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BERICHT/350: Kapital und Finanzen - drei Ligen der Macht ... (SB)


Beim Vortrag - Foto: © 2019 by Schattenblick

Dr. Werner Rügemer
Foto: © 2019 by Schattenblick

In den letzten zwanzig, dreißig Jahren hat sich unter der Decke des Kapitalismus ein Systemwechsel mit weitreichenden Folgen für die Gesellschaft vollzogen, warnt der Journalist und Buchautor Werner Rügemer. Die Politik habe Finanzakteuren den Weg geebnet, die im wachsenden Maß an Einfluß gewinnen und aus dem Hintergrund heraus mehr und mehr die Geschicke von Staat und Gesellschaft lenken. Am 9. Oktober 2019 hat Rügemer sein Buch mit dem Titel "Die Kapitalisten des 21. Jahrhunderts. Gemeinverständlicher Abriß zum Aufstieg der neuen Finanzakteure" (PapyRossa 2018) im Rahmen eines Vortrags mit anschließender Fragestunde in der Werkstatt 3 in Hamburg vorgestellt.

Obgleich der auf Einladung der Hamburger Sektion von Attac und der Rosa-Luxemburg-Stiftung eigens aus Köln angereiste 78jährige eine Stunde lang ununterbrochen referierte, war das für ihn verglichen mit dem Buch nur ein "kurzer Durchgang" zu der Frage, was sich "unter der Decke des gegenwärtigen Kapitalismus geändert" und wer zu diesem "Systemwechsel" beigetragen hat.

Zur Beschreibung und besseren Einordnung des scheinbar undurchdringlichen Dickichts der Finanzwelt verwendet Rügemer eine anschauliche Metapher und spricht von "Ligen". In der ersten Liga spielen rund 50 Kapitalorganisationen wie Vanguard, State Street, Wellington, Capital Group, Fidelity und BlackRock. Letztere wurde vor 25 Jahren gegründet und ist nach der Finanzkrise 2008 zum weltgrößten Vermögensverwalter aufgestiegen. Dieser verwaltet heute ein Vermögen von mehr als sechs Billionen Dollar. Zum Vergleich: Das Bruttoinlandsprodukt der Bundesrepublik Deutschland 2018 liegt mit 3,68 Billionen Dollar deutlich darunter.

Zusammen mit anderen dieser obersten Liga ist BlackRock in allen 30 DAX-Konzernen vertreten sowie Großaktionär in den 600 bis 700 größten deutschen Unternehmen. Das gleiche trifft auf andere Länder zu. Als Berater nehmen diese Finanzakteure auch Einfluß auf Zentralbanken und Regierungen. Manche ihrer Entwürfe werden sogar unmittelbar als Gesetzestext übernommen. Nach Beginn der Finanzkrise 2008 erhielt BlackRock unter US-Präsident Barack Obama einen Auftrag im Wert von 180 Mio. Dollar zur Aufstellung eines Plans zur Bankenrettung. Dadurch gewann der Vermögensverwalter Einblicke in Geschäftspraktiken und Bilanzen, an die er auf andere Weise wohl kaum so geschmeidig herangekommen wäre.

In der zweiten Liga der Finanzakteure siedelt Rügemer rund 5.000 Private Equity Investoren (PEI) an, volkstümlich "Heuschrecken" genannt. Diese Bezeichnung geht auf den früheren Vizekanzler und SPD-Parteivorsitzenden Franz Müntefering zurück, in dessen Wahlkreis der von einem Investor übernommene Armaturenhersteller Grohe angesiedelt war. Laut Müntefering fallen die Investoren wie die Heuschrecken ein, grasen ab und hauen unter Mitnahme der Gewinne wieder ab. Diese Liga hat vorzugsweise die an keiner Börse notierten Unternehmen ins Visier genommen. Blackstone, KKR, EQT, Permira, Carlyle und anderen PEI ist es in den letzten 20 Jahren gelungen, gut 10.000 Mittelstandsfirmen aufzukaufen und zu verwerten. Im Unterschied zu den Akteuren aus der ersten Liga bleiben sie nicht als Eigentümer in den Firmen, sondern "planen schon beim Einstieg des Kaufs den Exit".

Am Ende würden die Firmen abgeschrumpft, und Arbeitsplätze gingen verloren, berichtete Rügemer, der bei aller inhaltlichen Fülle seiner Schilderungen aus der Finanzwelt nie den Blick auf die häufig verheerenden sozialen Folgen (Arbeitsplatzverluste, Mietenexplosion, Verarmung) verliert. Als dritte Liga siedelt der Autor die besonders aggressiv auftretenden Hedgefonds wie Bridgewater und Elliott an, die nur an kurzfristigen Profiten interessiert sind und wirtschaftliche Verwüstungen hinterlassen.

Wenn innerhalb von gut einem Jahrzehnt ein Unternehmen wie BlackRock Großaktionär an 17.000 Unternehmen der westlichen Welt werden konnte und dieser größte Vermögensverwalter auch nur "die Spitze des Eisbergs" ist, dann steckt dahinter eine Entwicklung, die sehr viel mehr öffentliche Aufmerksamkeit verlangt, als ihr gegenwärtig zuteil wird. Obwohl bereits unter Angela Merkel einflußreich, wurde BlackRock in Deutschland erst dann über die Fachwelt hinaus breiter bekannt, als der Aufsichtsratsvorsitzende für BlackRock Deutschland, Friedrich Merz, im Jahr 2018 scheinbar aus der Versenkung auftauchte und sich für den CDU-Parteivorsitz bewarb. Bezogen auf eine mögliche Kanzlerkandidatur des BlackRock-Türöffners für Deutschland sagte Rügemer schmunzelnd: "Der Unterschied von Angela Merkel zu Friedrich Merz als Kanzler wäre eigentlich nur der: Unter Merkel hat's keiner gemerkt, und mit Merz weiß es jeder."

Auf seiten der USA war es Bill Clinton, der während seiner Amtszeit als US-Präsident in den 1990er Jahren den Finanzakteuren an der Wall Street zu mehr Bewegungsraum verhalf, unter anderem indem er die Trennung von Investment- und Kundenbanken aufhob. Auf deutscher Seite schloß sich die rot-grüne Bundesregierung unter Kanzler Gerhard Schröder dieser Entwicklung an. Die Folgen sind heute spürbar. Der Finanzkapitalismus hat die Dominanz des Industriekapitalismus abgelöst. Neben den klassischen Banken entstanden Finanzakteure, die nicht den gleichen Auflagen unterlagen und die auch von der Verschärfung der Regulierungen und Gesetzen, die nach der globalen Finanzkrise 2008 zur Kontrolle der Banken erlassen worden waren, weitgehend unberührt blieben, obschon diese "Schattenbanken" (Internationaler Währungsfonds - IWF) vieles von dem machen, was auch Banken machen, erklärte Rügemer.

Die Akteure der Ligen sind auch aufs engste miteinander verflochten. Beispielsweise hat Vanguard Anteile an BlackRock und umgekehrt. "BlackRock & Co", wie Rügemer die großen Finanzakteure nennt, waren auch bei der größten Firmenübernahme in der deutschen Wirtschaftsgeschichte, Monsanto durch Bayer, auf beiden Seiten als Großaktionäre vertreten. Weil so ein Deal gewinnträchtig ist, haben BlackRock & Co mit einem Aktienanteil an Bayer von zusammen 40 Prozent die Fusion organisiert. Die 400.000 Kleinanleger des Chemieriesen hingegen hätten nichts zu sagen. Dabei ist der Fusionsprozeß selber bereits lukrativ, denn es mußte dabei viel beraten und für Bayer ein großer Kredit in Höhe von 60 Mrd. Dollar beschafft werden. In Folge der Firmenverschmelzung werden 12.000 Arbeitsplätze abgebaut, und "fortan kann das kleine Monopol die Preise für die Produkte bestimmen", weil es keinen Wettbewerb mehr gibt.

Der Bayer-Monsanto-Deal gab auch Anlaß zu Anmerkungen und Fragen aus dem Publikum. BlackRock & Co sei nur an dem Sahnehäubchen interessiert, nicht daran, wie der Kuchen zustande kommt, lautete eine Erkenntnis. Wurde Monsanto den "dummen Deutschen" aufgedrückt? Sollten die Klagen und Regreßansprüche gegen Monsanto durch die Gewinne von Bayer abgesichert werden? Beides schloß Rügemer nicht gänzlich aus, vertrat aber eher die Ansicht, daß sich Großaktionäre wie BlackRock auch mal verzocken können.

Ergänzend zu dem, worüber auf der Veranstaltung gesprochen wurde, sei hier angemerkt, daß noch nicht feststeht, daß Bayer über den Tisch gezogen wurde. Die hiesige Wahrnehmung von Monsanto scheint zu sehr auf den umstrittenen Wirkstoff Glyphosat des Unkrautvernichtungsmittels Roundup verengt. Doch Bayer erwirbt beispielsweise mit Monsantos Tochterunternehmen Climate Corporation, das große Datenmengen gesammelt hat, die globale Führerschaft bei den digitalen Tools für die zukünftige Landwirtschaft 4.0 und kann sich damit als weltweiter Anbieter Nummer eins von Gesamtpaketen der globalen Nahrungs- und Futtermittelproduktion positionieren. In Verbindung mit einer großen Zahl an Patenten, die zu den vielen eigenen Patenten hinzukommt, könnte ein Monopolist entstehen, der systemrelevant ist, weil er eine wichtige gesellschaftliche Funktion erfüllt.

BlackRock und Co. organisieren überall auf der Welt solche Firmenübernahmen. Die Folgen sind bereits zu spüren, so Rügemer. Denn die Kapitalorganisatoren erschaffen nichts Neues, sondern sie schrumpfen die Volkswirtschaften ab. "Dadurch beginnt, was offiziell zugestanden wird, die Rezession."

Ein Beispiel hierfür ist die Autobranche, einschließlich der Zulieferindustrie. Die Innovationen finden heute in China statt, während in Deutschland die Arbeitsplätze wegfallen. BlackRock & Co haben die Gewinne mitgenommen und nichts in die Innovation gesteckt. Was demnächst neu gebaut werden muß, wenn vermehrt Elektroautos gebaut werden, wird in die osteuropäischen Niedriglohnländer verlagert: "Diese extreme Gewinnentnahme durch die neuen Eigentümer hat auch auf diese Weise zur Produktionsschrumpfung beigetragen", sagte Rügemer. Der Internationale Währungsfonds beklage seit Jahren, daß zu wenig in die Produktion investiert wird und das Wirtschaftswachstum im Westen erlahmt, wohingegen es in China mindestens sechs Prozent beträgt. Doch der IWF nenne BlackRock & Co nicht beim Namen. Er warne nur unbestimmt, daß das "irgendwie" passiere.

Die größte Datenverarbeitungskapazität der westlichen Welt befindet sich ebenfalls in der Obhut von BlackRock und heißt Aladdin. Es handelt sich dabei um einen Komplex aus einigen tausend miteinander vernetzten Supercomputern, die im Nanosekundenbereich sämtliche Wirtschaftsdaten der westlichen Hemisphäre verarbeiten. Alles, was BlackRock kriegen könne, werde in die Datenbank eingespeist. "Wenn diese automatisierten Datenverarbeitungsprogramme erfassen, daß die Bayer-Aktie in Tokio drei Stellen hinter dem Komma mehr wert ist als an der Börse von Mailand, dann wird automatisch gekauft und verkauft", erläutert Rügemer eine zentrale Aufgabe dieses Systems. Andere Unternehmen dürfen Aladdin ebenfalls nutzen, und auch Zentralbanken greifen gern auf dessen Rechenkapazitäten und -fähigkeiten zurück. Durch die Inanspruchnahme dieser Dienstleistung begeben sie sich allerdings in eine gefährliche Abhängigkeit von BlackRock, das immer mehr in die Rolle schlüpft, nicht mehr nur nach vorgegebenen Regeln zu spielen, sondern die Regeln nach seinen Wünschen aufzustellen.

Es gibt heute wohl keinen Wirtschaftsbereich, in dem das Finanzkapital nicht Fuß gefaßt hat und versucht, die Richtung zu seinen Gunsten zu bestimmen, angefangen von der traditionellen Industrieproduktion bis zu gesellschaftlichen Grundfunktionen wie Wohnen. Rügemer will mit seinem Buch - und so auch an diesem Abend - über diese Entwicklung aufklären, in der Hoffnung, dazu beitragen zu können, daß der Trend aufgehalten wird.

Die Folgen, was passiert, wenn das Finanzkapital die Herrschaft über das Wirtschaftsgeschehen übernimmt, lassen sich aus der Weltwirtschaftskrise von vor 90 Jahren ablesen, treffend beschrieben durch den 1941 in Paris von der Gestapo getöteten ehemaligen Finanzminister Rudolf Hilferding in seinem Buch "Das Finanzkapital" (1910). Darin analysiert er die Bedeutung der kartell- und monopolbildenden Banken, eine Rolle, die Rügemer heute BlackRock & Co. zuweist. [1]

Die rund zweistündige Veranstaltung hat viele Fragen in dem Sinne konstruktiv beantwortet, als daß darauf gegründet in der Nachbereitung zu weitergehenden Fragen angeregt wurde. Wenn schon vor über hundert Jahren das Wirken des Finanzkapitals kritisch analysiert wurde, haben dann BlackRock & Co nicht eher einen Wandel denn einen Wechsel des stets gleichen vorherrschenden Systems eingeläutet? Wird zur Zeit das Wirtschaftssystem gewechselt oder findet mit dem durch die technologische Weiterentwicklung der Digitalisierung überhaupt erst ermöglichten Aufkommen globaler, kapitalstarker Finanzakteure wie BlackRock & Co nicht vielmehr eine Qualifizierung einer Entwicklung statt, deren Wurzeln weit zurückreichen - vielleicht sogar in eine Zeit, in der es das Wort Digitalisierung noch nicht gab, aber Menschen bereits an ihren Fingern abgezählt haben, was ihnen im Rahmen einer Tauschökonomie zum Vorteil gereichen sollte?

Überhaupt stellt sich die Frage, ob man weiterhin von einem "System" sprechen sollte, einem Begriff, mit dem die Unvereinbarkeit der Interessen zwischen herrschenden und unterdrückten Gruppen, die von Karl Marx als Klassen bezeichnet wurden, verschleiert wird? Worin genau besteht der Unterschied zwischen den Kapitalisten des 20. Jahrhunderts und denen des 21. Jahrhunderts? Schlägt die Summe an Finanzkapital, das sich BlackRock & Co angeeignet hat und mit dem nun jongliert wird, irgendwann in eine neue Qualität der Verfügungsgewalt um?


Fußnote:

[1] https://www.blaetter.de/archiv/jahrgaenge/2016/oktober/blackrock-kapitalismus

14. Oktober 2019


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