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BERICHT/356: Die Linke - Mieter auf der Überholspur ... (SB)


Das Recht auf Stadt geht weit über die persönliche Freiheit hinaus, Zugang zu urbanen Ressourcen zu haben: Es ist das Recht, uns zu verändern, indem wir die Stadt verändern. Darüber hinaus ist es nicht so sehr ein individuelles als vielmehr ein gemeinsames Recht, da diese Transformation unvermeidlich darauf gründet, kollektive Macht auszuüben, um die Prozesse der Urbanisierung umzugestalten. Die Freiheit, unsere Städte und uns selbst zu schaffen und neu zu gestalten, so mein Argument, ist eines der kostbarsten und doch am meisten vernachlässigten unter unseren Menschenrechten.
David Harvey (Übersetzung SB-Redaktion) [1]


Der marxistische Geograph David Harvey eröffnet die Perspektive auf ein Leben in der Stadt, das dem Entwurf des neoliberalen Kapitalismus fundamental entgegengesetzt ist und ihm den Kampf ansagt. Als Regime innovativer Verfügungsgewalt zur Rettung des von Verwertungskrisen erschütterten Kapitalverhältnisses erklärt der Neoliberalismus die sogenannten Kräfte des Marktes nicht nur zum alleingültigen Regulativ aller materiellen Verhältnisse, sondern auch der menschlichen Beziehungen. In neoreligiöser Doktrin predigt er die Verkündigung, daß es dazu keine Alternative gebe und das Soziale nicht existiere. Im Zuge der Durchsetzung dieses Dogmas schreitet die Kommodifizierung jeglicher Stoffe, Güter und Sphären gleichsam ad infinitum voran, während die Menschen zu miteinander konkurrierenden Akteuren des Marktes degradiert ein isoliertes Monadendasein fristen, dessen Erfolg oder Scheitern ausschließlich dem Grad gelungener Selbstoptimierung geschuldet sei. So treibt die Leugnung gesellschaftlicher Verhältnisse den Raub an allem und jedem auf die Spitze exzessiver Ausplünderung, verurteilt die Bezichtigung der malochenden, prekarisierten oder für überflüssig erklärten Individuen als Verlierer zu einer Existenz in ausweglos anmutender Ausbeutung und Entwürdigung.

Demgegenüber postuliert Harvey ein Menschenrecht auf Stadt, das sich nicht einer Zuteilung oder Versagung urbaner Ressourcen unterwirft, sondern die Veränderung der städtischen Verhältnisse als Prozeß unmittelbarer Lebensgestaltung und deren Entwicklung begreift, mithin in die eigenen Hände nimmt. Zugleich spricht er in Beantwortung der Frage, wem die Stadt gehört, von der unverzichtbaren Ausübung kollektiver Macht als Wesensmerkmal der Kämpfe nicht nur um eine Rückeroberung entrissener Räume und Bezüge, sondern womöglich sogar um eine andere Gesellschaft, die es im Zuge dieser Auseinandersetzungen zu erringen gilt.

Dies ist kein Nebenwiderspruch der Klassengesellschaft, der sich ausschließlich unter Reproduktion der Arbeitskraft verbuchen ließe, sondern ein zentrales Kampfgebiet, auf dem die sich auftürmenden Berge zirkulierenden Geldkapitals ins Betongold drängen. Grund und Boden wie auch Immobilien sind heiß begehrte, weil reale Verwertungsoptionen in einer kapitalistischen Ökonomie, deren angehäufte Schuldansprüche das Produkt der Weltwirtschaft um ein Vielfaches übersteigen, also zum weit überwiegenden und unablässig steigenden Teil niemals in Gestalt von Gütern einzulösen sind. Insofern markiert das Recht auf Stadt einen unmittelbaren Frontverlauf, an dem Menschen für erschwingliche Mieten, gegen Verdrängung und für einen lebendigen Kiez kämpfen, während ihnen letztlich Generäle aus Kreisen des Finanzkapitals und der Großinvestoren gegenüberstehen, deren Fußtruppen "Deutsche Wohnen & Co" heißen. Es handelt sich also durchaus um ein Feld zu führender Klassenkämpfe, auf dem der profitträchtige Privatbesitz an Wohnraum zur Disposition steht.


Mietkämpfe in Berlin - Kampagne für Enteignung

Bei der Gründungsversammlung der Bewegungslinken [2] am 14./15. Dezember in Berlin war ein Workshop den aktuellen Mietkämpfen in der Stadt gewidmet, namentlich der Enteignungskampagne und dem Mietendeckel. Thematischer Rahmen war insbesondere das Verhältnis von Partei und Bewegung an dieser gemeinsamen Front, inwieweit also Die Linke in der Landesregierung und die Initiativen vor Ort am selben Strang ziehen oder Unwuchten in Erscheinung treten. Unter Moderation von Sarah Nagel (Bezirkssprecherin Neukölln) diskutierten Katalin Gennburg (Mitglied im Parteivorstand und der Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus) und Kalle Kunkel (Gewerkschaftssekretär bei ver.di und aktiv in der Kampagne "Deutsche Wohnen & Co enteignen") unter reger Beteiligung einer interessierten Runde.

In Beantwortung der Frage, wie es zu den relativ hohen Zustimmungswerten der Enteignungsforderung kommen konnte, ging Kalle Kunkel zunächst auf die spezifische Konstellation in Berlin ein. Wie er ausführte, wurde vor zwei Jahren ein erster Volksentscheid unter der CDU/SPD-Regierung nicht zugelassen. Da es aber zu einer Kompromißregelung kam, könne man von einer stadtpolitischen Bewegung mit leidlichem Erfolg sprechen. In der Folgezeit konzentrierten sich die Aktivitäten auf die einzelnen Bezirke und Siedlungen. Wurden zuvor vor allem die alten Verfehlungen der Politik wie Ausverkauf der Wohnungen oder Auslaufen der Sozialbindung thematisiert, so rückten ab 2016/17 die Immobilienakteure in den Vordergrund. Der Vormarsch der finanzialisierten Wohnungsunternehmen hängt eng mit dem Ausverkauf des öffentlichen Eigentums zusammen, so daß diese Bestände entweder durch alten sozialen Wohnungsbau oder Mieterschaften geprägt sind, die früher in städtischen Wohnungsbaugesellschaften gewohnt haben, also eher nicht die Bevölkerungsteile mit höherem Einkommen. Darin sahen die Immobilienakteure ein hohes Aufwertungspotential, weil dort noch Mieten um die 5 Euro gelten, während in Berlin insgesamt zwischen 10 und 15 Euro zu erzielen sind. Um das durchzusetzen, sind Maßnahmen wie Modernisierung und Austausch der MieterInnen erforderlich. Diese haben sich dagegen gewehrt und Initiativen auf unterschiedlichen Niveaus gegründet, seien sie rechtlich orientiert, mit medialer Begleitung oder eher lose Zusammenschlüsse. Das spitzte sich schließlich auf den größten privaten Vermieter, nämlich Deutsche Wohnen zu.

In der Otto-Suhr-Siedlung sollte alter städtischer Wohnungsbau von über 1000 Wohneinheiten, der von Deutsche Wohnen übernommen worden war, modernisiert werden, worauf die Mieten zwischen 40 und 50 Prozent steigen würden. Die zweite strategische Komponente von Deutsche Wohnen ist das Sparen bei der Instandhaltung, was dazu führt, daß die Heizungen im Winter ausfallen, das Wasser nicht richtig funktioniert, die Fahrstühle nicht laufen. Dieses Zusammentreffen skandalträchtiger Umstände mit vernetzten Nachbarschaften führte dazu, daß die Situation zu einem Politikum wurde. Das Abgeordnetenhaus ludt einen CEO von Deutsche Wohnen ein, der jedoch nicht persönlich kam, sondern nur seine Sprecherin schickte und damit für ein PR-Fiasko sorgte.

Kunkel hob hervor, daß die Kämpfe nicht einfach nur immer stärker wurden, bis daraus ganz organisch die Forderung der empörten Mieterschaft nach Enteignung erwuchs. Seines Erachtens ist eine differenzierte Sichtweise geboten. Er ist in der Interventionistischen Linken organisiert, die in der Otto-Suhr-Siedlung Unterstützung geleistet hat. Das spiele eine wichtige Rolle bei der Frage, inwieweit es möglich ist, solche Auseinandersetzungen von außen zu verstärken, was er bejahe. Die bundesweit bekannte Initiative Kotti & Co hatte schon länger eine Kampagne für Rekommunalisierung mit der Kernargumentation auf den Weg gebracht, wir haben unsere Häuser schon dutzendfach abbezahlt und wollen sie jetzt zurückhaben. 2016/17 wurde es dann in den Nachbarschaften zunehmend als Skandal gesehen, daß die Wohnungen den Immobilienunternehmen gehören, wo sie doch früher der Stadt, also uns, gehört haben. In diesem Setting brachten Leute, die an dem ersten Mietenvolksentscheid beteiligt waren, die Forderung nach Enteignung ein. Es wurde lange über die Begriffe diskutiert und zunächst von Vergesellschaften gesprochen, dann aber nach Artikel 14 auch Artikel 15 GG ins Auge gefaßt. Die Kombination aus Leuten, die schon länger über solche Fragen nachdachten, und der Resonanzraum der vernetzten Initiativen führte schließlich zur Forderung, daß man ihnen das wegnehmen muß. Deshalb sei "enteignen" der richtige Begriff. Er ist natürlich auch etwas provokativ, trifft aber auf diese moralische Ökonomie, wir wollen das wiederhaben, was sie uns weggenommen haben. Es hat jedoch nur deswegen funktioniert, weil es von Anfang an keine bloße AktivistInnenkampagne war. "Deutsche Wohnen & Co enteignen" ist zwar eher von AktivistInnen geprägt, aber es gibt die Vernetzungen von unterschiedlichsten MieterInnenschaften, aus denen heraus auch dazu gesprochen wird. Daher rührten die Legitimität dieser Kampagne und die hohen Zustimmungswerte von maximal 46 Prozent, die jedoch inzwischen deutlich zurückgegangen sind, so daß die Ablehnung überwiegt.

Aus dieser Erfahrung hat sich die Arbeitsgruppe Starthilfe gegründet, ursprünglich eine AG der Vernetzung von Deutsche-Wohnen-MieterInnen. Aus dem Bedarf, die Organisierung vor Ort zu systematisieren, ging eine AG zwischen Vernetzung und Kampagne hervor. Eine Kampagne mag einen großen Wirbel machen, doch ist sie nach ein oder zwei Jahren vorbei und was die Organisierung angeht, bleibt nichts übrig. Deshalb wurde die aktuelle Vorgehensweise entlang von zwei Strängen aufgebaut: Zum einen der Volksentscheid und seine Begleitkampagne, zum anderen die Organisierung, wobei letztere erheblich von der Kampagne abgekoppelt wurde. Denn hat die Kampagne Fahrt aufgenommen, kann sie ohne Ende Ressourcen aufsaugen, so daß alle nur noch damit beschäftigt sind. Die AG Starthilfe erklärt in einer Broschüre, wie man eine MieterInnenorganisation aufbaut. Beratung und Workshops, wie spricht man Leute an, wie führt man eine organisierende Versammlung durch, wie macht man Öffentlichkeits- und Pressearbeit. Zudem sollen die Nachbarschaften konkret unterstützt werden, so daß man im Sinne einer gewerkschaftlichen Idee die Ressourcen der Gesamtbewegung auch dafür nutzt, einzelne Initiativen zu unterstützen. Zur Anwendung kommt das Konzept des Blitzes, der aus dem gewerkschaftlichen Organizing stammt. Bei Bedarf einer Initiative vor Ort wird zunächst ein Training durchgeführt, wie man MieterInnen anspricht. Dann geht eine Gruppe von 20 bis 30 Leuten in die Siedlung, um die ein, zwei Leute zu unterstützten, die bisher dort unterwegs sind, und ein Momentum zu erzeugen. Danach kam es oft zu Versammlungen mit bis zu hundert Leuten. Wir sind im Experimentierstadium, da sich noch viele Fragen zum Verhältnis von innen und außen stellen, betonte der Referent.


Kurswechsel in der Linksfraktion

Sarah Nagel stellte Katalin Gennburg vor, die in Treptow-Köpenik direkt ins Abgeordnetenhaus gewählt wurde. Auf der politischen Ebene wurde die Kampagne "Deutsche Wohnen & Co enteignen" positiv aufgenommen, obgleich Die Linke in früheren Jahren nicht gerade ein Hort der Enteignungsfreude war. Ein Landesparteitag beschloß mit großer Mehrheit, die Kampagne zu unterstützen. Wie verliefen die Debatten in der Partei?

Wie Katalin Gennburg berichtete, hatte der rot-schwarze Senat zwar erklärt, er nehme den Mietenvolksentscheid ernst, aber alle entscheidenden Punkte herausgenommen, die eine Umstrukturierung der Bundespolitik möglich gemacht hätten. Diese Torpedierung führte zu heftigen Kontroversen und Verwerfungen im Initiativkreis. Als damalige Mitarbeiterin Katrin Lompschers sprach Gennburg in Charlottenburg mit MieterInnen, sich am Volksentscheid zu beteiligen. Es gab zu dieser Zeit bereits viele Gruppen, die für sich in Anspruch nahmen, das Thema weiter zu bearbeiten. Doch stellte sich nach dem Verlust der großen Erzählung die Frage, wie es mit all diesen Gruppen weitergehen könnte. Die Szene der mietpolitischen Initiativen hat sich weiterentwickelt, von den linken Gruppen entkoppelt und Basisdemokratie in den Siedlungen geschaffen. Dies führte zu einem neuen Referenzrahmen, der einen Anschluß ermöglichte. "Deutsche Wohnen & Co enteignen" war eine Radikalisierung nach innen. Das war die eigentliche Überraschung, daß die MieterInnen in den Siedlungen gesagt haben, wir enteignen die jetzt, so die Referentin.

Die Entscheidung des Landesparteitags habe auch sie überrascht. Angekoppelt an die radikalisierten Auseinandersetzungen in der Stadt sei es gelungen, die Diskursräume in der Partei so zu verschieben, daß sich deren Richtung veränderte. Die Linke habe sich als Landespartei aus der Regierung heraus radikalisiert, was erstaunlich und nicht ganz einfach war. Der Landesvorsitz kann Widersprüche aushalten, und natürlich ist die Akteursebene ein ganz wesentliches Element. Im Parlament sitzen mit ihr selbst und Gaby Gottwald zwei Abgeordnete, die das ausdrückliche Interesse haben, bestimmte Diskurse weiter nach links zu verschieben. Katalin Gennburg ist vom Fach, da sie Stadtforschung studiert hat und seit zehn Jahren Mieten und Stadtpolitik macht. Sie würde es allerdings vorziehen, nicht nur Mieten-, sondern Raumpolitik zu machen, was nun mit dem Mietendeckel eher zu bewerkstelligen sei.

Dieser Erfolg in Berlin könnte im Zuge der Verarbeitung der Niederlagen in Brandenburg und Sachsen dazu führen, daß in der Partei die Offenheit dafür wächst, die Linien der Auseinandersetzung in der Gesellschaft genauer unter die Lupe zu nehmen. Die Linke in Berlin hat sich in der Opposition erneuert, wobei sich die westlichen Bezirke in den Wahlergebnissen an die im Osten der Stadt herangearbeitet haben. Die alten Ostverbände haben nicht mehr das Sagen, und in ihnen finden harte Brüche statt. Diese Veränderung ist nicht vom Himmel gefallen, und man muß hart daran arbeiten, daß sie so weitergeht, betonte die Referentin. In Berlin habe man sich bestimmten Fragen gestellt. Als vor fünf Jahren der Volksentscheid im Parlament zur Diskussion stand, diskutierte die Linksfraktion noch ernsthaft die Frage, ob man das unterstützen sollte. 200 Leute hatten ein Jahr lang ein Gesetz von 60 Seiten erarbeitet - unsere PartnerInnen in der Stadt - doch die wenigen Leute Der Linken im Parlament zögerten, weil sie in einem Detail zunächst nicht zustimmen mochten. Die Lösung dieses Konflikts habe maßgeblich dazu beigetragen, in dieser Hinsicht voranzukommen.


Zum Verhältnis von Partei und Bewegung

Sarah Nagel regte daraufhin an, das Verhältnis von Partei und Bewegung in der Diskussion zu vertiefen. Dazu unterstrich Kalle Kunkel, daß man nicht pauschal von gut oder schlecht reden könne, sondern die jeweiligen Verläufe herausarbeiten müsse. Der Beschluß Der Linken, sich hinter die Enteignung zu stellen, hat seines Erachtens die Aufmerksamkeitsökonomie deutlich verändert. Der Vorteil war ein medialer Spin, da dies eine Regierungspartei betraf, wie ihn die Bewegung mit noch so vielen kreativen oder provokativen Aktionen nicht hinbekommen hätte. Das sei zugleich der Nachteil, da die Initiative Teil einer parteipolitischen Auseinandersetzung wird, selbst wenn man den Beteiligten besten Willen unterstellt. Den Beschluß des Landesparteitags hält er für war hilfreich, zumal die Partei nicht daran rüttelt, daß es sich bei der Kampagne um eine eigenständige Struktur handelt. Geärgert habe man sich jedoch über die Kostenschätzung, weil die Zahl von 36 Milliarden Euro kaum noch aus der Welt zu schaffen ist. Das sei eine hochpolitische Frage, weil darüber die Entschädigungsregelung interpretiert wird. Da Art. 15 GG noch nie angewendet wurde, ist es ein offenes Feld. Die Kampagne hat eine nachvollziehbare Rechnung aufgestellt, die von 7 bis 12 Milliarden Euro Entschädigung bei Enteignung ausgeht. Das ist auch qualitativ ein Unterschied zu 36 Milliarden, weil es den Haushalt betrifft. Da habe Die Linke in ihren exekutiven Möglichkeiten eine extrem schlechte Figur gemacht, weil sie diese Zahl durchrauschen ließ. Das schadet uns bis heute und dürfte Einfluß auf den Rückgang der Zustimmung haben, so Kunkel.

Daß der radikale Entwurf des Mietendeckels an die Öffentlichkeit kam und aufgegriffen werden konnte, habe die Initiative begrüßt, aber dennoch beschlossen, keine eigene Arbeit dazu zu machen, weil das eigentlich ein Gegenprojekt ist. Da es jedoch für die MieterInnen durchaus einen Unterschied macht, wer sich bei dieser Kontroverse um die verschiedenen Entwürfe durchsetzen wird, war klar, daß man irgendwie damit arbeiten müsse. Deshalb wurde die Doppelforderung formuliert, "erst richtig deckeln, dann enteignen". Die Mobilisierungsfähigkeit habe sich jedoch in Grenzen gehalten, da man sehr viel mehr Menschen auf der Straße erwartet hätte. Der geleakte Entwurf sei in der Koalition zu schnell in einen Kompromiß zwischen der realutopischen Perspektive und dem weiteren Vorgehen gemündet, als daß eine fundierte Mobilisierung möglich gewesen wäre.

Wie Sarah Nagel anmerkte, sei man im recht aktiven Verband Neukölln ebenfalls überrascht gewesen, wie schnell zurückgerudert wurde. Dabei habe die Basis auf ein Signal gewartet, mit allen Kräften zu mobilisieren.

Katalin Gennburg führte dazu aus, daß vor einem Jahr im kleinen Kreis mit der Senatorin die damals frisch publizierte juristische Konstruktion erörtert wurde, den Mietendeckel über den Dreh, daß das Preisrecht auf Landesebene seit der Föderalismusreform, mit der die Regelungskompetenz im Wohnungswesen auf die Länder übergegangen ist, das über das BGB und den Bund geregelte Mietrecht zu umgehen: Wir legen über das Preisrecht fest, wie wir die Mieten regulieren. Im Januar kam die Anfrage der Presse, was vom Mietendeckel der SPD zu halten sei, die diese Idee durchgestochen hatte. Dadurch stand die Linksfraktion mit dem Rücken an der Wand und auf dünnem Eis. Auf der Fraktionskonferenz im März 2019 sprachen viele von einer heißen Kartoffel, die die SPD auf den Tisch lege, damit man sich daran verbrenne. Dennoch konnte durchgesetzt werden, alles auszuloten, um nichts unversucht zu lassen, was dann im Landesvorstand mehrheitlich unterstützt wurde, worauf im April Beratungen mit JuristInnen folgten.

Die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung mit Katrin Lompscher an der Spitze ist ansonsten fest in der Hand von rechten Sozialdemokraten. Daran angeschlossen die sechs Wohnungsbaugesellschaften, die ebenfalls von rechten Sozialdemokraten geführt werden. Auch in den Bezirksämtern sitzen nirgends linke Leute in der Bauverwaltung oder als Bürgermeister. Die Grünen als weiterer Koalitionspartner geben sich mietenbewegt, doch liegen ihnen zugleich die Hauseigentümer am Herzen. Sie haben jedoch in Berlin einen linken Flügel, dem auch die mietenpolitische Sprecherin angehört. Wäre das nicht der Fall und die SPD nicht historisch schlecht aufgestellt, gäbe es den Mietendeckel wohl ebensowenig wie ohne das Volksbegehren, so Gennburg. In dem Verfahren gab es zunächst einen Eckpunkteentwurf, der dann geleakt wurde, wobei niemand weiß, wer das getan hat. Daß es trotz aller Widrigkeiten und Sabotage am Ende doch geklappt hat, verdanke sich einem engmaschigen Netz von Leuten, die mitgearbeitet haben, aus der Zivilgesellschaft, aus der Linken, von JournalistInnen, von neuen Leuten in der Senatsverwaltung und von juristischen ExpertInnen.


Organizing und fachpolitische Offensive

In Erwiderung auf weitere Fragen der Moderatorin sowie zahlreiche Wortbeiträge aus der Runde berichtete Kalle Kunkel, daß die IL aufgrund der nicht ganz unkomplizierten Erfahrungen in der Zeit des ersten Mietenvolksentscheids auf strenge Regeln poche, was mögliche Klüngel betrifft. Alle Formen von Kommunikation mit den Regierungsparteien, die sich um die Ausgestaltung des Gesetzes drehen, sollten legitimiert werden. Daß sich die Initiative überhaupt damit befasse, sei Ausdruck dessen, daß das sonst niemand machen wollte.

Organizing sei für ihn stets eine Frage von Handwerk und Einsatz von Ressourcen. Die AG Starthilfe besteht aus 20 bis 25 Leuten und versteht ihre Aktionen als kollektiven Prozeß. Zum jeweiligen Ausmaß des Engagements gibt es bestimmte Skalen, und wenn eine umfassende Involvenz geboten erscheint, folgt diese vereinbarten Kriterien: Es müssen schon einige Leute vor Ort aktiv sein. Dann werden aus der AG Starthilfe bis zu fünf Leute bestimmt, die als Team arbeiten, damit man mit Widrigkeiten umgehen kann.

Mit Blick auf die Eckpunkte zum Mietendeckel finde er nachvollziehbar, nicht das Spiel der SPD zu spielen und alle Informationen durchzustechen. Die Linke sollte jedoch Transparenz herstellen, ohne sich an dieser Leak-Kultur zu beteiligen. Der Mietendeckel sei schon jetzt ein Erfolg, weil die Modernisierungen zurückgefahren werden. Da 65.000 Wohnungen genehmigt sind, aber nicht gebaut werden, ist es Unsinn zu behaupten, der Mietendeckel ruiniere das Handwerk. Es finden allenfalls Verschiebungen statt. Alles ist gut, was Unsicherheit bei den Investoren schafft, weil es die Bedeutung der Stadt als Betongold reduziert, so Kunkel. Was die rechtliche Seite betrifft, sei er sehr skeptisch, weshalb man sich jetzt schon darauf vorbereiten sollte, wie mit einem möglichen Scheitern vor dem Verfassungsgericht umzugehen sei.

Wie Katalin Gennburg hervorhob, habe die Linksfraktion den großen Vorteil, fundierte Fachkenntnisse einzubringen. Sie selbst komme aus der Materie, die Senatorin sei als Städtebauerin Fachfrau und der rechtspolitischer Sprecher ein erfahrener Jurist. Mit dem Mietendeckel verbindet sich eine Redemokratisierung, nämlich die Botschaft, daß der Staat lenkend eingreifen kann. Die SPD wollte nur das Einfrieren der Mieten, doch konnte sie in den Verständigungsrunden mit externen JuristInnen weitergezogen werden. Der Senatsbeschluß sah vor, einzufrieren und bei Quervermietung zu deckeln. Wird also eine Wohnung nach einem Auszug wiedervermietet, darf die Miete einen festgelegten Wert nicht übersteigen. Hinzu kommen Ergänzungen zur Modernisierung sowie die Möglichkeit, eine Absenkung einzufordern, wenn die Miete 120 Prozent über dem Tabellenwert liegt. Die Grünen mahnten eine Ausnahme für die Genossenschaften an. Da jedoch die Gemeinnützigkeit 1990 abgeschafft wurde, ist keine Regelung möglich, die Genossenschaften privilegiert.

Der Neubau ist vom Mietendeckel ausgenommen. Daß hier Alarm geschlagen wird, hat ganz erheblich damit zu tun, daß die Bauwirtschaft in großen Städten eine innige Verbindung zur Politik pflegt, die sich nur sehr schwer abschneiden läßt. Es mischen internationale Finanzinvestoren mit, die Angst um ihre Renditen haben. Baurecht ist Eigentumsrecht, und dieses rückabzuwickeln, ist höchst kompliziert, da man es erstens mit Eliten und Lobbyisten und zweitens mit komplexen Verträge zu tun hat. Noch vor zwei Jahren ging es ausschließlich darum, zu bauen, zu bauen, zu bauen. Inzwischen können auch die anderen Parteien einer Mietenregulierung etwas abgewinnen, da der Diskurs, daß man Mieten nur über Neubau regeln könne, aus dem Fokus gedrängt worden ist. Der Landesparteitag hat beschlossen, die sechs großen landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften mit fast 200.000 Wohnungen, die im Verband BBU der Wohnungswirtschaft Berlin-Brandenburg organisiert sind, in einen neuen gemeinwohlorientierten Verband zu fassen. Da mit der BBU ein Umbau des Wohnungssektors nicht zu machen ist, wurde damit das Fenster für eine diesbezügliche Debatte geöffnet. Würde man die Gemeinnützigkeit des Wohnens wieder einführen, könnte man einen neuen gemeinwohlorientierten Sektor schaffen, in dem Wohnraum steuerlich und rechtlich der Rendite entzogen wird, so Gennburg.


Ausblick auf die kommenden Kämpfe

Wie geht es weiter? Im Januar wird das Gesetz zum Mietendeckel beschlossen, das dann im Februar in Kraft tritt. Prompt werden die Normenkontrollklagen folgen. Katalin Gennburg ist optimistisch, daß die Frage, ob Bund oder Länder mehr zu sagen haben, diesmal nicht in der Sackgasse kontroverser Rechtsauffassungen endet. Dazu braucht man ein Urteil des Verfassungsgerichts, daß die Länder durchaus die Möglichkeit haben, zusätzlich Gesetze zu erlassen, weil die vom Bund getroffenen Maßnahmen nicht ausreichen. Auch die Richter am Bundesverfassungsgericht sind politisch entsandt und werden eine politische Entscheidung treffen, da dürfe man sich nichts vormachen. Da jedoch die Große Koalition zusammenzubrechen drohe, schaffe das ein Zeitfenster, in dem solche verfassungsrechtlichen Entscheidungen größeres Gewicht bekommen.

Sie habe in den politischen Auseinandersetzungen des letzten Jahres gelernt, wie Klassenkampf konkret aussieht. Sollte diese Erzählung des Klassenkampfs weit über Berlin hinaus angekommen sein, halte sie das für sehr erfreulich. Auch die Debatte über Hausbesetzungen, nämlich Entkriminalisieren und Legalisieren, gehöre zu ihren Herzensthemen. Es brauche deutlich mehr Raum für Bewegungspolitik, die häufig überhaupt nicht mitgedacht wird, und die Radikalisierung der Partei aus der Regierung heraus müsse weitergehen. Für die Perspektive der Bundespartei zeigt diese Mietendeckeldebatte, daß die Kümmererpartei als Erzählung passé ist. Sind wir nicht die Partei des sozialen Protests?

Bei der Enteignungskampagne, so Kalle Kunkel, sind die Unterschriften abgegeben, es folgt nun die Rechtsprüfung durch den Innensenat, der wahrscheinlich positiv entscheiden wird. Dies vorausgesetzt, müßte sich der Senat auf eine gemeinsame Haltung einigen, worauf die Sache an das Parlament ginge. Dadurch stünde das Thema wieder ganz oben auf der Agenda, was die Initiative nutzen könne, um die Parolen der angeblich hohen Kosten und ausbleibenden Neubauten vom Tisch zu bekommen. Dann stünde die zweite Sammelphase an, in der binnen vier Monaten 200.000 Unterschriften zusammenkommen müssen. Bis dahin soll in jedem Bezirk und am besten in jedem Kiez eine dezentrale Sammelstruktur mit ein bis drei Personen aufgebaut werden. Ab Februar werden Bezirksversammlungen mit dem Ziel durchgeführt, jeweils eine Sammelstruktur zu etablieren. Von dort aus soll das dann im besten Fall auf die einzelnen Kieze heruntergebrochen werden, damit sie in der Lage sind, eigenständig zu arbeiten. Dezentralisierung bei verbindlichem Bezug zur Gesamtkampagne, damit man einigermaßen den Überblick über den Stand behält. Die zweite Phase wird angesichts des ideologischen Gegenwinds ein gewaltiger Kraftakt, zumal im Schnitt jeden Tag 2000 Unterschriften gesammelt werden müssen. Ideal wäre, wenn es zur nächsten großen Mietenwahnsinns-Demo am 28. März losginge, er rechne jedoch eher ein bis zwei Monate später damit.

Kalle Kunkel zitierte abschließend noch einmal das bereits von Thomas Goes am Vorabend angeführte geflügelte Wort des großen Steuermanns (Mao Zedong): Es herrscht ein großes Chaos unter dem Himmel, die Zeiten sind exzellent. Es komme darauf an, aus allem etwas zu machen, auch aus den Klagen gegen den Mietendeckel, die ohne Ende kommen werden. Das Bedürfnis nach Kommunikation und Organisierung wird angesichts der Drohungen und Unsicherheit wachsen, wenn wir dieses Feld gut bearbeiten.

(Weitere Berichte und Interviews zur Gründungsversammlung folgen)


Fußnoten:

[1] The right to the city is far more than the individual liberty to access urban resources: it is a right to change ourselves by changing the city. It is, moreover, a common rather than an individual right since this transformation inevitably depends upon the exercise of a collective power to reshape the processes of urbanization. The freedom to make and remake our cities and ourselves is, I want to argue, one of the most precious yet most neglected of our human rights.

David Harvey: Social Justice and the City, University of Georgia Press (2010), S. 315

[2] www.bewegungslinke.org/die-bewegungslinke-hat-sich-gegruendet/


Berichte und Interviews zur Gründungsversammlung der Bewegungslinken im Schattenblick unter:
www.schattenblick.de → INFOPOOL → POLITIK → REPORT

BERICHT/354: Die Linke - beteiligt, bewegt und präsent ... (SB)
BERICHT/355: Die Linke - als Partei gesellschaftlich begründeter Probleme ... (SB)
INTERVIEW/466: Die Linke - in die Hände des Volkes ...    Janine Wissler im Gespräch (SB)

5. Januar 2020


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