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BERICHT/361: Ukrainekonflikt - Verhandlungsnöte ... (SB)


"Nationen haben keine Freunde, Nationen haben Interessen."
Charles de Gaulle [1]


Die als ideologisches Sturmgeschütz in Stellung gebrachte Forderung, sich im aktuellen Konflikt entweder für die Ukraine oder für Russland zu entscheiden, bezieht nicht Position gegen den Krieg, sondern setzt auf Sieg. Geht es aber darum, um jeden Preis zu gewinnen und den Feind endgültig niederzustrecken, werden unzählige weitere Opfer und die fortgesetzte Verwüstung des Landes nicht nur in Kauf genommen, sondern als unverzichtbarer Brennstoff in das Zerstörungswerk eingespeist. Für das schnellstmögliche Ende des Waffengangs und eine Lösung auf dem Verhandlungsweg einzutreten, erfordert demgegenüber ein Engagement, das die Gefahr nicht scheut, mit mehr oder minder weitreichenden Konsequenzen des Verrats bezichtigt zu werden. Wenngleich das zumindest hierzulande nicht dazu führt, ins Gefängnis geworfen oder umgebracht zu werden, drohen doch in bestimmten Berufsfeldern gravierende Sanktionen, ansonsten oftmals Ausgrenzung und Diskreditierung. Wer entschieden vertritt, dass dieser Krieg zwischen imperialistischen Staaten und deren nationalen Eliten ausgetragen wird, worunter die Bevölkerungen aller beteiligten Länder als Kanonenfutter und zivile Opfer zu leiden haben, sitzt rasch zwischen allen Stühlen. Eine Bewegung gegen den Krieg, die sich um eine tiefgreifendere und differenziertere Analyse und Argumentation als die kritiklose Unterstützung einer der beiden Kriegsparteien bemüht, sieht sich zwangsläufig mit anwachsenden Widerständen konfrontiert, die sie zu marginalisieren trachten. Den Raubzug nach innen und außen als Wesenskern friedlicher Wirtschaftsbeziehungen wie bellizistischer Übergriffe zu thematisieren wird in Zeiten offenen Krieges mehr denn je delegitimiert.

Angesichts eines Szenarios verheerender ökonomischer, ökologischer und sozialer Krisen drängt sich der Eindruck auf, dass die menschheitsgeschichtliche Entwicklung gegen die Wand zu fahren droht und eine Bewältigung der sich auftürmenden Katastrophen im Rahmen der herrschenden Verhältnisse unmöglich herbeigeführt werden kann. Die auf Eigentumsordnung, Wachstum und Konkurrenz gestützte profitgetriebene Verwertung ist an ihre Grenzen gestoßen und häuft gigantische Schuldtitel jenseits konkreter Produktionssphären auf, während die Ausplünderung natürlicher Ressourcen und die Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft unvermindert eskaliert. Wenngleich eine weltweite Zusammenarbeit bei der Eindämmung dieses vielgestaltigen Verhängnisses erodierender Lebensverhältnisse und bedrohter Existenzmöglichkeiten unverzichtbar anmutet, ist das Gegenteil der Fall.

Um die Blockade der um ihr Wohlergehen, wenn nicht gar Überleben kämpfenden Menschen zu brechen und einen neuen Zyklus der Kapitalverwertung in Schwung zu bringen, setzen die Herrschaft sichernden und fortschreibenden Kräfte auf innere und äußere Repression, wobei administrative Gewalt und offene Kriegsführung nahezu nahtlos ineinander übergehen. Die Strategie der Disruption, andere Regionen oder Länder unter immensen Opfern zu zertrümmern, beschwört eine Innovationsoffensive, als gelte es, den Phoenix aus der Asche wieder auferstehen zu lassen. Der Zugriff auf schwindende Sourcen des Überlebens und die Wahrung eines Vorsprungs zu Lasten unterworfener und ausgebeuteter Sphären bedient sich des Urreflexes erhoffter Übervorteilung durch die Auslöschung des andern und die Zerstörung all dessen, was er aufgebaut hat. Den Erzfeind in die Knie zu zwingen wird zum Königsweg der Befreiung von allem Übel erklärt und als solcher bereitwillig akzeptiert. Dass die absurde Hoffnung auf den Sieg in der kommenden Schlacht zumindest befristet überschäumende Euphorie wachzurufen vermag, zeigt die Kriegsbegeisterung in beträchtlichen Teilen der deutschen Bevölkerung, die sich eine zuvor für undenkbar gehaltene Opferbereitschaft verordnen lässt.

In der Staatenkonkurrenz werden Nationalismen beschworen und geopolitische wie kulturelle Ansprüche daraus abgeleitet. Unter der Maßgabe, dass es uns um jeden Preis besser gehen soll als den andern, auf deren Schultern wir selbstverständlich reiten, werden innergesellschaftliche Widersprüche brachial negiert und planiert. Die Kriegstrommeln versammeln das nationale Reservoir vereinheitlichter Kraftanstrengungen unter dem Banner des ideologischen Entwurfs kultureller Überlegenheit und innovativen Fortschritts, wie sie hierzulande im Namen einer wertebasierten Außenpolitik und des grünen Kapitalismus eingefordert und vorangetrieben werden. So erweisen sich westliche Werte und humanitäre Aufwallungen noch immer als selektiv eingesetzter Brandbeschleuniger expansiver und interventionistischer Raubgelüste.


Portrait des Referenten - Foto: © 2023 by Schattenblick

Werner Rügemer
Foto: © 2023 by Schattenblick

"Zeitenwende - plötzlich und unerwartet?"

Die Bewegung gegen den Krieg Dithmarschen ist ein regionaler Zusammenschluss von Organisationen und Einzelpersonen aus verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen gegen Krieg als Mittel der Politik. Sie versteht sich als Teil der örtlichen Friedensbewegung und wendet sich seit 1991 gegen den wachsenden Einfluss des Militärs in der Gesellschaft. Ihr zentrales Anliegen ist der Kampf gegen die eskalierende Kriegsgefahr durch massive Aufrüstung und die weltweite Ausweitung der Bundeswehreinsätze. Die Untauglichkeit von Waffengewalt zur Lösung politischer Konflikte kann ihres Erachtens leicht erkannt werden, wenn man den Blick auf den Irak, nach Afghanistan oder nach Mali richtet. Auch in der Ukraine werde es keinen Frieden ohne Zugeständnisse beider Seiten geben, wie sie insbesondere angesichts der wachsenden Gefahr eines Atomkriegs unverzichtbar seien.

Zum Thema "Zeitenwende - plötzlich und unerwartet?" führte die Bewegung gegen den Krieg Dithmarschen am 14. und 22. März 2023 in Heide/Holstein zwei Veranstaltungen zu Weltpolitik und Krieg durch. Diese wurden in Kooperation mit attac Dithmarschen und der Deutschen Friedensgesellschaft - Vereinigte Kriegsdienstgegner*innen (DFG-VK) Gruppe Westküste mit großzügiger Unterstützung durch die Informationsstelle Militarisierung Tübingen (IMI) und die Rosa-Luxemburg-Stiftung SH Kiel organisiert. Referent der ersten Veranstaltung unter dem Thema "Der neue Systemkonflikt: Der US-geführte Kapitalismus gegen den 'Rest' der Welt" war Dr. Werner Rügemer aus Köln, der als Publizist, Buchautor, Vortragender, Berater und Stadtführer arbeitet.

Wie sich bereits in seiner thematischen Schwerpunktsetzung abzeichnete, konzentrierte sich Rügemer auf den US-geführten Kapitalismus, den er in scharfe Opposition auch zu anderen Verlaufsformen kapitalistischer Entwicklung in der "restlichen" Welt und somit auch der seiner Ansicht nach subordinierten Verbündeten setzte. So kontrastierte der Referent einerseits das Sinken von Wohlstand und Lebenserwartung in den schrumpfenden Volkswirtschaften der USA und EU mit dem rasanten Aufstieg der Volksrepublik China zur größten Volkswirtschaft und Handelsnation, die Kooperationen auf allen Kontinenten eingehe. Der Systemkonflikt spiele sich andererseits aber auch innerhalb der Staaten des US-geführten Kapitalismus ab. Da die Herrschaft von "America First" weltweit bröckle, nehme ihre Aggressivität zu, wobei die USA mit der NATO über einen unvergleichlichen militärischen Vorsprung verfügen. Es stelle sich mithin die Frage, wie mit Völkerrecht und Menschenrechten, gerade bei Arbeits- und Sozialrechten, eine friedliche, gerechte Entwicklung gesichert werden könne.


Plakat 'Stoppt das Töten in der Ukraine. Für Waffenstillstand und Verhandlungen' - Foto: © 2023 by Schattenblick

Nicht für den Sieg, sondern gegen den Krieg
Foto: © 2023 by Schattenblick

Washingtons Griff nach Kontrolle der Welt

Wie Rügemer in seinem Vortrag unterstrich, verschärfe sich der Systemkonflikt zwischen dem US-geführten Kapitalismus und dem Rest der Welt, da der Abbau von Rechten und die Militarisierung von den USA extrem vorangetrieben würden. Die Vorgeschichte des Ukrainekriegs reiche sehr viel weiter zurück als die gegenwärtigen Kampfhandlungen und präge auch die Entwicklung in anderen Ländern wie Deutschland oder Frankreich. Der weltgrößte Kapitalorganisator BlackRock ist bei den führenden US-Rüstungskonzernen präsent, verkehrt in Paris und Berlin auf höchster Ebene, kontrolliert die deutsche Waffenschmiede Rheinmetall und berät Kiew beim Wiederaufbau, der um so lukrativer ausfällt, je mehr zuvor zerstört worden ist. Die EU habe seit ihren Anfängen als eine Kapitalbürokratie unter US-amerikanischem Einfluss gestanden, mit systemischem Niedriglohn, den Hartz-Gesetzen, Migrationsarbeitskräften und der Benachteiligung von Frauen.

Nach dem Zweiten Weltkrieg, so der Referent, bekämpften die siegreichen USA die "kommunistische Gefahr", worunter sie auch Befreiungsbewegungen, Pazifisten und selbst Nationalkonservative wie de Gaulle subsumierten. Ihn identifizierte die Roosevelt-Regierung 1943 als ein Hindernis, das es aus dem Weg zu räumen gelte. Seine Vorstellungen von einem souveränen Staat waren mit jenen der USA nicht vereinbar, und so erkannte Washington die provisorische Regierung Frankreichs zunächst nicht an, erst nach der Ära de Gaulles flossen die Marshall-Plan-Gelder. Die Vereinigten Staaten haben nach Angaben des US-Kongresses bis dato 182 Kriege geführt, worunter verschiedenste Optionen wie etwa der Putsch 1953 im Iran oder der Vietnamkrieg fallen, in dem nicht nur Soldaten, sondern auch massenhaft Zivilisten bekämpft wurden. Hinzu kommen "weiche" Instrumente der Einflussnahme wie Hollywood-Filme, Stipendien, NGOs und milde Gaben.

Mit Gründung der NATO und dem Marshall-Plan wurde ein militärisch-ziviler Zangengriff in Stellung gebracht, zumal nur Regierungen Gelder erhielten, an denen keine Linken beteiligt waren. Im Extremfall Griechenlands wurde 1948 der Sieg der Opposition mit militärischer Unterstützung einheimischer Kollaborateure zunichte gemacht. George Marshall war Army Chief of Staff, dann Handelsminister und schließlich Verteidigungsminister bei der NATO-Gründung. Nach dem Ende der Sowjetunion wurde die NATO nicht aufgelöst, sondern im Gegenteil erweitert, obwohl das erklärte Feindbild Kommunismus verschwunden war. Russland und China blieben die Hauptfeinde, wobei Moskau unter dem von US-Beratern umgebenen Jelzin zunächst wohlgelitten war, was sich dann unter Putin radikal änderte, der die Ausplünderung beendete. Es gehe also nicht um die Durchsetzung des Kapitalismus an sich, sondern dessen US-amerikanische Art, so Rügemer. Brzezinski verkündete 1998, dass "die einzige Weltmacht" nur als solche überleben könne, sofern sie ganz Eurasien von Lissabon bis Wladiwostok als Territorium und Ressource kontrolliere, wofür die Ukraine der Schlüsselstaat sei. Dort sind die USA bereits seit 1991 zivil und seit 1998 auch als militärische Berater präsent.

Seit Obamas Präsidentschaft ist China zum Hauptfeind aufgerückt. In der Praxis des US-geführten Kapitalismus könne man schnell vom Freund zum Feind werden. Im Falle Chinas nahmen Nixon und Kissinger Beziehungen zur Volksrepublik auf, während der bisherige Freund Taiwan fallengelassen wurde und die Vereinten Nationen verlassen musste. Im Gegenzug konnten sich zahlreiche US-Konzerne in der Volksrepublik niederlassen. China sei der bevorzugte Freund geblieben, bis es den US-geführten Kapitalismus transformiert, die Arbeitsbedingungen verbessert und als einziges Land in den letzten 15 Jahren steigende Löhne ermöglicht habe. Millionen Menschen wurden aus der Armut geholt, eine ansehnliche Mittelschicht bildete sich heraus, während diese in den USA, in der Folge auch in Deutschland und der EU, geschliffen wurde. China, das wegen seines Aufstiegs zum wirtschaftlich stärksten Staat der Welt zum Feind erklärt worden sei, habe seinen Erfolg mit der Neuen Seidenstraße auf alle Kontinente exportiert und sei Kooperationsformen in Südamerika, Afrika und Asien eingegangen. Die maritim wie auch zu Lande ausgebaute Neue Seidenstraße bindet die durch die EU verarmten osteuropäischen Länder ein. Dort kommen seit 15 Jahren die unter Juncker und Merkel angestoßenen Infrastrukturprojekte nicht voran, weil sich die erhofften Gewinne für Privatinvestoren nicht realisieren lassen. Zudem müssen westliche Unternehmen in China beispielsweise mit Joint-Ventures und einer gewissen Prozentzahl einheimischer Manager Zugeständnisse machen. Darum wurde China zum langfristigen Hauptfeind aufgebaut, während Washington die Verbündeten im pazifischen Raum wie Taiwan, Australien oder Guam zusammentrommelt und aufrüstet.

Der Krieg in der Ukraine hat dazu geführt, dass sich der Systemkonflikt vor allem global beschleunigt. Indien wurde zum Zwischenhändler von russischem Öl und Gas, was wiederum Russland stärke, viele andere Länder distanzierten sich von den westlichen Mächten. Scholz und Habeck reisten nach Brasilien und Indien und versuchten, diese Länder wieder einzufangen. Der Konflikt finde nicht nur in der Ukraine, sondern in allen gesellschaftlichen Bereichen statt, von der Verschlechterung des Gesundheits- und Bildungssystems bis hin zum Fachkräftemangel. Um Wohlstand und Demokratie zu erhalten gelte es für die Friedensbewegung, den Kapitalismus zu thematisieren und sich der geschilderten Entwicklung entgegenzustellen, schloss der Referent seinen Vortrag.

In der anschließenden Diskussion ging Rügemer auf Fragen und Beiträge ein. Die kapitalistischen Staaten zeichneten sich durch gravierende Klassenunterschiede aus, die Arbeiterklasse in den USA sei heute so arm wie seit 1945 nicht mehr. Viele Menschen stehen in Arbeit und bleiben doch arm (working poor), wozu längst jene kommen, die erkrankt sind und dennoch arbeiten müssen (working sick). Die herrschende Klasse weiß um ihren schwindenden Rückhalt, ähnlich verhält es sich auch in Deutschland, wo die Unterstützung der Parteien wegbricht.

Die Vereinten Nationen waren eine Schöpfung der USA, doch bei deren Brüchen des Völkerrechts war die UNO entweder hilflos oder Komplize Washingtons. Unter Kofi Annan erhielten die Konzerne Mitspracherecht, Unternehmen und Stiftungen drangen in die WHO ein, der IWF ist eine menschenrechtsfeindliche Organisation, längst spricht man nicht mehr von Völkerrecht, sondern der regelbasierten Ordnung. Die USA haben von den über 200 Arbeitsrechten der UN-Charta lediglich die zehn belanglosesten ratifiziert. Heute ist China mit seiner multipolaren Globalisierung zum verzweifelten Anhänger der Vereinten Nationen geworden.

Ein Diskussionsbeitrag stellte das vom Referenten vertretene Unterwerfungsverhältnis Deutschlands gegenüber den USA in Frage, da die Bundesrepublik zwar im Bündnis von der Zusammenarbeit mit Washington profitiere, aber zugleich erhebliche Eigeninteressen verfolge. Vom Jugoslawienkrieg über essentielle Strategiepapiere bis hin zu Zeitenwende und massiver Aufrüstung legten deutsche Eliten damals wie heute einen eigenständigen Drang nach Osten an den Tag. Darauf erwiderte Rügemer, um die Interessen der deutschen Kapitalisten sei es nach 1945 schlecht bestellt gewesen. Zwar hielten die USA sie für nützlich und schützten sie vor Enteignung, stellten sie aber unter engmaschige Beobachtung. Flick und Krupp wurden vorzeitig aus der Haft entlassen, McCloy passte auf Adenauer auf. Diese tiefgreifende Verflechtung zahlte sich bis 1990 aus, da die BRD mitmachen, globalisieren und US-Verhältnisse übernehmen durfte.

Doch mit dem Ende des Realsozialismus wurde Amerikas bester Freund in Europa weiter herabgestuft. Bei den Privatisierungen in Abwicklung der DDR durch die Treuhand und der Entindustrialisierung des Ostens wirkten US-Berater maßgeblich mit. Im Übergriff auch auf Westdeutschland sorgte die Agenda 2010 in Teil 1 mit den vier Hartz-Gesetzen für systemische Niedriglöhnerei und Entrechtung, während Teil 2 die Entflechtung der Deutschland-AG und damit die konkrete Einladung von US-Konzernen vorsah. Als Müntefering die "Heuschrecken" anprangerte, war dies den übernommenen Grohe-Armaturen in seinem Wahlkreis geschuldet. 10.000 Mittelständler wie WMF oder KKR wurden aufgekauft und weiterverscherbelt, die zweite Welle folgte ab 2008 und machte BlackRock, Vanguard und andere aus der ersten Liga zu heute führenden Aktionären der großen DAX-Konzerne. Beispielsweise kontrolliert BlackRock den Rüstungskonzern Rheinmetall, der eine Panzerfabrik in der Ukraine bauen will, während die Gewinne in die USA fließen. Erhebliche Teile der BASF gehen in die USA, bei Bayer geben zwei Hedgefonds mit jeweils nur 1 Prozent der Aktien im Auftrag der institutionellen Anleger den Ton an.

Ähnliche Entwicklungen seien auch in Frankreich und den übrigen EU-Staaten zu verzeichnen, es gebe keine herrschende nationale kapitalistische Klasse mehr. Alle Regierungen würden von denselben globalen Ratingagenturen bewertet und Beratungsunternehmen beraten. Die USA legten vor, wobei die ausländischen Mittäter zum System gehörten, der deutsche Mittelstand schweige dazu. Wie das Energiesicherheitsgesetz der USA zeige, entscheide der US-Kongress über die Energiesicherheit Europas. Die Europäer dürften mitverdienen, aber nicht mitherrschen im US-amerikanischen kapitalistischen System. Auch die USA würden systematisch deindustrialisiert und versuchten, in bestimmten Schlüsselsektoren wie Autos, Mikrochips und Batterien die Führung zu behalten. BlackRock & Co. hätten sich von den USA losgelöst und brauchten sie nur als militärischen Stützpunkt. Sie hätten im Ausland immer mehr aufgekauft und würden vom US-Militär dabei geschützt. Die USA wurden als sklavenhaltende Demokratie gegründet und haben seither immer neue Formen der Sklaverei entwickelt wie beispielsweise die Produktion des Smartphones Apple Pro 14 in Indien. Alles, was Widerstand leisten konnte, sei gebrochen worden. Die USA greifen nach Weltkontrolle. Gibt es eine Gegenmacht, um das friedliche Überleben durchzusetzen? Deutschland mit seinen 33 US-Militärbasen und den wichtigsten Firmen in US-Hand könne sich kaum davon befreien. Es müsse also darum gehen, diesen kleinen Kreis des Abends zu erweitern, beendete der Referent die Runde.


Buchcover Werner Rügemer 'Imperium EU. ArbeitsUnrecht, Krise, Neue Gegenwehr' - Cover: PapyRossa Verlag

Raubgefüge europäischen Geltungsdrangs
Cover: PapyRossa Verlag

Ein kritischer Blick auf das Konzept des neuen Systemkonflikts

Mit seiner Definition eines neuen Systemkonflikts zwischen dem US-Kapitalismus und dem Rest der Welt kommt Rügemer zu dem Schluss, es gebe in Europa keine herrschende nationale kapitalistische Klasse mehr. Die Europäer dürften mitverdienen, aber nicht mitherrschen im US-amerikanischen kapitalistischen System. Er lotet dessen Dominanz und globalen Führungsanspruch weitreichend aus, verabsolutiert ihn aber zu einer Übermacht, die letztendlich alle Strippen zieht. So bleiben Staatskritik wie auch eigenständige kapitalistische und folglich imperialistische Interessen anderer Nationalstaaten auf der Strecke, wenn er zwar von Mittätern spricht, ihnen aber im Konkurrenzkampf unter den westlichen Mächten keine Verfolgung identischer Absichten zuerkennt. Unscharf wenn nicht gar ungeklärt bleibt damit das unverzichtbare Zusammenwirken von Nationalstaat und Kapital, das auch durch überstaatliche Bündnisse, Abkommen und globalisierte Expansion wirtschaftlicher Akteure keineswegs völlig aufgehoben wird. Staaten stellen als "ideelle Gesamtkapitalisten" jegliche Voraussetzungen für das Wirken des Kapitals einschließlich seines Expansionsdrangs bereit.

Mit Blick auf die USA geht Rügemer durchaus von einem Zusammenspiel politischer, ökonomischer und militärischer Fraktionen aus, wenngleich auch hier einige Unwuchten in der Argumentation aufschlagen. "America First" ist ein umfassender Herrschaftsentwurf, der von einem Konglomerat teils miteinander verschlungener, teils einander widerstreitender Ambitionen vorgetragen wird. BlackRock & Co. verwalten Billionen von Dollars, sind aber dennoch nicht die Herren der Welt, bedürfen sie doch des US-Militärs, um sich international durchzusetzen. Hätten sie sich tatsächlich von den USA gelöst, wäre kaum nachzuvollziehen, wieso sie auf deren Streitkräfte bauen können. Wenngleich Rügemer also von einer herrschenden Klasse nicht nur in den USA spricht, stellt er deren Herrschaft in den europäischen Ländern doch wiederum in Frage.

Solche Widersprüche dürften zwangsläufig auf der Strecke liegen, wenn der Klassenbegriff im Sinne einer Bewusstwerdung und Kampfansage unterworfener und ausgebeuteter Menschen als entscheidender Frontverlauf zwar nicht entsorgt, aber in den zweiten Rang verwiesen wird. Rügemer hebt ja selbst hervor, dass er im Rahmen des neuen Systemkonflikts nicht den Kapitalismus als solchem, sondern den US-geführten Kapitalismus aufs Korn nehme und allem übrigen gegenüberstelle. Damit wird der grundsätzliche Frontverlauf verlegt und zwischen den USA und dem Rest der Welt angesiedelt. Es geht also letztendlich nicht mehr um den Kampf der Verdammten dieser Erde, um mit Frantz Fanon zu sprechen, gegen jegliche Form der Zurichtung und Auspressung, sondern um eine Parteinahme im Staatenkonflikt.

Dieser Einwand, der auf den ersten Blick haarspalterisch anmuten mag, sollte doch bedenkenswert sein, wenn man den Entwurf eines neuen Systemkonflikts einmal vom Ende her denkt. Wird der US-Kapitalismus unter Relativierung des Kapitalismus in anderen Nationalstaaten als Hauptfeind der Menschheit identifiziert, lugt die opportunistische Ratio, dass der Feind meines Feindes mein Freund sei, um die nächste Ecke. Dann fehlte nicht viel, die gesellschaftlichen Verhältnisse in Russland und China zu verklären oder die multipolare Welt ohne Rücksicht auf die daran beteiligten repressiven Regime herbeizusehnen. Auch läge die Kehrtwende nicht fern, den deutschen Militarismus im Dienste nationaler Stärke durch die Hintertür hereinzubitten, wenn wir nur die Amerikaner loswürden.

Die Parole, der Hauptfeind stehe im eigenen Land, klingt vielleicht recht abgedroschen, könnte einer Bewegung gegen den Krieg aber noch immer als Kompass dienen. Sie stellt keineswegs das überwältigende Arsenal der US-amerikanischen Streitkräfte und Wirtschaftsmacht in Abrede, gemahnt aber in einem internationalistischen Sinn daran, den antimilitaristischen Kampf an der heimischen Front zu führen, wie das zahlreiche Menschen auch in anderen Ländern tun.

Deutscher Militarismus auf eigenen Füßen

In diesem Zusammenhang könnte es von Nutzen sein, den deutschen Militarismus der jüngeren Vergangenheit und Gegenwart schlaglichtartig zu beleuchten. In seinem erneuten Streben nach Weltgeltung gründet er auf einer Wirtschaftshegemonie, die wiederum einer Unterfütterung mit Waffengewalt bedarf, deren Potential das letztgültige Argument in der Durchsetzung globalisierter Raubzüge bleibt. Wie die hiesige Exportwirtschaft die EU braucht, um in ihr und mit ihr zu wildern, bedarf die Bundeswehr der NATO, um im Schutz des Nordatlantischen Bündnisses nach eigenen Maßgaben in eine führende Position hineinzuwachsen. Sich gemeinsam mit Bündnispartnern, doch zugleich in Konkurrenz zu ihnen über andere herzumachen ist zwangsläufig ein Vorhaben, dessen äußere und innere Widersprüche für heftige Unwuchten sorgen. Schienen diese in der Vergangenheit eher randläufig und organisch auszusteuern zu sein, so eskalieren längst die Konflikte nicht nur mit den finalen Gegnern Russland und China, sondern auch innerhalb der EU und der NATO. Die alles verschlingende Existenz- und Wirtschaftsweise treibt Zerstörungsprozesse voran, deren exponentiell wachsende Geschwindigkeit die Fristen dramatisch schrumpfen lässt, innerhalb derer sich der permanente Kriegszug in planbar anmutenden Etappen konzipieren ließ. Im Dienste deutscher Staatsräson geht es dabei nicht nur um konkret realisierten ökonomischen Zugewinn, sondern auch in einer Kette sukzessive ausgeweiteter Kriegsbeteiligungen um günstige Ausgangsbedingungen für den nächstfolgenden Waffengang. Denn wer dabei nicht mitzieht droht auf der Strecke zu bleiben.

Wie eine kurze Chronologie ausgewählter Etappen belegt, steht deutscher Militarismus keineswegs nur unter der Fuchtel Washingtons, sondern zugleich in Eigenregie Gewehr bei Fuß. Am 7. Oktober 2001 griff die US-Armee Afghanistan mit der fingierten Begründung an, die Taliban müssten gestürzt werden, weil sie Osama bin Laden Zuflucht gewährten. Deutschland zog in "uneingeschränkter Solidarität" mit, wobei die rot-grüne Bundesregierung unter Gerhard Schröder und Joseph Fischer den USA die deutsche Kriegsbeteiligung regelrecht aufdrängten, was der damalige US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld später bestätigte. Am 11. Oktober kündigte Schröder vor dem Bundestag eine grundlegende Neuorientierung der deutschen Außenpolitik an, die sich einer internationalen Verantwortung stelle, die eine Beteiligung an militärischen Operationen ausdrücklich einschließe. Einen Monat später beschloss der Bundestag die Bereitstellung von 3900 Bundeswehrsoldaten für den Kampf gegen den internationalen Terrorismus. Schröder verknüpfte die Abstimmung mit der Vertrauensfrage, obwohl ohnehin eine Mehrheit garantiert gewesen wäre. Auch Fischer drohte mit Rücktritt, falls sich die Grünen-Fraktion gegen den Afghanistaneinsatz wenden sollte. Diese Drohungen erwiesen sich als überflüssig. Ein SPD-Parteitag stimmte drei Tage später mit 90 Prozent der Kriegspolitik zu, und auf dem Bundesparteitag der Grünen stellten sich mehr als zwei Drittel der Delegierten hinter den Kriegsbeschluss. Erst am 29. Juni 2021 verließen die letzten deutschen Soldaten fluchtartig Afghanistan. Damit endete ein fast 20-jähriger Einsatz der Bundeswehr, die das zweitgrößte Kontingent nach den USA gestellt hatte. Insgesamt waren über 150.000 deutsche Soldaten und Soldatinnen am Hindukusch präsent, viele wurden mehrfach eingesetzt. Allein die militärischen Kosten des Kriegseinsatzes beliefen sich auf 12 Milliarden Euro.

Mit dem Rückzug aus Afghanistan wurde allenfalls eine Front gewechselt, nicht jedoch vom ultimativen Argument massiver Waffengewalt Abstand genommen. Der deutsche Militarismus ist auch in Ostasien und im Südchinesischen Meer zunehmend mit von der Partie, insbesondere jedoch in Osteuropa gegen Russland aufgestellt. Seine Zielvorgaben wurden bereits in den wegweisenden Strategiepapieren "Neue Macht. Neue Verantwortung" (2013) und "Weißbuch" (2016) ausformuliert. Diese sahen vor, dass die US-Amerikaner sukzessive aus dem Nahen Osten abziehen, um sich voll und ganz der Einkesselung Chinas zu widmen, während die Bundeswehr nachrückt und den Druck auf Russland und dessen Verbündete erhöht. War das übermächtige Waffenarsenal der USA und deren Bereitschaft, unablässig Krieg in aller Welt zu führen, der Schutzschirm aufschließender deutscher Ambitionen, so sollte die Bundesrepublik Zug um Zug aus diesem Schatten heraustreten und den Sprung zur eigenständigen Militärmacht machen. Zugleich sollte der Aufbau einer europäischen Verteidigungsunion vorangetrieben und sogar eine europäische atomare Abschreckung organisiert werden.

Diese fließende Wachablösung wird konzeptionell weiterverfolgt, doch haben sich inzwischen die weltweiten Verwerfungen derart verschärft, dass nationalistische Rettungsversuche zu Lasten jeglicher Konkurrenz vielerorts präferiert werden. Die größte Wucht entwickelten dabei die USA, als sie unter der Trump-Regierung auf eine vorgezogene Eskalation des Machtkampfs setzten, welcher der finalen Schlacht vorausgeht. Noch ist Washington dank seiner militärischen Übermacht in der Lage, anderen Regierungen seinen Willen aufzuzwingen oder zumindest enormen Druck aufzubauen. Dabei sind die auch der Bundesrepublik abverlangten höheren Militäraufwendungen in Richtung des Zwei-Prozent-Ziels der NATO den Protagonisten deutscher Aufrüstung durchaus willkommen. Was aber eine geordnete Wachablösung betrifft, kann davon aus verschiedenen Gründen kaum noch die Rede sein. Von den erratischen Manövern der USA ganz abgesehen sind die zeitlichen Dimensionen und erhofften Kontinuitäten derart durcheinandergeraten, dass der hiesige Imperialismus taumelt, was ihn aber um so gefährlicher macht.

So entwirft ein Strategiepapier des Verteidigungsministeriums von 2018 Szenarien künftiger Anforderungen an die Bundeswehr. Wie aus der "Strategischen Vorausschau 2040" hervorgeht, hält man ein Auseinanderbrechen der EU und eine Welt in zunehmendem Chaos in den nächsten Jahrzehnten für denkbar. Beschrieben wird darin, wie die internationale Ordnung nach "Dekaden der Instabilität" erodiert, die Wertesysteme weltweit auseinanderdriften und die Globalisierung gestoppt ist: "Die EU-Erweiterung ist weitgehend aufgegeben, weitere Staaten haben die Gemeinschaft verlassen. Europa hat seine globale Wettbewerbsfähigkeit verloren." Und weiter: "Die zunehmend ungeordnete, zum Teil chaotische und konfliktträchtige Welt hat das sicherheitspolitische Umfeld Deutschlands und Europas dramatisch verändert." Diese Simulationen stellen zwar ausdrücklich keine Prognosen dar, werden aber dennoch "mit dem Zeithorizont 2040" für "plausibel" erachtet. Die Quintessenz dieser Studie läuft auf ein Szenario hinaus, in dem Deutschland auf sich allein gestellt ist und die Anstrengungen forciert, zu einer Hegemonialmacht aufzusteigen.

Derzeit erarbeitet die Bundesregierung eine Nationale Sicherheitsstrategie, die Kriegsbereitschaft und -fähigkeit auf höchstem Niveau festschreiben soll. Damit dieses im grün geführten Auswärtigen Amt federführend entwickelte Instrument langgehegter bellizistischer Ambitionen nichts zu wünschen übrig lässt, gab die damalige Bundesverteidigungsministerin Christine Lambrecht schon vorab sozialdemokratische Rückendeckung. Mit ihrer Grundsatzrede am 12. September 2022 steuerte sie die Steilvorlage bei, das in Deutschland erstmals auszuformulierende "oberste sicherheitspolitische Dachdokument" solle einen militärischen Führungsanspruch begründen, die deutschen Rüstungskontrollen auf den kleinsten gemeinsamen europäischen Nenner absenken und der Bevölkerung dauerhaft Opfer zu Gunsten der Aufrüstung abverlangen. Gerade aufgrund der eigenen Geschichte habe Deutschland einen nüchternen Blick auf die Macht und auf das Militärische, weshalb man geradezu prädestiniert sei, eine militärische Führungsrolle zu übernehmen, so Lambrecht. [2] Diese ideologische Volte, ausgerechnet aus der fatalen deutschen Geschichte einen erneuten militärischen Führungsanspruch abzuleiten, ist zwar schon recht altbacken, nimmt aber unter dem Banner rot-grüner Regierungsbeteiligung abermals gewaltig Fahrt auf. Die "wertebasierte Außenpolitik" soll den Damm widerspenstiger Beharrungskräfte endgültig brechen und den Sprung in ein Regime beispielloser Zumutungen gangbar machen.

Während also eine aufgerüstete Bundeswehr befähigt werden soll, im eskalierenden Konkurrenzkampf um Einflusssphären, Rohstoffe, Handelswege und Absatzmärkte weltweit mitzumischen, wird zum anderen der soziale Krieg gegen die eigene Bevölkerung massiv verschärft. Da die Finanzierung der gewaltigen Rüstungsprojekte nur durch eine gravierende Umverteilung der Haushaltsmittel möglich ist, wird das ideologische Kernversprechen der deutschen Klassengesellschaft, selbst als Mitläufer der Räuberbande allemal besser als jegliche Opfer der auswärtigen Raubzüge dazustehen, auf eine harte Probe gestellt. Die unverzichtbare Beteiligung der eigenen Bevölkerung an den Herrschaftsverhältnissen auch da auszutarieren, wo der soziale Abstieg vom Gegenteil gesellschaftlicher Verheißungen zeugt und Widerstand aufbrechen könnte, nötigt der politischen Führung des Landes akrobatische Täuschungsmanöver ab. Wer die Zeche am Ende bezahlen soll bleibt gewissermaßen ein offenes Geheimnis. Eine breite antimilitaristische Bewegung war vorgestern und soll nie wieder erstarken, ein Brückenschlag ihrer verbliebenen Reste zu jungen Massenbewegungen wie etwa jener für Klimagerechtigkeit verhindert werden. Was hat dem eine über die Jahre geschwächte und marginalisierte Bewegung gegen den Krieg entgegenzusetzen? "Krieg beginnt hier" könnte ein Ansatz sein, den stets aufs Neue auszuloten und auf seine Handlungskonsequenzen abzuklopfen bloßes Hoffen auf bessere Zeiten und künftige Mehrheiten in den Schatten stellt.


Frontansicht der Jugendherberge Heide - Foto: © 2023 by Schattenblick

Veranstaltungsort des ersten Themenabends
Foto: © 2023 by Schattenblick


Fußnoten:


[1] https://www.gsp-sipo.de/news/news-details/auf-der-suche-nach-der-nationalen-sicherheitsstrategie

[2] www.heise.de/tp/features/Deutschland-ein-anderes-Land-Die-militaerische-Fuehrungsmacht-7261532.html

30. Mai 2023

veröffentlicht in der Schattenblick-Druckausgabe Nr. 179 vom 22. Juli 2023


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