Vortrag: "Im Krieg mit Russland"
Zur Geschichte des Russland-Ukrainekonfliktes
von Jürgen Wagner,
Informationsstelle Militarisierung (IMI) am 22. März 2023 in Heide/Holstein
Foto: © 2023 by Schattenblick
Schlaf, Kind, schlaf, es ist Schlafenszeit.
Ist Zeit auch zum Sterben.
Bist du groß, wird dich weit und breit
Die Trommel anwerben.
Lauf ihr nach, mein Kind, hör deiner Mutter Rat;
Fällst du in der Schlacht, so würgt dich kein Soldat.
Ricarda Huch: Aus dem Dreißigjährigen Kriege - 1. Wiegenlied
Was wird in einem "Abnutzungskrieg" eigentlich abgenutzt? Der eher in der Materialkunde als auf dem Schlachtfeld angesiedelte Begriff macht vergessen, dass insbesondere Menschen betroffen sind, die von den politischen und militärischen Zwecken eines Krieges verfügt, aber nicht vertreten werden. Respekt wird Staat und Nation gezollt, als seien es eigenständige Subjekte, Empathie wird selektiv dosiert, sei es anhand besonders intensiv wahrgenommener Massaker oder bei Parolen, mit denen Ruhm, Ehre und Heldentum zelebriert werden. Die vielen hundert SoldatInnen und ZivilistInnen, die täglich in der Ukraine sterben oder anderweitig Schaden nehmen, werden als vermeintlich notwendige Opfer dem höheren Zweck, dem Aggressor zum Erfolg zu verhelfen oder ihn zurückzuschlagen, unterworfen. Als kalte Ziffern in der Bilanzierung notwendiger Bemittelung des Kriegsgeschehens tragen sie dazu bei, dessen weiteren Verlauf kalkulieren zu können, ist die Übersicht über zahlenmäßig begrenzte Verbrauchsfaktoren doch von zentraler Bedeutung, was nicht nur Panzer und Munition, sondern auch die Zahl verfügbarer RekrutInnen betrifft.
So sehr auf beiden Seiten der entschiedene Wille anzutreffen ist, für einen vermeintlich höheren Zweck zu kämpfen und zu sterben, so sehr werden Menschen gegen ihren Willen für den nationalen Zweck eingespannt. Die Flucht zahlreicher der Wehrerfassung unterliegender Männer aus Russland, aber auch aus der Ukraine belegt, dass nicht alle für einen ideologischen Staatsapparat oder die nationale Oligarchie bluten wollen. Dementsprechend gleichgültig ist den kriegführenden Staaten, wer leben darf und wer sterben muss, so lange es ihrer Räson zuträglich ist. Das gilt erst recht für die indirekt beteiligten Staatsakteure - wie ihr höchst unterschiedliches Engagement in den vielen Kriegen dieser Welt zeigt, geht es nie um die dabei leidenden Menschen, sondern stets um Wahrung und Durchsetzung nationaler Interessen. Dass diese meist mit moralischem Furor aufgeladen oder durch die Ethik des gerechten Krieges gerechtfertigt werden, ist der notwendigen Mobilisierung der Menschen geschuldet, die für einen abstrakten Staatszweck sterben sollen.
Die von allen Kriegsparteien in Anspruch genommenen Zwecke sind in sich so widersprüchlich, dass niemandem zu verdenken ist, sich der Pflicht, für die Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols sein Leben zu riskieren, zu entziehen. Während der Kreml für das Ziel, das eigene Territorium zu vergrößern und die Neutralität der Ukraine zu erzwingen, vor allem Rekruten aus abgelegenen, ökonomisch abgehängten Regionen der Russischen Föderation einberuft, um nicht den Widerstand der urbanen Eliten gegen die "Spezialoperation" zu provozieren, werden in der Ukraine mittlerweile Männer fast jeden Alters, derer die Rekrutierungsbeamten habhaft werden können, zum Kriegsdienst gezwungen. So sehr es einen hohen Anteil auch weiblicher Kriegsfreiwilliger in der Bevölkerung geben mag, so hat sich die Bereitschaft, in einem Stellungskrieg mit hoher Verlustzahl zu verbluten, nach über einem Jahr Landesverteidigung "abgenutzt".
Mit der anwachsenden Zahl an Kriegsopfern, der zunehmenden Zerstörung der Ukraine und den mittelbaren globalen Kriegsfolgen ökonomischer Belastung, wachsenden Hungers und stark beschädigter Klimapolitik trifft die in Westeuropa und den USA propagierte Generalklausel, zur Verteidigung der Ukraine mit Rüstungsgütern und finanzieller Unterstützung "as long as it takes and whatever it takes" beizutragen, auf anwachsenden Unwillen. Wie viele Menschen sollen noch leiden und sterben, um Russland hinter die Grenzen von 2014 zurückzudrängen? Welchen Unterschied macht es für die Mehrheit der ukrainischen Bevölkerung, unter welchem Staatsregime sie nach dem Ende des Krieges das alltägliche Elend der kapitalistischen Arbeitsgesellschaft erdulden soll? Sind die eigenen Zwangsverhältnisse tatsächlich so viel akzeptabler, dass es sich dafür zu sterben lohnt, um nicht vergleichbaren Bedingungen anderer Herren ausgesetzt zu sein? Kann ein Dasein als LohnempfängerIn überhaupt ein Lebenzweck sein, der etwas mit Freiheit und Selbstbestimmung zu tun hat?
Fragen dieser Art sind zumindest für diejenigen relevant, über die in diesem Sinne verfügt wird und deren Fremdbestimmung als Marktsubjekt und StaatsbürgerIn nicht in der nationalen Identität und ihrer Abgrenzung gegenüber anderen Bevölkerungen aufgeht. Das gilt um so mehr, als dieser Krieg nicht erst am 24. Februar 2022 angefangen hat, sondern das Resultat einer Auseinandersetzung zwischen Staaten und Machtblöcken ist, deren hegemoniale Interessen schon seit längerem auf eine gewaltsame Kollision zusteuern. Während der Einmarsch der russischen Streitkräfte in die Ukraine ein eklatanter Bruch internationalen Rechts ist, zeugen die dafür angegebenen Gründe wie so häufig in Staatenkonflikten von einer Mischung aus im eigenen Land populären Vorwänden - "Entnazifizierung" der Ukraine, Verhinderung eines Genozids an den russischsprachigen UkrainerInnen - und relevanten geostrategischen Faktoren - strategische Bedrohung Russlands durch eine der NATO angehörende Ukraine.
Eine Schuldzuweisung an die Adresse Moskaus, die ein Ende des Krieges erst nach Rückeroberung aller vor 2014 zur Ukraine gehörenden Gebiete für möglich hält, mag den strategischen Interessen der NATO und den nationalhegemonialen Wünschen Kiews entsprechen. Um dieses Ziel zu realisieren wäre allerdings seitens der NATO-Staaten mehr erforderlich als ein auf die Verlängerung des "Abnutzungskrieges" geeichter Nachschub an Rüstungsgütern. Das in den Hauptstädten der NATO zum Ausdruck gebrachte Ziel, Russland dauerhaft zu schwächen, wird ökonomisch auf dem Rücken aller Bevölkerungen ausgetragen, geht in Sachen konkreter Zerstörung an Lebenschancen jedoch vor allem zu Lasten der UkrainerInnen. Diese regelrecht zu verbrauchen, um die Erschöpfung des Aggressors zu bewirken, ist eine von zynischer Logik bestimmte Machtprobe, die die empathische Freiheitsrhetorik als populistisches Instrument zur Durchsetzung strategischer Ziele kenntlich macht.
Angesichts der großen Menge an Truppen und Kriegsgerät, die Russland allem Anschein nach noch mobilisieren kann, verliert das Erkämpfen eines Sieges über den Angreifer bis zur letzten UkrainerIn zusehends an moralischer Glaubwürdigkeit. Die Unteilbarkeit des Werteanspruchs, mit der Verteidigung der Ukraine einen gerechten Krieg zu unterstützen, bricht nicht nur an der ausgebliebenen Verurteilung von NATO-Staaten ausgehender Angriffskriege. Der anomische Charakter einer selektiv in Anspruch genommenen und mit von politischen Interessen kontaminierten moralischen Norm wirft auch die Frage auf, wieso die NATO den erhofften strategischen Gewinn nicht mit eigener Kraft, sprich ihren Truppen und Waffen, erkämpft.
Ein solcher Schritt würde auch der Sprachregelung gerecht, dass in der Ukraine "unsere" Werte, namentlich Freiheit und Demokratie, gegen das autokratische Regime Putins verteidigt würden. Mit der moralischen Überhöhung des Angriffs auf die Ukraine zum Gesinnungskrieg, bei dessen Ausgang es dementsprechend um alles oder nichts ginge, haben sich die Regierungen der USA und EU auf eine Weise hervorgetan, die einen Rückzug von dieser Position fast unmöglich macht. UkrainerInnen für diesen Zweck sterben zu lassen und die eigenen Bevölkerungen einer öknomischen Schlankheitskur zu unterziehen, belastet das Konto ihrer Glaubwürdigkeit desto mehr, je länger der Krieg dauert und je größer die Verluste sind. Da hilft auch das Argument, man wolle keinen Atomkrieg provozieren, nicht weiter.
Eine solche Beschränkung der Handlungsfähigkeit der NATO wäre nicht akzeptabel, wenn Russland einen Mitgliedstaat der Militärallianz angriffe. Soll eine Beistandsklausel unter atomar gerüsteten Staaten den Zweck ihrer territorialen Verteidigung erfüllen, dann ist die praktische Einsetzbarkeit von Atomwaffen selbstverständlich gegeben. Wäre sie es nicht, bedürfte das Militär dieser Waffen nicht. Die langjährige Gewöhnung an den Status quo gegenseitiger Abschreckung verleitet viele Menschen zu dem Glauben, der Einsatz von Atomwaffen wäre prinzipiell nicht zu befürchten, weil das das perspektivische Ende aller Konfliktparteien bedeutete. Der Trugschluss, es nach der weitgehenden Entregelung der Politik der Mutual Assured Destruction (MAD) noch mit Verhältnissen wie im Kalten Krieg zu tun zu haben, denen bereits ein erhebliches Risiko innewohnte, trägt dazu bei, dass der Manövrierraum zwischen Provokation und Aktion stetig enger wird.
"Mourir pour Kiew?" Dieser Frage verweigern sich viele derjenigen, die Waffenlieferungen bis zum Sieg einer Ukraine propagieren, die de facto längst in die NATO eingemeindet wurde und ohne finanzielle wie rüstungstechnische Alimentierung aus EU und USA längst nicht mehr kriegsfähig wäre. Nur unter Ausblendung dieser Konsequenz lassen sich Risiken eingehen, für die sich, wenn die Bomben gefallen sind, niemand mehr verantwortlich zeigen muss. In ihrem Eskalationspotential nicht gering zu schätzen ist auch die durch das ständige Vorrücken der NATO bewirkte Entwertung russischer Abschreckungspolitik. Wenn diese systematisch ihrer Glaubwürdigkeit beraubt wird, dann erhöht das die Notwendigkeit ihrer Verifikation etwa durch den Einsatz sogenannter taktischer Atomwaffen.
Angesichts der Aufrüstung der immer heißeren Grenze zwischen Polen und Belarus durch NATO und Russland ist ein Szenario, in dem der Kreml zum Schreckmoment eines Atomwaffeneinsatzes etwa über der Ost- oder Nordsee greift, um sich aus einer strategischen Bedrängnis zu befreien, nicht mehr auszuschließen. Gleiches gilt für die weitergehende Aufrüstung der Ukraine mit Waffensystemen größerer Reichweite und eines informellen Einsatzes von NATO-Truppen etwa als PilotInnen auf Kampfjets neueren Typs, lediglich durchsichtig getarnt durch den Status von SöldnerInnen.
Wer dieses Zerstörungswerk nicht weiter steigern will, sollte diese Stufenleiter stets vor Augen haben, um davon so schnell wie möglich wieder herunterzukommen. Zudem ist der Impetus der Entschiedenheit, mit dem dieser Krieg seitens der NATO zum Erfolg geführt werden soll, alles andere als widerspruchsfrei. Aus Sicht derjenigen, denen dieser Krieg nur Nachteile und Entbehrungen beschert, weist das Interessenprofil seiner Akteure weit mehr Gemeinsamkeiten auf, als die Frontstellung zwischen NATO und Ukraine einerseits und Russland, das die Rückendeckung Chinas genießt, andererseits vermuten lässt. Hier sind strukturelle Symmetrien zu erkennen, denen eine herrschafts- und staatskritische Position entgegenzuhalten ist, zumindest dann, wenn emanzipatorische und sozialrevolutionäre Anliegen nicht weiter von den Trümmern als links ausgewiesener Glaubenskriege begraben werden sollen.
Bei einem Vortrag im schleswig-holsteinischen Heide am 22. März 2023 hat der Politikwissenschaftler Jürgen Wagner von der Informationsstelle Militarisierung (IMI) nicht nur die Vorgeschichte des russischen Angriffs ausgeleuchtet, er hat auch die Unvereinbarkeit einer antimilitaristischen Position mit den Zwecken kriegführender Staaten heute wie gestern unterstrichen. Eingeladen hatte die attac-Regionalgruppe Dithmarschen in Kooperation mit der Bewegung gegen den Krieg Dithmarschen. Der Veranstaltungsraum im Bürgerhaus der Kleinstadt an der Westküste war gut besetzt, was dennoch bedeutet, dass das Interesse im über 130.000 Einwohner umfassenden Landkreis Dithmarschen an dieser doch existenzielle Bedrohungsqualität aufweisenden Krise eher bescheiden ist.
Ein Grund mehr, anhand der genaueren Untersuchung ihrer Bedingungen darüber nachzudenken, wie sich derartige Katastrophen künftig verhindern lassen. Das in gebotener Freizügigkeit des Wortes zu tun, verlangt in der erhitzten gesellschaftlichen Debatte um vermeintlich legitime Gründe Russlands, diesen Krieg zu führen, wie des verbrecherischen Charakters des Überfalls auf die Ukraine nach einem Disclaimer. Schon in der Ankündigung der Veranstaltung wurde Sorge dafür getragen, nicht einseitiger Sympathien verdächtigt oder gar der "Putin-Versteherei" bezichtigt werden zu können.
Dabei versteht es sich für AntimilitaristInnen von selbst, den Angriff Russlands auf die Ukraine als prinzipiell nicht legitimierbar zu bewerten. Um diesen gesellschaftlich getragenen Konsens nicht zum Anlass zu nehmen, noch mehr Öl ins lichterloh brennende Feuer zu gießen, als auch Möglichkeiten zur Beendigung des Krieges zu eruieren, ist es gleichwohl wichtig, die Geschichte des Konflikts und die Interessen beider Seiten genauer zu verstehen. Damit allerdings wird das eng umgrenzte Geviert herrschender Diskursregulation bereits verlassen. Eine Mitverantwortung der jahrzehntelangen Expansionspolitik der NATO-Staaten für die Eskalation des Konfliktes zwischen Russland und der Ukraine findet in den Agenturen massenmedialer Deutungsmacht kaum FürsprecherInnen.
Jürgen Wagner, dessen Analysen auf diversen Foren präsent und vor allem auf der Seite der Informationsstelle Militarisierung [1] nachzulesen sind, ist wichtig, die Bedeutung der militärisch unterfütterten neuen Großmachtpolitik Deutschlands für die Entwicklung in Südosteuropa hervorzuheben, etwa durch Verweis auf das aktuelle Weißbuch der Bundeswehr, wo die Absicht bekundet wird, "die globale Ordnung aktiv mitzugestalten". Dabei spiegelt das unter Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen 2016 herausgegebene Weißbuch ein Verständnis von Sicherheitspolitik, das stark auf Bedrohungen terroristischer Art als Vorlage eines neokolonialistischen Interventionismus ausgerichtet war. Militärische Überfälle auf Staaten des Globalen Südens, die kaum über eine wirksame Flugabwehr verfügen und dem militärischen Potential hochgerüsteter Industriestaaten auch sonst kaum etwas entgegenzusetzen haben, sind allerdings kaum mit den Erfordernissen zu vergleichen, die in einem Krieg gegen einen konventionell wie nuklear kriegsfähigen Staat wie die Russische Föderation anfallen.
Dem Rahmen der Veranstaltung gemäß wandte sich der Referent an eine Friedensbewegung, die trotz oder gerade wegen des Ukrainekrieges kaum mehr in der Lage ist, aus dem Schatten früherer Proteste wie etwa der Massendemonstrationen vor 20 Jahren gegen den drohenden Überfall auf den Irak durch die von den USA geführte Coalition of the willing zu treten. Dieses Problem in notwendiger Breite zu diskutieren, hätte allerdings den Rahmen der der Geschichte des Russland-Ukrainekonfliktes gewidmeten Veranstaltung gesprengt.
So sollen KriegsgegnerInnen in die Lage versetzt werden, sich anlässlich des schweren Völkerrechtsbruchs Russlands nicht in eine argumentative Defensive drängen zu lassen, in der die Mitverantwortung der NATO für diese Entwicklung ausgeklammert werden kann. Geht es darum, deren Reaktionen auf den russischen Angriff, die Wagner für falsch und gefährlich hält, zum Zwecke einer schnellen Beendigung des Blutvergießens angemessen zu bewerten, versagt eine Diskurslandschaft, die von hypermoralischen Frontstellungen geprägt ist, auf ganzer Linie.
Für Wagner beginnt diese Vorgeschichte schon kurz nach dem Ende der Sowjetunion mit den nicht eingehaltenen Zusicherungen der NATO-Regierungen, das Gebiet der Militärallianz nicht weiter in Richtung Osten ausdehnen zu wollen. Diese Zusagen seien in Aktennotizen aus damaliger Zeit vielfach belegt, meint Wagner an diejenigen gewandt, die heute davon nichts mehr wissen wollen. Die Tatsache, dass es sich um schriftlich nicht fixierte Zusagen handelte, wird seitens der NATO dahingehend ausgelegt, dass eine entsprechende Zusicherung nicht existiere. Dabei hätten die damals getätigten Aussagen in Moskau dazu geführt, dass sich die russischen Nachfolgeregierungen von der NATO hintergangen fühlten insbesondere in Hinsicht auf die Errichtung eines gemeinsamen Hauses Europa und der dazu gehörigen Sicherheitsarchitektur.
Mündliche Zusicherung für die Nachwelt dokumentiert
Foto: 2023 by Schattenblick
Was 1991 noch offizielle Sprachregelung in den Zwei-plus-Vier-Verhandlungen gewesen war, mündete nur wenig später in eine Konsolidierung der NATO-Hegemonie, die ganz und gar zu Lasten entsprechender Interessen Russlands ging. 1994 wurde die Partnerschaft für den Frieden der NATO geschaffen, die 19 Staaten auf dem eurasischen Kontinent umfasste. Diese konnten zwar nicht die Beistandspflicht der NATO im Fall eines militärischen Angriffs in Anspruch nehmen, doch schon die Tatsache, dass inzwischen 15 der Unterzeichnerstaaten der westlichen Militärallianz beigetreten sind, belegt, dass es sich bei der PfP um eine Vorfeldorganisation handelt. Mit dem Überfall der NATO auf Jugoslawien ging Präsident Boris Jelzin zwar ausgesprochen defensiv um, doch schon damals bestand das Potential einer direkten militärischen Konfrontation zwischen NATO und Russland.
Während dieses Krieges traten Tschechien, Polen und Ungarn der NATO bei, 2004 folgten unter anderem Estland, Lettland und Litauen - Staaten, die einst der Sowjetunion angehörten. Der russische Präsident Putin, der dem Westen 2001 im Bundestag eine strategische Partnerschaft und gemeinsame Sicherheitsordnung in Europa angeboten hatte, akzeptierte diesen Schritt, ohne mit einer konfrontativen Entwicklung zu drohen. Davor hatten die USA bereits mit dem Angriffskrieg auf den Irak demonstriert, dass internationales Recht im Zweifelsfall zu eigenen Gunsten gebeugt werden kann. 2008 wurde der Ukraine und Georgien eine Beitrittsperspektive eröffnet, was angesichts von Putins scharfer Kritik an der Expansionspolitik der NATO auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 zeigte, dass der russische Präsident nicht weiter ernstgenommen wurde. 2009 schließlich wurden Kroatien und Albanien in die NATO aufgenommen.
Im August 2008 hatte Russland den Versuch der georgischen Regierung, die separatistischen Gebiete Südossetien und Abchasien wieder einzunehmen, mit militärischen Mitteln gekontert. Jürgen Wagner hält die in Moskau herrschende Annahme, die Einnahme abtrünniger Gebiete durch Georgien sei eine Vorbedingung des NATO-Beitrittes, für den ausschlaggebenden Grund, den von Tiflis begonnenen Krieg in wenigen Tagen für Russland zu entscheiden. Wie im Fall der Besetzung der serbischen Provinz Kosovo durch die NATO hatte ein äußerer Akteur in einen sezessionistischen Konflikt eingegriffen, was die Regierungen der NATO-Staaten nicht davon abhielt, diese Intervention als russische Aggression zu verurteilen.
Die von der damaligen Bundeskanzlerin vollzogene Politik, die Offerte eines Beitrittes Georgiens zur westlichen Militärallianz nun erst recht voranzutreiben, weist denjenigen, die Angela Merkel eines zu laxen Umgangs mit den Hegemonialansprüchen des Kreml bezichtigen, ein schlechtes Erinnerungsvermögen nach. An dieser Stelle sei zudem daran erinnert, dass die ausgesprochen grausam geführten Kriege Jelzins und Putins gegen die tschetschenische Unabhängigkeitsbewegung in den Hauptstädten der NATO fast klaglos akzeptiert, wenn nicht gar wie im Falle Deutschlands, mit Aufklärungsmaterial unterstützt wurden. Auch damals zeigte sich, dass die Frage, wann das Leid einer von übermächtiger Aggression betroffenen Bevölkerung zum Politikum wird, dem jeweiligen strategischen Interesse unterworfen wird.
2009 kam es noch einmal zum Angebot gütlichen Einvernehmens durch Russland in Form des Vorschlags, einen euroatlantischen Sicherheitsvertrag abzuschließen, der die NATO überflüssig gemacht hätte. Die relativ schroffe Ablehnung dieses Angebots verschärfte auch den Konflikt um die Ukraine, die der US-amerikanische Präsidentenberater Zbigniew Brzezinski schon 1997 als einen geopolitischen Dreh- und Angelpunkt identifiziert hatte, der in die westliche Hemisphäre einzugliedern sei. Da gleiches für das Bestehen Moskaus darauf gilt, die ehemalige Sowjetrepublik im eigenen Einflussbereich zu belassen, zeigt um so mehr, wie relevant eine Politik der Neutralität des Landes sein könnte, so Wagner.
Anlässlich der Verhandlungen zwischen Kiew und Brüssel, ein Assoziationsabkommen mit der EU zu schließen, nahm der Konflikt in der Ukraine an Intensität zu. Kernpunkt des Abkommens war die Übernahme der Zollsysteme der EU durch die Ukraine. Das hätte es ihr unmöglich gemacht, in die Eurasische Wirtschaftsunion mit Russland einzutreten, zudem hätte ein solcher Schritt aus russischer Sicht der Aufkündigung des neutralen Status der Ukraine und einer strategischen Westverschiebung entsprochen. Die Ablehnung dieses Abkommens durch den damaligen Präsidenten Viktor Janukowitsch brachte schließlich die Entwicklung auf dem sogenannten Euromaidan ins Rollen, an der anfänglich auch linke Kräfte teilgenommen hatten, die jedoch von rechtsradikalen Gruppen zusehends an den Rand gedrängt wurden.
Wenn heute geltend gemacht wird, dass der aktuelle Krieg in der Ukraine schon 2014 begonnen hatte, dann betrifft dies nicht nur die kriegerische Auseinandersetzung um die separatistischen Republiken Donezk und Lugansk, der schon vor dem 24. Februar 2022 14.000 Menschen zum Opfer fielen. Zudem muss daran erinnert werden, dass die Unterzeichnung des Assoziationsabkommens durch Kiew zwei Wirtschaftsräume von ganz unterschiedlichen Produktivitätsniveaus in ein Verhältnis gesetzt hätte, das einem Freibrief zur umfassenden Aneignung von Rohstoffen und Ressourcen, von Rechts- und Besitztiteln durch EU-Kapitale gleichgekommen wäre.
Neue Räume für den eigenen Kapitalexport zu erschließen, ist ein Kernanliegen der EU im Konkurrenzkampf globaler Wirtschaftsmächte, was stets zu Lasten derjenigen Menschen in den Expansionszonen geht, die schon jetzt am unteren Rand der Gesellschaft leben. Wer nicht einmal seine Arbeitskraft verkaufen kann, sondern versorgungsbedürftig ist, hat von der Kapitalisierung aller noch informell oder staatlich bewirtschafteten Sphären der Produktion und Reproduktion nur Nachteile. So werden häufig Formen der Subsistenz, die ärmeren Menschen noch gewisse Überlebensmöglichkeiten bieten, zugunsten der Marktmacht großer Akteure eingeebnet, wie die neoliberalen Radikalreformen im Osteuropa der 1990er Jahre hinlänglich belegt haben.
Russland hat zwar viel Druck ausgeübt und Geld angeboten, um die Unterzeichnung des Assoziationsabkommens zu verhindern, doch im Endeffekt haben die Proteste auf dem Euromaidan und die umfassenden Interventionen westlicher Regierungen den Sturz Janukowitschs bewirkt. Zweifellos gab es viele Gründe für die Proteste, die aus den sozialen Widersprüchen der ukrainischen Gesellschaft hervorgehen, doch hat nicht zuletzt das Ringen zwischen den USA und der Bundesrepublik bei dem Versuch, über ihre jeweiligen Klienten auf dem Maidan Zugriff auf die künftige politische Entwicklung im Land zu bekommen, den sozialen Charakter des Aufstandes überformt.
Hier ließe sich darüber spekulieren, was geschehen wäre, wenn tatsächlich eine soziale Revolution stattgefunden hätte. In einem solchen Falle hätte die Macht der Oligarchen und die Überwindung von Klassenherrschaft und nicht der Anschluss des Ostens an Russland im Mittelpunkt revolutionärer Bestrebungen gestanden. Dass diejenigen Gruppen der ukrainischen Bevölkerung, die von der Unterwerfung des Landes unter die Austeritätspolitik der EU und des IWF nichts als Nachteile zu erwarten hatten, sich Unterstützung von der russischen Regierung erhofften, war auch Ergebnis der machtpolitischen Instrumentalisierung eines Sozialkampfes, den zu führen es auch im wohlhabenderen Osten der Ukraine Gründe gab. Die soziale Frage wurde durch das Bündnis der eigenen Bourgeoisie mit den Gläubigern, die die Finanzierung der Ukraine zum Hebel des neoliberalen Strukturwandels machten, und dem Machtanspruch der militanten Rechten neu gestellt. Beantwortet wurde sie von Kräften in Kiew, die dem russischen Nationalismus sein ukrainisches Pendant entgegenstellten, das durch äußere Akteure wirksam aufmunitioniert wurde.
Was die Regierungen der NATO-Staaten seit damals als illegitime russische Einflussnahme auf die Ukraine beklagen, ist das Passepartout des eigenen Schritts, die Aufkündigung der geplanten Unterzeichnung des EU-Assoziierungsabkommens durch Präsident Janukowitsch zum Anlass seines Sturzes zu machen. Die Auftritte westlicher Politiker auf dem Maidan, die fast ungeteilte Unterstützung des Aufstands in den Leitmedien der NATO-Staaten und die Nötigung der Übergangsregierung, zwecks Gewähr eines großen IWF-Kredits umfassende Strukturreformen vorzunehmen, wiesen die Handschrift einer Hegemonialpolitik auf, deren imperialistischer Charakter heute durch sein russisches Äquivalent konterkariert wird.
Insbesondere nach der Annexion der Krim tauchte schon 2014 die schlimmste aller möglichen Folgen dieses Hegemonialkonfliktes, ein offener Krieg zwischen Russland und der NATO, am Horizont auf. Schon vor nunmehr neun Jahren wurde die Person Putins zum Synonym eines Aggressors, der nur die Sprache der Gewalt versteht, schon damals waren die Stellungnahmen westlicher PolitikerInnen und JournalistInnen von einer Freund-Feind-Logik bestimmt, die der heutigen Sprachregelung nur wenig nachsteht.
Da die Etablierung einer Übergangsregierung aus faschistischen und prowestlichen Kräften für die russische Regierung einen illegalen Putsch darstellte, betrachtete sie die durch bewaffnete Kräfte geschützte Abstimmung auf der Krim über deren weitere Zugehörigkeit zur Ukraine respektive Russland als adäquate Reaktion auf diesen Akt der Ermächtigung. Der kriegerische Konflikt zwischen Kiew und den separatistischen Republiken in der Ostukraine wurde zwar mit einem Waffenstillstand gemäß des vorläufigen Abkommens von Minsk, das einen Autonomiestatus und Wahlen für sogenannte Volksrepubliken akzeptierte, heruntergefahren, jedoch nie vollständig beendet. Heute ist bekannt, dass auch die Bundesregierung darin eher eine Strategie erkannte, die weitere Konfrontation aufzuschieben, aber nicht aufzuheben.
Auf dem ersten Gipfel der NATO nach diesem wichtigen Schritt zur Konsolidierung ihrer Hegemonie im September 2014 in Wales wurde ein signifikanter Ausbau der Schnellen Eingreiftruppe und die Schaffung einer noch schneller verlegbaren Einheit beschlossen. 2016 wurde auf dem NATO-Gipfel in Warschau die Stationierung permanenter Truppen an den Grenzen Russlands vereinbart, was einen eklatanten Bruch der NATO-Russland-Akte von 1997 darstellte. Die Rolle Deutschlands als führender strategischer Akteur in Westeuropa wurde 2018 weiter aufgewertet, indem ein Logistikzentrum in Ulm für die schnelle Verlegung von Truppen und Gütern der NATO und ihr Marinekommando für die gesamte Ostsee in Rostock eingerichtet wurde.
Mit der Aufkündigung des Intermediate Range Nuclear Forces Treaty (INF) durch die USA 2019 wurde ein zentrales Instrument der Rüstungskontrolle und Verhinderung eines Atomkrieges außer Kraft gesetzt. Der 1987 unterzeichnete Vertrag hatte die Abschaffung sämtlicher atomwaffenfähigen landgestützten Kurz- und Mittelstreckenraketen zur Folge gehabt. Auf die US-amerikanische Bezichtung, Russland sei vertragsbrüchig geworden, reagierte Moskau mit dem Angebot eines Moratoriums und Inspektionen zwecks Klärung des Vorwurfes, was von Washington abgelehnt wurde. Zeitgleich wurden dort Pläne zum Bau von Kurz- und Mittelstreckenraketen aktiviert, die vermutlich schon seit längerem in der Schublade lagen. Die Stationierung derartiger Raketen in Mittel- und Osteuropa oder gar der Ukraine verkürzte die Vorwarnzeiten für Russland so sehr, dass das Eintreten einer atomaren Eskalation noch wahrscheinlicher würde als ohnehin schon.
Indem Moskau im September 2021 die NATO aufforderte, die Osterweiterung des Bündnisgebietes einzustellen, den Aufbau von Militärbasen an der russischen Grenze zurückzunehmen und vor allem dort keine Angriffsysteme zu stationieren, machte der Kreml deutlich, dass er nicht gewillt sei, mit der Stationierung von Mittelstreckenraketen in der Ukraine die Möglichkeit eines atomaren Enthauptungsschlages gegen Moskau hinzunehmen. Wie der IMI-Referent ausführte, benötigten Tomahawk-Marschflugkörper von der Ukraine 35 Minuten bis Moskau, ballistische Raketen 7 bis 8 Minuten, und Hyperschallraketen könnten die russische Hauptstadt in etwa 5 Minuten erreichen. Russland seinerseits hat den New-START-Vertrag bis auf weiteres suspendiert und stationiert taktische Atomwaffen in Belarus, versucht also, jede Asymmetrie in der strategischen Parität durch weitere Offensivmaßnahmen auszugleichen.
Von alledem ist die Bundesrepublik schon aufgrund der nuklearen Teilhabe unmittelbar betroffen. In Wiesbaden wurde 2021 eine Multi Domain Task Force aufgebaut, die unter anderem über Hyperschallwaffen mit bis zu 2700 Kilometer Reichweite verfügt, zudem wurde das US-Kommando für Mittelstreckenraketen aktiviert, das einst für das Abfeuern von Pershing 2-Trägersystemen zuständig war. In einem Atomkrieg wären russische Atomwaffen dementsprechend auch gegen Ziele in Deutschland gerichtet.
Seit 2014 wurden die Streitkräfte der Ukraine durch MilitärausbilderInnen der NATO auf einen Angriff Russlands vorbereitet und in diesem Rahmen rüstungs- wie ausbildungstechnisch schrittweise auf NATO-Standard gebracht. Es ist zu vermuten, dass zahlreiche dazu gehörige SoldatInnen in dem verlustreichen Stellungskrieg im Osten des Landes bereits getötet oder verletzt wurden, was die Aussicht auf eine erfolgreiche Gegenoffensive der Ukraine nicht besser macht.
Jürgen Wagner ging auch auf die offiziellen Begründungen Russlands, in der Ukraine eine sogenannte Spezialoperation durchzuführen, kritisch ein. So sei das Motiv eines an Russland nahestehenden UkrainerInnen begangenen Völkermords, der eine humanitäre Intervention begründe, schon deshalb fragwürdig, weil die Verteilung der laut UN 14.000 Kriegsopfer vor dem 24. Februar 2022 auf die Konfliktparteien erst einmal untersucht werden müsste. Das Argument eines unterstellten Genozids für eine militärische Intervention sei aber auch deshalb inakzeptabel, weil es das 1999 beim Angriff der NATO auf Jugoslawien für die Friedensbewegung ebenfalls war. Warum also sollte mit der russischen Präventivkriegthese heute anders umgegangen werden als beim Überfall der USA auf den Irak, um nur ein Beispiel zu nennen?
Zwar richte sich der Kriegsgrund einer "Entnazifizierung" der Ukraine gegen verschiedene Akteure und Ideologien in der Ukraine, jedoch hätten die faschistischen Akteure dort bei Wahlen nie relevant gepunktet. Ihre Wirkmächtigkeit bestehe in der vorhandenen Bewaffnung und der damit möglichen Einflussnahme auf politische Akteure, von einer Faschisierung des ganzen Landes könne jedoch nicht ausgegangen werden.
Hinzuzufügen wäre, dass der Kreml mit seinem Faschismusbegriff an den Großen Vaterländischen Krieg, also den Sieg über Nazideutschland, anknüpft. Gerade die Bevölkerung der Ukrainischen Sowjetrepublik hat dabei einen erheblichen Blutzoll geleistet, sie war in der Roten Armee und den Partisanenverbänden sehr präsent und hat nicht nur in faschistisch-nationalistischen Einheiten mit Wehrmacht und SS kollaboriert. Die historische Fundierung dieses exklusiven Faschismusbegriffes durch den Kreml geht einher mit einer strikten Ablehnung der sowjetischen Staatsdoktrin und bedient sich statt dessen vor allem ethnonationalistischer wie patriarchaler Werte, kann also den Staatskommunismus, mit dem das NS-Regime den Vernichtungskrieg im Osten legitimierte, nicht als Ausgangspunkt des angeblich antifaschistischen Kampfes in der Ukraine nutzen.
Die NATO müsse sich fragen lassen, wie es zu einer Bedrohungswahrnehmung in Russland kommen konnte, die über Entscheidungen der NATO induziert wurde, deren Ausführung sich über einen Zeitraum von 15 bis 20 Jahre erstreckte. Wagner hält die Schlussfolgerung des Kreml nicht für akzeptabel, aber es könne auch niemand behaupten, bloßes Appeasement sei das Problem gewesen, das zum Überfall russischer Truppen auf die Ukraine geführt habe. Abschließend zu seinen Ausführungen über die Vorgeschichte des Krieges warf der Referent die Frage auf, ob die Schlussfolgerung der NATO, immer härtere Bandagen anzulegen, nicht genau das hervorgebracht habe, was damit angeblich verhindert werden sollte.
So nimmt die NATO den Krieg ihrerseits zum Anlass, Russland auf dem Gipfel in Madrid im Juni 2022 ganz offiziell zur größten Bedrohung für die Militärallianz zu erklären. Mit dem Beitritt Finnlands und voraussichtlich Schwedens verdoppelt sich die Länge der Grenze des Bündnisgebietes zu Russland, was die Gefahr nicht geplanter Kollisionen mit entsprechendem Eskalationspotential erhöht. Russland wird genötigt, die Grenze zu Finnland mit zusätzlichen Truppen abzusichern, zumal auf der nahegelegenen Kola-Halbinsel zahlreiche Atomwaffen und im Hafen Murmansk die als Abschussbasen fungierenden U-Boote konzentriert sind.
Die Ostsee wird durch die NATO-Mitgliedschaft Finnlands und Schwedens praktisch zum Hoheitsgebiet der Militärallianz, während Russland mit Kaliningrad und St. Petersburg nur noch einen kleinen Zugang zu dem nordeuropäischen Binnenmeer hat. Auch hier sind Konflikte vorprogrammiert, das gilt insbesondere für den Transferkorridor zwischen Russland und seiner Exklave Kaliningrad. Das ehemalige Randmeer wird damit zu einer der am meisten militarisierten und konfliktträchtigsten Regionen der Welt, was eine wichtige Rolle bei den Aufrüstungsplänen der Bundesregierung spielt. Sie ist denn auch in erster Reihe daran beteiligt, die ehrgeizigen Pläne der NATO zur Aufstellung schnell verlegbarer Einsatzkräfte in nie dagewesenem Umfang durch die Bereitstellung von Personal und Waffen zu ermöglichen.
So wird sich künftig eine heiße Grenze vom Nordpolarmeer bis zum Schwarzen Meer quer durch Europa ziehen. Deutschland ist kein Frontstaat mehr, während der Nachfolger Polen noch ehrgeizigere Aufrüstungspläne verfolgt als die Bundesrepublik. Deren Gesellschaft wird in einem Ausmaß militarisiert werden, der gegenüber selbst die Hochzeiten des Kalten Krieges verblassen. Die Schaffung eines kriegsbereiten Hinterlandes und einer wehrbereiten Bevölkerung setzt auch eine Transformation in der ideologischen Zurichtung und militäraffinen Vergesellschaftung der Menschen voraus, die sich im Schwarz-Weiß-Duktus aktueller Gesinnungskonditionierung bereits abzeichnet.
Dennoch ist dieser Krieg nicht, wie das vielzitierte Schlagwort "Zeitenwende" nahelegt, der originäre Anlass eines quantitativen wie qualitativen Sprungs zur Aufrüstung und Militarisierung Deutschlands. Dieser ist spätestens seit 2013 in Arbeit, als die regierungsnahen Think Tanks Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) und German Marshall Fund (GMF) Empfehlungen zur deutschen Außen- und Sicherheitspolitik unter dem Titel "Neue Macht - Neue Verantwortung" veröffentlichten. Schon damals hieß es unter Verweis auf die vielen Vorteile, die der Bundesrepublik ökonomisch aus der Globalisierung erwachsen:
Wenn Deutschland die eigene Lebensweise erhalten und schützen will, muss es sich folglich für eine friedliche und regelbasierte Weltordnung einsetzen; mit allen legitimen Mitteln, die Deutschland zur Verfügung stehen, einschließlich, wo und wenn nötig, den militärischen. [2]
Quelle: IMI / Arno Neuber
In diesem Kontext kann die Bedeutung der Ukraine für die deutsche Weltmachtpolitik kaum überschätzt werden, wie der IMI-Aktivist schon vor neun Jahren ausführte. Dementsprechend ist Jürgen Wagner nicht der Auffassung, dass Deutschland alleine von den USA am Nasenring über das internationale Parkett geführt werde und keinerlei eigene geostrategischen Ambitionen hätte, wie etwa die Konkurrenz mit den USA um die Frage danach, wer die neue Übergangsregierung nach dem Putsch 2014 in Kiew bildet, dokumentiere.
Deutschland habe eigene machtpolitische Interessen, aber auf einer höheren Ebene sei man sich darüber einig, sich in einem fundamentalen Systemkonflikt mit China und Russland zu befinden. Das habe unter anderem mit unterschiedlichen Ordnungskonzepten zu tun wie etwa demjenigen, dass das Kapital in Deutschland und den USA nach wie vor auf einen stark finanzmarktgetriebenen neoliberalen Weltmarkt setze, während das staatskapitalistische China anderen Konzepten folge, die insbesondere den Konflikt mit den USA anheizen.
Wenn insbesondere PolitikerInnen der Grünen darin einen globalen Kampf zwischen demokratischen und autokratischen Staaten zu erkennen meinen und sich für eine "regelbasierte Weltordnung" stark machen, dann ist das lediglich der ideologische Schaum, mit dem das Publikum eingeseift wird, um das Bündnis mit den USA auch wertetechnisch legitimieren zu können. Dass es sich bei den dabei bemühten Regeln um höchst selektive Kriterien einer wertemodifizierten Interessenpolitik handelt und die vor allem über die NATO vermittelte Allianz mit den USA keinen Bestand hätte, wenn es sich bei diesen nicht um den am schwersten bewaffneten Staat auf dem Planeten handelte, ist unschwer daran zu erkennen, dass in Sachen Krieg, Bündnispolitik und Menschenrechte stets mit zweierlei Maß gemessen wird.
So steuern die NATO-Staaten ausgehend vom Ukrainekrieg auf eine längerfristige Konfliktkonstellation zu, in der die Konkurrenz zwischen den USA und China die zentrale Achse wirtschaftlicher wie militärischer Konfrontationen ist. Die SPD entspricht dieser Entwicklung mit einem geostrategischen Entwurf des Parteivorstands, der im September in das Parteiprogramm einfließen soll. Darin werden die ideologischen Grundlagen des Systemkonflikts und der Großmachtkonkurrenz mit China auch für Deutschland anerkannt, was entsprechende Auswirkungen auf die Außen- und Sicherheitspolitik haben soll.
Die von Jürgen Wagner so detailliert, wie es in einem Vortrag möglich ist, ausgeführte Vorgeschichte des Krieges bürdet den Regierungen der NATO eine Mitverantwortung für seinen Ausbruch auf. Dass diese in den Agenturen westlicher Meinungsbildung ignoriert, wenn nicht offen geleugnet wird, kann zumindest dann nicht erstaunen, wenn die These, in der Ukraine werde ein Stellvertreterkrieg zwischen NATO und Russland ausgefochten, zutrifft. Dementsprechend ist für den IMI-Referenten das Eingeständnis, dass auch der Westen Fehler begangen hat, indem er Russland bei der Etablierung einer gemeinsamen Sicherheitsarchitektur in Europa nicht entgegengekommen ist, eine Minimalbedingung dafür, aus dieser Konfliktkonstellation halbwegs unbeschadet wieder herauszukommen.
Angesichts der in den bürgerlichen Leitmedien und den meisten der im Bundestag vertretenen Parteien doktrinär vertretenen Unterstellung, bei der These von einem Stellvertreterkrieg handle es sich um eine Art Verschwörungsmythos, sei hier noch die Stellungnahme des CIA-Direktors William Burns angeführt. Dieser hatte in seiner Zeit als US-Botschafter in Moskau kurz vor dem NATO-Gipfel in Bukarest 2008 seine Regierung davor gewarnt, dass ein Beitritt der Ukraine zur NATO die "röteste aller roten Linien" für die russische Führung bilde und er noch niemanden unter den zahlreichen Gesprächspartnern in Moskau gefunden habe, der die NATO-Mitgliedschaft der Ukraine nicht als "direkte Herausforderung russischer Interessen" bewertet hätte [3].
Selbst der US-Geopolitiker Zbigniew Brzezinski, dem die vorrangige Bedeutung der Ukraine für die Beherrschung des eurasischen Kontinents und damit der Hegemonialstellung Russlands eine zentrale Achse seiner geostrategischen Analysen war, vertrat in seinen letzten Schriften eine das Land integrierende Bündnispolitik und plädierte nach der Annexion der Krim durch Russland 2014, die er scharf verurteilte, dennoch für eine Zusicherung an die Adresse Moskaus, dass die Ukraine nicht der NATO beitreten werde [4].
Mitte Mai haben 14 Ex-Offiziere und Sicherheitsexperten in einer Erklärung des Eisenhower Media Networks die Mitverantwortung der NATO und USA für die Entstehung und Fortdauer des Krieges in der Ukraine dokumentiert und eine schnelle diplomatische Beendigung des Konflikts gefordert [5]. Zur Mäßigung aufrufende und die eigene Kriegspolitik kritisierende Stimmen sind in Washington durchaus häufiger zu vernehmen als etwa in Berlin, das nicht nur aus zu begrüßenden Motiven heraus, sondern auch aufgrund der strategischen Ausrichtung der US-Hegemonialpolitik auf China, das von einem tiefen Bruch zwischen Russland und dem Westen insbesondere militärisch profitieren könnte.
Inwiefern die Vorgeschichte des Krieges zum monokausalen Deutungsmuster wird oder andere Motive für den Überfall auf die Ukraine herangezogen werden, liegt im Auge der BetrachterIn. So könnte ihr Startpunkt auch weiter in die Vergangenheit verlagert werden, wenn etwa slawophobe und eurozentrische Motive, die Feindseligkeit gegenüber "Russen", von denen in der BRD stets die abwertende Rede war, wenn die viele Ethnien umfassende Sowjetunion gemeint war, oder die traditionelle Orientierung des deutschen Imperialismus nach Südosteuropa im allgemeinen und in Richtung Ukraine im besonderen in Rechnung gestellt werden. Auch ist die geopolitische Konstellation, die zum Ersten Weltkrieg geführt hat, und deren komplexe Weiterentwicklung, in diesem Fall analysiert von Gille Dauvé [6], für die historische Tiefendimension dieses Krieges von Interesse.
Ohnehin beschönigt das Konzept "Sicherheit" das prinzipiell auf Aus- und Einschließung basierende Verhältnis von Staaten zueinander, andernfalls bedürfte es keiner durch militärische Gewaltmittel armierter Grenzen und keiner Streitkräfte, die für den Ernstfall des Bruches vereinbarter Regeln bereitstehen. "Sicherheit" soll die Geschäftsordnung einer Weltwirtschaft garantieren, in der das finanzielle Gewicht der transnationalen Kapitale und ihrer staatlichen Durchsetzung das gegenseitige Kräfteverhältnis bestimmen.
Russland als vor allem auf Rohstoffrente basierende Ökonomie war und ist gegenüber dem finanzmarktgetriebenen Kapitalismus des Westens benachteiligt, was seine Führung erst recht dazu veranlasst hat, einen Platz am Tisch der führenden Wirtschaftsmächte zu verlangen. Als nachholender Imperialismus zu versuchen, industriepolitische, innovationstechnische und sozialökonomische Defizite militärisch zu kompensieren, liegt nahe, insbesondere angesichts gesellschaftlicher Unwuchten, die im Spannungsfeld zwischen äußerer Expansion und inneren Verteilungskämpfen nationalistische und kulturalistische Identitäten hervorbringen. Werden die besonders im Fokus stehenden liberalen Geschlechterverhältnisse als Feindbild der globalen Rechten bedient, dann zeigt sich, dass das in diesem Kontext häufig fallende Schlagwort "Identitätspolitik" vor allem dort auf fruchtbaren Boden fällt, wo mit nationialchauvinistischen, patriarchalen und rassistischen Identitäten die Saat des Hasses ausgebracht wird.
Wenn der Kreml vor der eigenen Bevölkerung eine Aggression der NATO geltend macht, dann legitimiert er damit einen Krieg, der nur dann alternativlos erscheinen kann, wenn interimperialistische Konkurrenz zum unhintergehbaren Sachzwang erhoben wird. Den Krieg mit Sicherheitsinteressen zu begründen, geht zu Lasten der Unsicherheit auf der Seite der Angegriffenen, die in die Zerstörung ihres Gemeinwesens und eine noch mehr als zuvor gegebene Abhängigkeit von dritten Akteuren mündet. Wenn Äußerungen des russischen Präsidenten zu den Territorialansprüchen seines Landes, eines Krieges gegen den Faschismus in der Ukraine und des kulturalistischen Imperativs notwendiger Verteidigung gegen westliche Dekadenz ernst genommen werden, dann kann das den aggressiven Charakter seines Vorgehens gegen die Ukraine nicht entschuldigen.
Das mindert nicht die Verantwortung der NATO-Staaten für die lange zuvor in Gang gesetzte Eskalationsdynamik, legt aber auch die strukturelle Verwandtschaft der Motive aller offen, die die Ukraine zum Schlachtfeld ihrer Interessen auserkoren haben. Während die Bevölkerung der Ukraine als Bauernopfer und Spielball in einer geopolitischen Konfliktkonstellation mißbraucht wird, weist das Kriegsgeschehens weit über seinen territorialen Radius hinaus und birgt damit erhebliche Risiken für alle Beteiligten. Die Entgrenzung vorgeblicher Kriegsgründe und der konstitutiven Logik ultimativer Zerstörung wird in einem Gespräch mit Peter Decker erhellt [7].
Inzwischen nimmt selbst der Bundeskanzler das lange verfemte Wort "Imperialismus" in den Mund, allerdings nur, wenn es um Russland geht. Einen deutschen Imperialismus scheint es für die Bundesregierung ebensowenig zu geben wie einen der USA, dabei lässt sich dieser Begriff gerade auf die von der westlichen Wertegemeinschaft in Anspruch genommene Definitionsmacht anwenden. In einer Welt, wo alle Territorien verteilt und der Zugriff auf Naturressourcen in nationaler Hoheit oder unter vertraglichen Bedingungen erfolgt, steht der Kampfbegriff der antiimperialistischen Linken weniger für expansive Raubstrategien als ein transnationales Ordnungssystem, in dem mit Geld bezahlt und mit Rechtsansprüchen Kapitalverwertung betrieben wird. Die "regelbasierte Ordnung", auf die die Bundesregierung die Legitimation ihres Interventionismus gründet, bietet in der Widersprüchlichkeit ihrer Anwendung ein gutes Beispiel dafür, dass ein auf andere Staaten und Gesellschaften übergreifender Ordnungsanspruch stets selektiv justierte Herrschaftsinteressen spiegelt.
Russland hat sich nicht minder als andere Akteure der internationalen Arbeitsteilung im weltweiten Geschäft als zuverlässig und berechenbar erwiesen. Zugleich nimmt es als Atommacht den Anspruch wahr, seine Geschäftsinteressen, nicht anders als die führenden NATO-Staaten, auch mit militärischer Gewalt durchzusetzen. Um so mehr scheint die Gefahr, dass Russland und China etwa im Rahmen der Eurasischen Union eigene Wege gehen und in absehbarer Zeit den Führungsanspruch der USA und EU in Frage stellen, mit einer gedeihlichen Geschäftsordnung unvereinbar zu sein. Für Washington gibt es erklärtermaßen kein Land, das mit den USA auf Augenhöhe agieren darf, also auch keinen Anspruch auf die Durchsetzung von Einflusssphären, die nicht von der NATO verfügt werden, erheben kann.
Hier geht es um schlichte Staatenkonkurrenz unter im Grundsatz Gleichgesinnten, denn eine Differenz in Sachen Gesellschaftsdoktrin wie zu Zeiten der Sowjetunion liegt nicht mehr vor. Was die kapitalistische Bewirtschaftung der eigenen Bevölkerung und ihre autoritäre Zurichtung auf widerspruchslose Verfügbarkeit betrifft, war Russland ein ebenso zuverlässiger Akteur wie viele andere Bündnispartner des Westens auch. Ein Blick auf die soziale Dynamik, die das Land seit dem Ende der Sowjetunion bestimmt, verrät zudem, dass es zur Erklärung expansiver Hegemonialbestrebungen Moskaus auch Gründe gibt, die in den postsowjetischen Verteilungskämpfen und Klassenkonflikten verankert sind, wie Felix Jaitner ausführt [8].
"Bevor ich im großen Schlaf versinke,
möchte ich den Schrei des Schmetterlings hören"
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So lange die Regierungen der NATO-Staaten fast einhellig die militärische Erzwingung eines vollständigen Rückzug Russlands aus den seit 2014 annektierten Gebieten propagieren, ist die Tragfähigkeit dieses Risikos offensichtlich nicht erschöpft. Diverse Äußerungen des politischen Spitzenpersonals in Berlin darüber, dass sich Deutschland mit Russland im Krieg befinde, dass es darum gehe, Russland zu ruinieren, dass Russland so geschwächt werden müsse, dass es niemals wieder zu einem solchen Angriffskrieg in der Lage wäre, untermauern die These des Stellvertreterkrieges ebenso wie die Behauptung, in der Ukraine würden die Werte der westlichen Wertegemeinschaft verteidigt.
Indem die NATO sich vorerst auf die ökonomische Kriegführung gegen Russland verlegt hat und diese durch immer neue Sanktionspakete weiter qualifiziert, indem sie die Ukraine nicht nur mit Waffen versorgt, sondern seit 2014 auf diesen Krieg vorbereitet und dabei die strukturellen Grundlagen für einen NATO-Beitritt gelegt hat, indem sie Tausende von ukrainischen SoldatInnen auf dem Gebiet der Militärallianz an den zu liefernden Waffensystemen ausbildet, indem sie die ukrainische Militärführung mit detaillierten Aufklärungsdaten versorgt, testet die NATO systematisch die roten Linien aus, deren Überschreiten den Kreml zu direkten militärischen Maßnahmen gegen NATO-Einheiten oder auf NATO-Territorium veranlassen könnte.
Dass die roten Linien Moskaus in der deutschen Debatte über Waffenlieferungen praktisch keine Rolle mehr spielen, wie die Dlf-Korrespondentin Gesine Dornblüth in einer Diskussionssendung des Deutschlandfunks am 17. Mai erfreut feststellte, sondern nurmehr die sinnvolle Verteilung militärischer Ressourcen unter den NATO-Staaten zur Debatte stände, sorgt für die erforderliche Beinfreiheit des deutschen Imperialismus. Der in dieser Runde anwesende CDU-Politiker Roderich Kiesewetter freute sich seinerseits darüber, dass es endlich mit der deutschen Zurückhaltung vorbei sei, die Russland die Möglichkeit zur weiteren Eskalation gegeben habe. Nur wenige Tage später trat er mit der Forderung an die Öffentlichkeit, der Ukraine Marschflugkörper vom Typ Taurus mit einer Reichweite von bis zu 500 Kilometern zu liefern.
Die unter westlichen MilitärstrategInnen diskutierte Möglichkeit, im Kreml durch einen Abnutzungskrieg in der Ukraine und langfristig wirkende Wirtschaftssanktionen einen Regimewechsel herbeizuführen oder gar die territoriale Einheit der Russischen Föderation auf sezessionistische Weise zu zerschlagen, verweist ebenfalls auf die übergeordneten Beweggründe dieses Krieges. Die Russische Föderation war stets zu groß und zu schwer bewaffnet, um so fugenlos wie die Transformationsstaaten Mittelosteuropas integriert zu werden. Sie hat sich als Gravitationszentrum eigener Art dem Drängen der EU auf erweiterten wirtschaftlichen Zugang und der hegemonialen Ostexpansion insbesondere Deutschlands in den Weg gestellt. Im geostrategischen Kräfteparallelogramm wäre der Staat mit der größten Landmasse der Erde stets ein Akteur geblieben, der maßgeblichen Einfluss auf eine wie auch immer geartete Weltordnung genommen hätte, als deren Führungsmacht bislang die USA gelten.
Indem die Ukraine als ehemaliges Mitglied der Sowjetunion auf jeder Ebene umfassende Verbindungen zu Russland unterhalten hat, empfiehlt sie sich geradezu als Vorfeldakteur der NATO mit eigenständiger nationaler Agenda in zugleich vollständiger ökonomischer und militärischer Abhängigkeit von der westlichen Wertegemeischaft. Wenn etwas den Willen zu nationaler Unabhängigkeit dort befeuert, dann der Angriff Russlands, der zumindest in der vorgeblichen Annahme, dort auf viele FreundInnen zu stoßen, schon in den ersten Kriegswochen gescheitert ist. Die immer wieder zu vernehmende und von JournalistInnen vor Ort glaubwürdig berichtete Bereitschaft großer Teile der Bevölkerung, für den Kampf gegen die Invasoren das eigene Leben zu riskieren, legt beredtes Zeugnis davon ab, dass sich die These, die Menschen scharten sich im Falle einer äußeren Aggression um die eigene Flagge, auch in der Ukraine bewahrheitet.
Darüber nachzudenken, wer im unwahrscheinlichen Fall eines Sieges, wie er in den Hauptstädten der NATO propagiert wird, über das Leben der UkrainerInnen verfügt, wie die Eigentumsverhältnisse nach dem Krieg sortiert werden und wer sich politisch durchsetzt, scheint belanglos zu sein. In einer Situation, wo kriegsunwillige Männer zwangsrekrutiert werden, wenn sie nicht über die grüne Grenze fliehen, wo missliebige Parteien verboten werden und wo ideologisch mit einer an faschistische Traditionen anknüpfenden Staatsdoktrin aufmunitioniert wird, ist es schwer, für zivilen Widerstand zu mobilisieren. Gleiches gilt für Russland, wo mitunter drakonische Strafen über KriegsgegnerInnen wie regierungskritische JournalistInnen verhängt werden, während die massenmediale Zurichtung der Bevölkerung von unerwünschten Zwischentönen bereinigt wird. Der russische Sozialist Boris Kargalitzky jedenfalls bittet seine GenossInnen im Westen angesichts kafkaesker Maßnahmen der Strafverfolgung kriegskritischer Menschen in Russland, dessen Regierung nicht weiter durch beschwichtigende und ambituöse Stellungnahmen zu unterstützen [9].
Wie destruktiv sich der Krieg auf die gesellschaftlichen Bedingungen in Russland wie der Ukraine auswirkt, wird im Furor der Mobilisierung für einen Sieg der Ukraine und damit NATO erst recht nicht bedacht. Oppositionelle haben es auch in der Ukraine schwer, politische Repression gesellt sich zu einer neoliberalen Marktdoktrin, die nur die Zwecke der kapitalistischen Arbeitsgesellschaft und nicht die Interessen der durch sie verfügten Menschen kennt. Die Verschärfung der sozialen Notlagen in Russland wie der Ukraine wird in beiden Fällen mit populistischen Botschaften dem jeweiligen Feind zur Last gelegt, dessen kollektive Dämonisierung die Grundlagen für weitere Kriege legt. Darüber mehr erfahren zu wollen heißt auch hierzulande, die simple Schwarz-Weiß-Zeichnung deutschnationaler Interessenpolitik zu verwerfen und Gewaltverhältnisse fundamentaler Art in den Blick zu nehmen. Zu diesem Zweck sehr empfehlenswert ist ein mehrstündiges Gespräch, das Thilo Jung mit dem ukrainischen Kulturwissenschaftler Roman Dubasevych geführt hat [10].
In Zeiten populistischer Regression nicht weiter erstaunlich ist denn auch die auf Dauer gestellte Niederlage emanzipatorischer und sozialrevolutionärer Kräfte. Wo diese nicht verstehen, sich als dritte Kraft gegen alle Kriegsparteien und herrschaftliche Gewalt zu formieren, ist deren Unterwerfung unter die Interessen von Staat und Kapital selbstverständliche Folge von Ausnahmezustand und Kriegsrecht. Sind diese Maßnahmen auch im Kern gegen jede Opposition gerichtet, die nicht fürs Vaterland sterben und die GenossInnen auf der anderen Seite umbringen möchte, so bedarf es ihrer angesichts der Schwäche als links ausgewiesener Bewegungen im Herzen der Bestie kaum noch.
Dass die Opposition gegen den Krieg und die Herrschaft des Kapitals in Russland wie der Ukraine dennoch nach Kräften unten gehalten wird, belegt, dass der Funke des Aufbegehrens noch nicht gänzlich erloschen zu sein scheint. Durch die schiere Grausamkeit der Verhältnisse vielleicht noch einmal entfacht, rechtfertigt offenkundig die vage Möglichkeit, dass sich soziale Opposition formieren könnte, deren rigorose Elimination. Dies im übrigen im Einklang mit den PredigerInnen liberaler Freiheitsrechte, denen ukrainische wie russische Deserteure ebenso wenig zu pass kommen wie eine soziale Bewegung, die nicht nur den Krieg beenden, sondern auch die Herrschaft kapitalistischer und patriarchaler Hegemonie von welcher Seite aus auch immer überwinden will.
Staatsakteure fallen Befreiungsbewegungen regelmäßig in den Rücken, wie auch die internationale Aufwertung des Irans durch Russland und Saudi-Arabien zeigt. Dass die soziale Opposition dort regelrecht ermordet wird - 256 vollstreckte Todesurteile allein dieses Jahr -, ruft in der EU kaum noch Kritik hervor, befürchten deren Regierungen doch, Teheran an Moskau zu verlieren. So erschweren die Brüche und Widersprüche in den Gesellschaften der Kriegsparteien die Möglichkeit eines dauerhaften Friedens um ein weiteres, wie der russische, in den USA lehrende Historiker Gregory Afinogenov herausgearbeitet hat [11].
Dabei lädt, überspitzt gesagt, gerade die Freiheitsrhetorik der NATO-Regierungen dazu ein, den sozialen Widerstand gegen den Krieg aufzubauen, ohne gleich für Jahre hinter Gittern zu verschwinden, wenn die Rechtsstaatsrhetorik hält, was sie verspricht. So könnten die Bevölkerungen derjenigen Staaten, deren Regierungen die Aufrechterhaltung des Krieges durch Waffenlieferungen an Kiew besorgen, massenhaft Einspruch gegen diese Politik erheben. Sie könnten dafür eintreten, die Kriegsmittel zivil umzudeklarieren, anstatt die Sozialbudgets zusammenzustreichen, sie könnten umfassende humanitäre Hilfe für die UkrainerInnen und einen Schuldenschnitt verlangen, um die erhebliche Belastung des Landes durch Forderungen westlicher Banken zu lindern. Sie könnten sich fragen, ob die von vielen StrategInnen der NATO prognostizierte lange Dauer des Krieges den Blutzoll wert ist, den die ukrainische Bevölkerung leisten muss in Verteidigung nicht nur ihrer nationalen Souveränität, sondern auch der westlichen Werte und Interessen, für die sie sterben. Sie könnten fragen, ob der Preis einer inflationären Entwertung ihrer Vermögen, einer Verschlechterung ihrer sozialen Lage, einer möglichen Gefährdung ihres Lebens durch einen Kriegseintritt der NATO und die weitere Verschlimmerung der Klimakatastrophe durch die dadurch ausbleibenden Gegenmaßnahmen nicht zu hoch sei, um eine Konsolidierung des Ordnungsgefüges zu bewirken, das vom Führungsanspruch der USA und EU in globalen Angelegenheiten bestimmt wird.
In diesem Krieg vor allem das Ausfechten konträrer Interessen zwischen NATO und Russland zu erkennen, gilt für weite Teile des Globalen Südens. Dort hat die moralische Selbstherrlichkeit von Staaten, deren Kolonialherrschaft und imperialistische Politik das Leben von Millionen zur Hölle gemacht hat und die wesentlich für den Ökozid in ihren Ländern verantwortlich zeichnen, zu starker Zurückhaltung bei der Durchsetzung der Wirtschaftssanktionen gegen Russland geführt. Zwar können sich die USA, EU und Japan noch auf ihre relative Vormachtstellung im Weltwirtschaftssystem stützen, doch gerade weil diese seit der Pandemie verstärkt in Frage gestellt wird, sollen potentielle KonkurrentInnen in die Schranken gewiesen werden. Dass in Moskau vergleichbare Motive den Ton angeben und der Angriff auf die Ukraine nicht notwendig gewesen wäre, wenn der eigene Anspruch auf imperialistische Bewirtschaftung der Welt weniger aggressiv vertreten würde, gibt um so mehr Anlass darüber nachzudenken, wie sich die Bevölkerungen frei machen können von jeglicher Art gewaltgestützter Herrschaft.
Opposition gegen den Krieg ohne fundamentale Kritik an den die Welt beherrschenden Verhältnissen läuft denn auch Gefahr, von der einen oder anderen Kriegspartei instrumentalisiert zu werden. So stand bei der Großdemonstration des von Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer initiierten Manifests für den Frieden am 25. Februar in Berlin auch der erstunterzeichnende Ex-General Erich Vad mit auf der Bühne. Der als Gruppenleiter im Referat Aussen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik im Kanzleramt Angela Merkels tätig gewesene Offizier hat in einem Beitrag für das an der Harvard Kennedy School angesiedelte Portal Russia Matters am 20. April [12] umfassend begründet, warum die Aufrüstung der Bundeswehr im Angesichte des Ukrainekriegs zu langsam vonstatten gehe und auch mit einem zusätzlich zu dem jährlich ansteigenden Verteidigungshaushalt ausgewiesenen Sondervermögen von 100 Milliarden Euro unterfinanziert sei.
Quelle: IMI / Arno Neuber
Vad mahnt die Entsendung von mehr deutschen Truppen nach Osteuropa an, wozu künftig wohl auch die Ukraine zumindest bei der Stationierung von Waffen und Material gehöre, er spricht sich für die fortgesetzte Inanspruchnahme US-amerikanischer Atomwaffen und anderer militärischer HighTech-Entwicklungen und Fähigkeiten dieses kriegserprobten Staates aus. Damit liegt er etwa auf der Linie der Forderungen, die am 3. April in der zur besten Sendezeit in der ARD ausgestrahlten Dokumentation "Können wir Krieg?" von einer Riege ausgesprochener BefürworterInnen deutscher Kriegsbereitschaft erhoben wurden. Die schon im Titel der Sendung vorgenommene kollektive Vereinnahmung "wir" und die Ausrichtung der Frage auf das "können" ging in "Deutschlandgeschwindigkeit" über all jene hinweg, die vielleicht erst einmal fragten "Wollen wir Krieg?"
Dem liegt die Unterstellung zugrunde, dass ein Russland, das im Rahmen postsowjetischer Hegemonialsicherung und geostrategischer Raumkontrolle ein anderes einst der Sowjetunion angehörendes Land überfällt, nicht minder als die Sowjetunion vorhabe, schnurstracks zum Atlantik zu marschieren. Dass es zuletzt Deutschland war, das die Sowjetunion in einem epochalen Vernichtungskrieg überfallen hat, erscheint vor diesem Drohbild als vernachlässigbare Fußnote der Geschichte. Wenn die Konfrontation zwischen NATO und Russland nicht mehr den Umweg über die Ukraine nehmen sollte, belegte das nicht die Stichhaltigkeit der Mutmaßung, Russland sei auf Expansion auf NATO-Territorium aus. Da eine solche Entwicklung eine schnelle Eskalation hin zu einem atomaren Abtausch wahrscheinlicher machte, hätten beide Seiten an einer dann möglicherweise unumkehrbaren Katastrophe gekocht.
Eine Friedensbewegung, die vor allem das nationale Wohl im Sinne hat, kann angesichts dessen, dass die SachwalterInnen imperialistischer Stärke nichts anderes tun, nur sehr bedingt Wirkung entfalten. Da das Gros einer Antikriegsbewegung, die zuletzt vor 20 Jahren im Protest gegen den Irakkrieg nennenswert in Erscheinung getreten ist, heute die militärische Neuordnung Europas für eine Art Befreiungskampf zu halten scheint, und prinzipieller Antimilitarismus als politische Position kaum noch vertreten wird, repräsentiert die Großdemonstration am 25. Februar in Berlin all diejenigen, die sich diesen Positionen nicht anschließen, aber ihrem Unwillen an der deutschen Kriegspolitik Ausdruck verleihen wollen. Anstatt die Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht unter Gesinnungsverdacht zu stellen, wäre es produktiver für die Kampfkraft einer breiten Gegenbewegung, die Grundlagen ihres Aufrufs zur Formierung einer Friedensbewegung vor dem Hintergrund ihres Eintretens für die Herrschaft von Staat, Nation und Kapital genauer zu untersuchen und demgegenüber die eigene Position zu bestimmen [13].
Antimilitaristischer Protest, der den Frieden der Paläste ebenso angreift wie den Krieg der Hütten zu beenden trachtet, findet in einigen kleinen Initiativen statt. Zu erwähnen sind hier vor allem das Bündnis Rheinmetall Entwaffnen und die unter dem Dach der Transnational Social Strike Platform organisierte Permanent Assembly against the War, in der sich auch viele vom Krieg betroffene AktivistInnen in Osteuropa organisiert haben. Es wirkt zwar nicht so, als könne hier noch ein Widerstand entfaltet werden, der die Katastrophe des Krieges in die Schranken weist, aber aufzugeben ist ebensowenig eine Option, als auf die nicht minder ohnmächtigen Versuche zu verzichten, auf anderen Feldern gesellschaftlicher Machtausübung eine missliebige Position zu beziehen.
Unsere Körper brechen
und das Blut, es fließt und fließt,
aber wir sitzen hier und tauschen Zahlen aus.
Es ist eine Schande
meine Hand tötet und tötet.
Das muss einmal zu Ende sein.
Low - Breaker (in freier Übersetzung der Schattenblick-Redaktion) [14]
Fußnoten:
[1] https://www.imi-online.de
[2] http://www.schattenblick.de/infopool/medien/altern/imi-598.html
[3] https://theconversation.com/ukraine-war-follows-decades-of-warnings-that-nato-expansion-into-eastern-europe-could-provoke-russia-177999
[4] http://www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prbe0152.html
[5] https://eisenhowermedianetwork.org/russia-ukraine-war-peace/
[6] https://non.copyriot.com/peace-is-war/
[7] https://www.youtube.com/watch?v=MsGo3mnC0_w
[8] https://doi.org/10.32387/prokla.v52i208.2007
[9] https://russiandissent.substack.com/p/a-very-simple-request
[10] https://www.youtube.com/watch?v=g34nNyrTSF4&t=428s
[11] https://jacobin.com/2023/02/peace-ukraine-war-invasion-one-year-putin-zelensky
[12] https://www.russiamatters.org/analysis/ukraine-war-compels-bundeswehr-refocus-and-rebuild-too-slow-pace-0
[13] https://gegen-kapital-und-nation.org/von-lenin-zu-lucke-ein-buch-und-seine-weltanschauung/
[14] https://www.youtube.com/watch?v=-DMhRCbzPm0
30. Mai 2023
veröffentlicht in der Schattenblick-Druckausgabe Nr. 179 vom 22. Juli 2023
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