift "Die katholischen Missionen" vom Mai 1903
Graphik: by jesuits (Die katholischen Missionen) [CC BY 3.0 (https://creativecommons.org/licenses/by/3.0)], via Wikimedia Commons


Vom Kolonialismus reden, aber zum (Welt-) Handel schweigen?

Wenn heute in vielen europäischen Staaten, so auch in Deutschland, die kolonialpolitische Vergangenheit auf den Prüfstand gestellt wird, ist dies erst einmal begrüßenswert. Die Aufteilung der Welt in Industrieländer - in aller Regel die früheren Kolonialmächte -, Schwellen- und Entwicklungsländer bleibt davon unberührt. Die Definitionshoheit über den Begriff "Entwicklung" liegt in der Hand ersterer. Den ehemaligen Kolonien, deren politische Unabhängigkeit auf dem Papier häufig mit einer Kredit- und Schuldknechtschaft gegenüber den früheren Kolonialmächten einherging, werden ihre angeblich selbstverursachten Entwicklungsdefizite als Ausdruck unproduktiver Wirtschaftsstrukturen zugelastet. Warum, wenn nicht zur Sicherung der eigenen ökonomischen Vormachtstellung, werden die Forderungen afrikanischer Staaten, die EU möge die Agrarsubventionen für ihre Landwirte aufheben, damit afrikanische Bauern eine Chance haben, ihre Produkte auf dem "freien" europäischen Markt zu verkaufen, konsequent ignoriert?

Da die Interessen und Absichten der Kolonialstaaten seit jeher so aufgestellt waren, sich außerhalb der eigenen Territorien unter den Nagel zu reißen, was immer unter Handelsgesichtspunkten aus ihrer Sicht für "wert" befunden wurde, läßt sich die Kolonialgeschichte nicht aufarbeiten, ohne ihre ökonomischen Voraussetzungen und Zwangsläufigkeiten miteinzubeziehen. Die "Entdeckung" Afrikas beispielsweise durch europäische Abenteurer, Missionare und Handelstreibende hätte nicht zur nahezu vollständigen Inbesitznahme des Kontinents durch europäische Staaten geführt, wenn es dafür nicht handfeste Gründe gegeben hätte. In Europa gab es keine unerschlossenen Gebiete mehr, die Staaten galten als tendenziell überbevölkert und hatten mit einem anwachsenden Nahrungsmangel zu kämpfen, wobei auch die einsetzende Industrialisierung keineswegs Abhilfe schaffte, heizte sie doch den Hunger nach Ressourcen aller Art noch weiter an.

Das koloniale Projekt, die räuberische Aneignung aller verwertbaren Rohstoffe bis hin zur menschlichen Arbeitskraft, war gegen Ende des 19. Jahrhunderts das Gebot der Stunde angesichts einer in Europa bereits weit fortgeschrittenen Ökonomisierung, ihrer Verluste und Fehlentwicklungen wie Armut und Hunger. Heutige Historiker kommen nicht umhin, beim Thema Kolonialismus ökonomische Bezüge miteinzubeziehen. So schrieb beispielsweise der Afrika-Experte Dr. Stefan Mair 2005:

Es gab durchaus volkswirtschaftliche Erwägungen wie die Aufrechterhaltung von Handelsfreiheit in Afrika oder globale strategische Überlegungen wie die Sicherheit der Seeroute von Europa nach Indien, die den Erwerb von Kolonien begünstigten. [3]


Foto: [Public domain], via Wikimedia Commons

Der Nicolaifleet in der Hamburger Altstadt in einer Aufnahme von 1863
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Die Kolonial- und Handelsmetropole Hamburg

Die Freie und Hansestadt Hamburg profitierte in besonderer Weise vom Kolonialismus, an dem sie aktiv beteiligt war. Wie sehr das koloniale Projekt und die Handelstraditionen einer solchen Metropole ineinandergriffen und Geschichte wie Gegenwart dominier(t)en, läßt sich noch heute an vielen bauwerklichen und kulturellen Spuren ablesen - die Stadt "atmet" den kolonialen Zeitgeist wie kaum eine zweite Metropole. Im 8. Jahrhundert aus der Hammaburg, einer dem Handel zweckdienlichen Befestigungsanlage, entstanden, stieg Hamburg bereits im Mittelalter zu einem der wichtigsten Handelsplätze Europas auf.

Als die in Übersee "entdeckten" Kontinente Begehrlichkeiten weckten und, mit militärischer Unterstützung, dem sich Bahn brechenden "Welthandel" zugunsten der großen Seefahrernationen Europas unterworfen wurden, wie sich am Beispiel Chinas nachzeichnen läßt, nahm Hamburg als "Tor zur Welt" eine zentrale Rolle ein. Die imperialistischen europäischen Staaten, aber auch die USA und Japan führten Kolonialkriege. Ihr gemeinsames Interesse, den Widerstand der von ihnen nicht selten blutig in Handelsbeziehungen gezwungenen Völker im Keim zu ersticken und grausame Exempel an ihnen zu statuieren, überwog schließlich gegenüber der zwischen ihnen herrschenden innerimperialistischen Konkurrenz.


Abbildung: Carl Rodeck [Public domain], via Wikimedia Commons

Das Gebäude der Patriotischen Gesellschaft - Gemälde von Carl Rodeck, erstellt zwischen 1886 und 1897
Abbildung: Carl Rodeck [Public domain], via Wikimedia Commons


Wie gehen wir mit dem kolonialen Erbe Hamburgs um?

Die Patriotische Gesellschaft von 1765 und der Verein für Hamburgische Geschichte veranstalteten am 4. Juni eine Podiumsdiskussion zu dieser Frage. Zur Diskussion gestellt wurde unter anderem, ob es sinnvoll sei, einen zentralen Gedenkort zur Kolonialgeschichte in Deutschland zu schaffen und ob Hamburg der geeignete Ort dafür wäre. Der Historiker Prof. Dr. Jürgen Zimmerer, Leiter der Hamburger Forschungsstelle zur Aufarbeitung des kolonialen Erbes, erklärte dazu, die Stärke Hamburgs bestünde darin, daß man sich die Geschichte der Kolonialisierung und Globalisierung zu Fuß erlaufen könne.

Vom Völkerkundemuseum aus, an Universität und Rathaus vorbei bis hin zur Trostbrücke am Nicolaifleet mit all den Handelshäusern rund um den Sitz der Patriotischen Gesellschaft könne man in zwei Stunden alles über die Wirtschaft, die Politik und die Kultur dieser Kolonialmetropole in Erfahrung bringen und nachvollziehen, wie die Stadt, ganz Deutschland und der europäische Kontinent durch das koloniale Projekt geprägt wurden. Diese Qualität zeichne Hamburg gegenüber Berlin aus, das fraglos ein politisches Zentrum sei. Auf dieser Ebene könne man sich jedoch allzu leicht aus der Verantwortung stehlen mit der Behauptung, es gäbe heute keine Kolonien und Kolonialmächte mehr.

Viel wesentlicher seien die ökonomischen und kulturellen Strukturen, die seit der Kolonialzeit fortwirkten und in eine Aufarbeitung, so sie denn tatsächlich stattfände, einbezogen werden müßten. Zu diesem Zweck sei es wichtig, Hamburgs Originalschauplätze zu erhalten und konzeptionell zu verbinden. Erkenne man an, daß die postkoloniale Globalisierung mit all ihren negativen Auswirkungen das Kennzeichen der Gegenwart ist, könne Hamburg ein zentraler Ort in Europa werden, um dies offensiv zu erforschen. Unter dem spontanen Beifall der Anwesenden erklärte Prof. Zimmerer, daß es bei dieser Auseinandersetzung nicht darum geht, in der Vergangenheit herumzustochern, vielmehr sei die Kenntnis der Geschichte eine Zukunftsforschung, die es uns erst erlaube, uns im 21. Jahrhundert zu positionieren.


Abbildung: [Public domain], via Wikimedia Commons

Alfred Graf von Waldersee auf einer 1901 von der Chinesischen Kaiserlichen Post versandten Postkarte
Abbildung: [Public domain], via Wikimedia Commons


Heute noch Kolonialverbrecher ehren?

Tom Gläser von der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland stellte in aller Eindringlichkeit - auch ans Publikum - die Frage: Wollen wir allen Ernstes Verbrecher ehren? Angesprochen wurde der Streit um die mögliche Umbenennung der Walderseestraße in Hamburg-Othmarschen, benannt nach dem preußischen General-Feldmarschall Alfred Graf von Waldersee (1832-1904), 1900 Oberbefehlshaber eines kolonialen Invasionsheers, das in China zu einer "Strafexpedition" gegen den aus westlicher Sicht Boxeraufstand genannten antikolonialen Widerstand eingesetzt worden war. Im September 2017 hatte die Bezirksversammlung mit den Stimmen von CDU, SPD und FDP empfohlen, die Straße nicht umzubenennen, aber mit dem Hinweis zu versehen, der Namensgeber sei "eine umstrittene Persönlichkeit". Wegen der Greueltaten, für die Waldersee verantwortlich gemacht wird, machen kritische Initiativen nach wie vor für eine Umbenennung mobil. [4]

Zur Frage der Straßenumbenennungen erklärte Prof. Zimmerer, wir müßten heute mit unseren Entscheidungen für oder gegen die weitere Ehrung solcher Rassisten oder Kolonialverbrecher die Verantwortung übernehmen und könnten uns nicht mehr dahinter verstecken zu behaupten, das sei damals eben alles so gewesen und man hätte es nicht besser gewußt. Der Stadt Hamburg bietet sich in der Person Alfred von aldersees die Gelegenheit, den allseits bekundeten Willen zur historischen Aufarbeitung in die Tat umzusetzen. Der General-Feldmarschall hatte - neben vielen anderen Auszeichnungen und Würdigungen - auch vom Hamburger Senat 1901 die Ehrenbürgerwürde verliehen bekommen wegen, wie auf der Webseite des Senats nachzulesen ist, seiner "Tätigkeit im Interesse der Erhaltung des Weltfriedens". [5]


Graphik: [Public domain], via Wikimedia Commons

Zeitgenössische französische Karikatur zur Aufteilung Chinas zwischen den rivalisierenden Kolonialmächten Großbritannien, dem Deutschen Reich, Rußland, Frankreich und Japan, 1898 erschienen in "Le Petit Journal"
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Weltfrieden unter Definitionshoheit militärischer Sieger

Was der Hamburger Senat demnach unter (Welt-) Frieden verstand und offenbar noch immer versteht, zumal die Ehrung Waldersees bislang nicht aufgehoben wurde, läßt sich an diesem historischen Beispiel schnell nachvollziehen. In der Stadt Guangzhou (deutsch Kanton) im Süden Chinas, heute eine der weltweit größten Industrie- und Handelsmetropolen, hatte die Britische Ostindien-Kompanie 1711 einen Handelsposten aufgebaut. Dieser Seeweg, die sogenannte "Seidenstraße auf dem Meer", ermöglichte Handelsbeziehungen zu Indien und Arabien. Von 1757 bis 1842 war Guangzhou der einzige Handelshafen Chinas, in dem Ausländer Handel treiben durften.

Große europäische Handelsgesellschaften errichteten hier - wie auch in Afrika, Nordamerika und anderen Regionen Asiens - sogenannte Faktoreien, oftmals militärisch gesicherte Handelsniederlassungen, aus denen sich die späteren Kolonien entwickelten. China wurde zwar formal nicht kolonialisiert, stand jedoch wegen seiner Rohstoffe im Zentrum der militärischen Auseinandersetzungen der damaligen Kolonialstaaten um die Vorherrschaft in Zentralasien. Diese einigten sich, ihre innerimperialistische Konkurrenz eindämmend, Mitte des 19. Jahrhunderts auf eine "Politik der offenen Tür", was bedeutete, daß China "ungleiche Verträge" aufgezwungen wurden, durch die sich die Handel treibenden Kolonialstaaten die gleichen ökonomischen Rechte sowie den freien Zugang zu den chinesischen Häfen sicherten.


Abbildung: William Daniell [Public domain], via Wikimedia Commons

Von europäischen Handelsgesellschaften in Guangzhou (Kanton) errichtete Faktoreien - Gemälde von William Daniell, 1805-1806
Abbildung: William Daniell [Public domain], via Wikimedia Commons

Die Versuche des Kaiserreichs, sich dieser einseitig zu seinen Lasten durchgesetzten "Freihandelspolitik" zu widersetzen, schlugen fehl. Aufgrund ihrer Industrialisierung konnten sich die europäischen Staaten militärisch durchsetzen. In den sogenannten Opiumkriegen von 1839 bis 1842 und von 1856 bis 1860 wurde die wirtschaftliche Öffnung Chinas erzwungen mit verheerenden Folgen für das riesige Land, deren noch im 18. Jahrhundert prosperierende Wirtschaft zusammenbrach. Hungersnöte und eine Massenarmut führten zu massiven Unruhen. Das Kaiserreich geriet wie nie zuvor in seiner zweitausendjährigen Geschichte in Bedrängnis und konnte sich der Volkserhebungen nur mit Hilfe des ausländischen Militärs erwehren.


Abbildung: by Sodacan [CC BY-SA 4.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0), Public domain], from Wikimedia Commons

Chinas erste Nationalflagge aus der Zeit der Qing-Dynastie (1889-1912)
Abbildung: by Sodacan [CC BY-SA 4.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0), Public domain], from Wikimedia Commons

Im Frühling und Sommer 1900 begann eine "Bewegung der Verbände für Gerechtigkeit und Harmonie" mit ihrem Kampf gegen den europäischen, japanischen und US-amerikanischen Imperialismus. Die Angriffe der sogenannten Boxer, wie die imperialistischen Staaten diese zwischen 1898 und 1900 entstandene soziale Bewegung wegen ihrer ursprünglich traditionellen Kampfkunstausbildung nannten, richteten sich nicht gegen den Kaiserhof, sondern gegen Ausländer und christianisierte Chinesen, die für die desaströsen Verhältnisse verantwortlich gemacht wurden.

Das Deutsche Reich, Frankreich, Großbritannien, Italien, Japan, Österreich-Ungarn, Rußland und die USA bildeten alsbald eine Kriegskoalition, um den Widerstand zu brechen. Im April 1900 verbarrikadierten sich ausländische Diplomaten im Pekinger Gesandtschaftsquartier. Ein zu ihrer Befreiung angelandetes Millitärkorps der Alliierten konnte von den Boxern zur Umkehr gezwungen werden. Einem zweiten internationalen Heer gelang es, nach Peking vorzurücken. Die Ausländer befolgten ein Ultimatum des Kaiserhofs, Peking umgehend zu verlassen, nicht. Unter bis heute ungeklärten Umständen wurde der Gesandte der deutschen Reichsregierung auf offener Straße erschossen.


Abbildung: Nach einem Gemälde von Carl Röchling 1855-1920 (Berlin, Büxenstein 6 Comp.) [Public domain], via Wikimedia Commons

Zeitgenössische Postkarte zum Boxeraufstand - kriegsverherrlichendes Gemälde kampfesmutiger deutscher Soldaten
Abbildung: Nach einem Gemälde von Carl Röchling 1855-1920 (Berlin, Büxenstein 6 Comp.) [Public domain], via Wikimedia Commons

Der Kaiserhof erließ ein Edikt, das einer Kriegserklärung an die ausländischen Staaten gleichkam. Waren die kaisertreuen Truppen zuvor noch gegen die Boxer-Milizen eingesetzt worden, kämpften sie nun Seite an Seite. Obwohl reguläre staatliche Heere gegeneinander Krieg führten, blieben die Alliierten dabei, diesen von ihnen schließlich gewonnenen Kolonialkrieg als "Strafexpedition" zu bezeichnen. Um die Rolle des deutschen Reichs in der Weltpolitik zu stärken, hatte sich der deutsche Kaiser Wilhelm II. der Invasion sofort angeschlossen. Bei der Verabschiedung deutscher Soldaten hielt er am 27. Juli 1900 seine später berüchtigte "Hunnenrede":

Eine große Aufgabe harrt eurer: ihr sollt das schwere Unrecht, das geschehen ist, sühnen. Die Chinesen haben das Völkerrecht umgeworfen, sie haben in einer in der Weltgeschichte nicht erhörten Weise der Heiligkeit des Gesandten, den Pflichten des Gastrechts Hohn gesprochen. Es ist das um so empörender, als dies Verbrechen begangen worden ist von einer Nation, die auf ihre alte Kultur stolz ist. (...) Kommt ihr vor den Feind, so wird er geschlagen. Pardon wird nicht gegeben, Gefangene nicht gemacht. Wer euch in die Hände fällt, sei in eurer Hand. Wie vor tausend Jahren die Hunnen unter ihrem König Etzel sich einen Namen gemacht, der sie noch jetzt in der Überlieferung gewaltig erscheinen läßt, so möge der Name Deutschlands in China in einer solchen Weise bekannt werden, daß niemals wieder ein Chinese es wagt, etwa einen Deutschen auch nur scheel anzusehen!" [6]

Unter dem Oberbefehl von General-Feldmarschall Alfred von Waldersee wurden 20.000 Soldaten auf den Weg gebracht. Als sie China erreichten, war Peking schon gefallen. Drei Tage lang wurde die Stadt von den "hochzivilisierten" Europäern geplündert und zerstört. Kunst- und Kulturwerke wurden gestohlen, allein 23.000 Objekte befinden sich noch heute im Britischen Museum in London. Unter Waldersees Kommando gingen die Truppen in Erfüllung des Kaiserbefehls plündernd, mordend und vergewaltigend gegen vermeintliche oder tatsächliche Widerständler vor und terrorisierten die Bevölkerung so sehr, daß seitens verbündeter Kommandeure Kritik laut wurde. So vermerkte der US-amerikanische Befehlshaber: "Man kann mit Sicherheit sagen, dass auf einen wirklichen Boxer, der getötet wurde, fünfzehn harmlose Kulis und Landarbeiter, unter ihnen nicht wenige Frauen und Kinder, kamen, die erschlagen wurden." [7]

Dem Kaiserhof wurden im sogenannten Boxerprotokoll vom 7. September 1901 die Bedingungen eines "Friedens" diktiert, der den faktischen Kolonialzustand wiederherstellte. Er beinhaltete eine nie dagewesene Demütigung und wirtschaftliche Ausplünderung. China hatte England, Frankreich, Italien, Österreich, Rußland, den USA, Japan und dem Deutschen Reich 34.683 Tonnen Silber zu übergeben [8] und bis 1940 Reparationen in Höhe von 1,4 Milliarden Goldmark zu leisten. Waffen durften weder gekauft noch eingeführt werden, das Pekinger Gesandtschaftsviertel blieb Ausländern vorbehalten. Aufständische mußten hingerichtet werden, ausländerfeindliche Organisationen waren bei Todesstrafe verboten. In der traditionell nur chinesischen Beamten zugänglichen "Verbotenen Stadt" hielten die alliierten Truppen eine Parade ab. Und schließlich mußte sich Prinz Chun, der Vater des letzten Kaisers Puyi, vor dem deutschen Kaiser in Berlin persönlich für die Tötung des deutschen Gesandten "entschuldigen".


Graphik: by Unknown court artist [Public domain], via Wikimedia Commons

Hofzeremonie in der Verbotenen Stadt zur Zeit Kaiser Qianlongs - Zeichnung aus dem 18. Jahrhundert
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Alfred von Waldersee wurde im Deutschen Reich wegen seiner "Friedenstätigkeit" vielfach geehrt, ihm haftete der volkstümliche Titel eines "Weltmarschalls" an, eine keineswegs abwegige Bezeichnung. Schließlich wurde gerade mit diesem Kolonialkrieg gegen das größte Reich Asiens auch allen anderen Völkern und Regionen unmißverständlich zu verstehen gegeben, was ihnen drohte, sollten sie sich der globalen Vormachtstellung dieser Staaten widersetzen - was Menschen dennoch, immer wieder und zumeist unter widrigsten Bedingungen, getan haben.

Die heute in Politik und Gesellschaft vorgeschützte Bereitschaft, die koloniale Vergangenheit und die dabei begangenen Kolonialverbrechen aufzuarbeiten, kann nur ein erster Halbschritt sein. Solange ausschließlich von "Opfern" kolonialer Kriege, Sklaverei und Zwangsverhältnissen aller Art die Rede ist, so als ginge es bestenfalls darum, diesen Menschen aus einer Position ungebrochener Überlegenheit heraus ein Bedauern auszusprechen, kann von einer wirksamen Dekolonialisierung nicht die Rede sein.

Die Hälfte der Menschheit fremden Interessen zu unterwerfen, wäre ohne den rücksichtslosen Einsatz militärischer Mittel und die gnadenlose Verfolgung und Vernichtung widerständiger Menschen nicht möglich gewesen. Insofern reicht es nicht aus, Kolonialverbrechen in den Fokus einer vermeintlich selbstkritischen Aufarbeitung zu rücken - so, als wäre nicht das ganze koloniale Projekt als Verbrechen zu bewerten -, wenn man die moralischen Werte, die von den früheren Kolonialstaaten heute mehr denn je in Anspruch genommen werden, zum Maßstab nimmt.

In der Schlußphase der Diskussionsveranstaltung zur Frage des Umgangs mit dem kolonialen Erbe Hamburgs erklärte Millicent Adjei vom Arbeitskreis Hamburg Postkolonial, kein Mensch hätte je gewollt, daß ihm sein Land, seine Rohstoffe geraubt oder er selbst versklavt oder zu Zwangsarbeit genötigt wird. Von Anfang an gab es, was viele Menschen heute noch immer nicht wüßten, Widerstand gegen die Kolonialisierung. Und wie Tom Gläser von der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland in seinem Schlußwort ergänzte, sind dabei viele, viele Menschen als Kämpferinnen und Kämpfer gestorben. Den Black Communities ist es deshalb wichtig, betonte er auch mit Blick auf das (weiße) Publikum, sie nicht als Opfer einer rassistischen Kolonialpolitik darzustellen, sondern gerade diesem Widerstand nicht länger den Respekt zu versagen.


Foto: © 2018 by Schattenblick

Kolonialstil bis heute - die Alsterarkaden in Hamburg
Foto: © 2018 by Schattenblick


Anmerkungen:


[1] http://www.bpb.de/nachschlagen/lexika/das-junge-politik-lexikon/161315/kolonialismus

[2] https://www.bpb.de/apuz/146971/kolonialismus-und-postkolonialismus?p=all

[3] http://www.bpb.de/internationales/afrika/afrika/58868/kolonialismus?p=all

[4] https://www.abendblatt.de/hamburg/article214037583/Walderseestrasse-soll-nach-Chinesem-benannt-werden.html

[5] http://www.hamburg.de/ehrenbuerger/biographien/ehrenbuerger-1900-1999/

[6] zit. nach: Wolfgang J. Mommsen: War der Kaiser an allem schuld? Ullstein Verlag, Berlin 2005, ISBN 3-548-36765-8

[7] https://de.wikipedia.org/wiki/Boxeraufstand

[8] https://www.welt.de/geschichte/article122585509/Wie-sich-China-an-London-fuer-den-Boxerkrieg-raecht.html


im Schattenblick ist unter POLITIK → REPORT zur Veranstaltung "Hamburgs koloniales Erbe" unter dem kategorischen Titel "Kolonialwirtschaftsgeschichte" erschienen:

BERICHT/321: Kolonialwirtschaftsgeschichte - am Beispiel Hamburgs ... (SB)
BERICHT/323: Kolonialwirtschaftsgeschichte - Verhaltens- und Umfeldsmerkmale ... (SB)
INTERVIEW/413: Kolonialwirtschaftsgeschichte - eine alte Schuld ...    Prof. Dr. Jürgen Zimmerer im Gespräch (SB)
INTERVIEW/415: Kolonialwirtschaftsgeschichte - Raubgut bestimmen, Eigenbedarf sichern ...    Prof. Dr. Barbara Plankensteiner im Gespräch (SB)
INTERVIEW/416: Kolonialwirtschaftsgeschichte - Utopie Mensch ...    Millicent Adjei im Gespräch (SB)
INTERVIEW/417: Kolonialwirtschaftsgeschichte - Rassismuskompetenz ...    Tom Gläser im Gespräch (SB)


10. Juli 2018


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