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BERICHT/009: LIGNA - "Labor für unkontrollierbare Situationen" (SB)



Im Rahmen des Symposiums "Virtualität und Kontrolle" an der Hochschule für Bildende Künste Hamburg, über das der Schattenblick ausführlich berichten und eingehend zu diskutieren haben wird, veranstaltete die Gruppe LIGNA ein "Labor für unkontrollierbare Situationen". Es fand in der Europapassage statt, einer jener künstlichen Welten, die das Einkaufen angeblich zum Erlebnis machen. Die LIGNA-Aktion war ein Erlebnis, allerdings der ganz anderen Art.

Einkaufspassagen als Zentren zivilreligöser Sinnstiftung

In den Innenstädten der westlichen Metropolengesellschaften wird Lebenssinn pur zelebriert. Vor den Bühnen des Spektakels, das auf den zu Plattformen des Events ausgebauten Plätzen inszeniert wird, und der Skyline himmelwärts strebender Konzernmacht feiert der Kapitalismus seine Produktivität mit der Auslage besonders teurer und edler Waren. Handelt es sich bei der Verkehrsinfrastruktur, die Personen und Güter zwischen Peripherie und Zentrum austauscht, um die Extremitäten, bei der administrativen und polizeilichen Organisation um Sinnesorgane und Gehirn, dann schlägt das Herz des urbanen Organismus in den mit extravaganter Architektur zu postmodernen Tempeln des Konsumismus ausgebauten Ausstellungs- und Verkaufsflächen.

Während die großen Einkaufszentren, mit denen der Massenkonsum in den siebziger und achtziger Jahren in die Randbereiche westdeutscher Großstädte verlagert wurde, durch kostengünstige Zweckbauten in Gewerbegebieten abgelöst wurden, wird der Einkauf für das gehobene Publikum in den Fußgängerzonen und Einkaufspassagen der Innenstädte organisiert. Im Konzept der vom öffentlichen Raum der Straßen und Plätze separierten Shopping Malls bündelt sich die Prozeßlogik städtebaulicher und verkehrstechnischer Mechanik, deren Ziel das Zusammenführen von Menschen- und Warenströmen zum Zwecke der permanenten Diffusion von Geld und Waren ist. Als von anderen sozialen und gesellschaftlichen Zwecken als diesem bereinigter Raum steht die Einkaufspassage ganz im Zeichen der konsumistischen Zweckbindung.

Kathedrale des Konsumismus - © 2008 by Schattenblick

Abb.: Kathedrale des Konsumismus
© 2008 by Schattenblick


Nichts soll den über die bunten Auslagen schweifenden Blick des Kunden so irritieren oder ablenken, als daß an einen spontanen "Impulskauf" nicht mehr zu denken wäre, nichts soll ihn so über Gebühr in Anspruch nehmen, als daß die Magie des Warenfetischs wirkungslos verpuffen könnte. Die von zweckfremden Elementen wie Verkehrsmitteln, Straßenschildern, Bettlern, Rauchern oder Demonstranten befreite Zone soll Begehrlichkeiten wecken, die sich im alltäglichen Überlebensstreß nicht entfalten können, im dafür eigens zugerichteten Raum als kompensatorisches Moment desselben jedoch um so unwiderstehlicher erblühen. Hier kann der Einkauf eine Sinnhaftigkeit generieren, die dem Shopping über die bloße Unterhaltung oder die Schnäppchenjagd hinaus jene individuelle Einzigartigkeit hinzufügt, die dem Wechsel von Ware und Geld gerade nicht eigen ist. Wenn der Kunde die Beliebigkeit und Anonymität des Kaufvorgangs durch seine ganz persönliche Wahl aufhebt, dann ergreift der Warenfetisch vollständig von ihm Besitz, und alle Fremdbestimmung scheint von ihm abzufallen.

Das in diesen Ort der programmatischen Verführung eingesaugte Subjekt ist einer räumlichen, dinglichen und sozialen Konditionierung ausgesetzt, für die das System warenförmiger Verwertung alle Methoden und Techniken aufbietet, mit Hilfe derer die Gewalt des Kapitalverhältnisses verborgen und desto wirkmächtiger entfaltet werden kann. Wer sich diesem Zugriff widersetzt, weil er sich nicht widerstandslos zum Objekt technokratischer Gewalt machen lassen will, dem kann die Einkaufspassage ein überaus lohnenswerter Gegenstand der Untersuchung und Analyse sein.


Im Bauch des Wals Eigenleben entfachen

Gelegenheit dazu boten die Aktionskünstler der Gruppe LIGNA, die die Hamburger Europapassage am frühen Abend des 6. November in ein "Labor für unkontrollierbare Situationen" verwandelten.


"Das Labor lädt dazu ein, den kontrollierten Raum mit dem Radio zu erforschen. Das Radio schlägt Gesten vor, die dem warenförmigen Raum entnommen sind. In der gleichzeitigen Ausführung derselben Gesten, ihrer mechanischen Reproduktion, werden diese parodiert. Dabei geht es nicht darum, spektakuläre Abweichungen von den Regeln zu ermöglichen: das Labor für unkontrollierbare Situationen untersucht stattdessen, was passiert, wenn sich Gesten konstitutiv dem Regime der Kontrolle entziehen: Eine unterschwellig wahrnehmbare, aber nicht verortbare Abweichung - eine in der Zerstreuung wirksame Produktion.

Unterlauft das Regime der Kontrolle mit unkontrollierbaren Gesten!

Bahnt neue Passagen proletarischer Öffentlichkeit!"

(Auszug aus der Ankündigung, FSK-Transmitter, 11/08)

Treffpunkt Thalia-Theater - © 2008 by Schattenblick

Abb.: Treffpunkt Thalia-Theater
© 2008 by Schattenblick


Die bunt zusammengewürfelten Akteure des sogenannten Radioballetts trafen sich im Vorraum des Thalia-Theaters. Dort wurden die Radiogeräte ausgegeben und einige grundlegende Hinweise gegeben wie etwa die Bitte, das Radio nicht allzu sichtbar zu tragen und sich allein oder zu zweit unauffällig unter die Passanten in der Einkaufspassage zu mischen. Den Verweis auf die Hausordnung, laut der kein Besucher "andere Personen behindern, belästigen oder gefährden darf", ergänzte LIGNA mit dem Warnhinweis, daß man bei Nichtbefolgung der Anweisungen des Wachpersonals eine Anzeige wegen Hausfriedensbruchs riskieren könnte. Es ginge jedoch nicht darum, "so schnell wie möglich hinausgeworfen zu werden", sondern darum, "einen völlig transparenten und kontrollierten Ort unterschwellig zu verändern, ohne dass der Grund dieser Veränderung deutlich wird". Elementar dafür sei, daß das Labor für unkontrollierbare Situationen nur funktioniert, "solange das Radiohören unerkannt bleibt. In dem Moment, in dem das Labor identifiziert werden kann, lässt es sich auch wieder kontrollieren."

Und so sickerten die Teilnehmer der Aktion, durch das kleine Radiogerät in der Tasche und die Kopfhörer in den Ohren mit den LIGNA-Regisseuren verbunden, durch verschiedene Eingänge in die unweit der Prachtmeile Jungfernstieg gelegene, 2006 eröffnete Europapassage ein. Die bauliche Anlage der Shopping Mall soll an ein Schiff mit mehreren Promenadendecks erinnern, was dem Kunden allerdings gesagt werden muß, sonst käme er nicht darauf. Der nach oben offene, durch ein Glasdach nach außen abgeschlossene Innenhof vermittelt dem Bauwerk den Charakter eines Hybrids aus klassischem Kaufhaus, öffentlichem Raum und aufeinander gestapelter Ladenzeilen.

Die Symmetrie des Arrangements lenkt den Blick auf die Ware - © 2008 by Schattenblick

Abb.: Die Symmetrie des Arrangements lenkt den Blick auf die Ware
© 2008 by Schattenblick


Im Unterschied zu einem Besuch, bei dem man den Ort als normaler Kunde betritt und an seinen Zweck, den des Konsums, gebunden ist, findet die Aktion von vornherein in einer Art Blase aus virtueller Gemeinschaft statt. Weit effizienter, als es die akustische Abschließung durch das Musikprogramm des individuellen Players vermag, öffnet sich ein Raum eigener Bedeutsamkeit, dem die Welt, durch die man sich bewegt, als Außen gegenübertritt.

Schon dadurch, daß der über das Radio vermittelte Text auf dieses Außen unmittelbar bezogen ist, schafft er ein Paralleluniversum, das sich, von der Absicht geleitet, das durch Architektonik, Überwachung und Warenangebot prozessierte Kontrollregime zu unterlaufen, als Gegenwelt konstituiert. Die LIGNA-Aktivisten verstärken diesen Effekt durch eine Regie, in denen konkrete Handlungsvorschläge, Reflexionen des Erlebten, Informationen zur Geschichte der Einkaufspassagen und des spezifischen Orts sowie Analysen zu den Funktionen und Techniken des konsumistischen Arrangements einander ablösen. Man ist Zuhörer und Akteur in einem, wodurch die Zweckrationalität der Anlage wirksam unterbrochen wird.

Und so folgt der Akteur dem durch den Verlauf der Gänge und Rolltreppen vorgezeichneten Weg wie jeder andere Kunde auch, allerdings mit dem Unterschied, daß er schon von seinem Vorhaben her von den Signalfunktionen und Verhaltensaufforderungen, die der Struktur des Gebäudes, den Angeboten der Geschäfte und den Mechanismen des Kaufs immanent sind, entkoppelt ist. Um so mehr springen ihm die Auslagen in ihrer aggressiven Intention, Herrschaft über Sinne und Emotionen zu übernehmen, ins Gesicht und lassen den Gedanken daran, man könnte diese Dinge begehren, fremd erscheinen. Während die Exposition der Produkte einen Wert beschwört, der über den bloßen Gebrauch hinaus das Tonikum der Bedeutsamkeit verheißt, vergißt der Akteur seinerseits niemals, daß er ein Fremdkörper in diesem funktional streng definierten und lückenlos überwachten Raum ist.


Einkaufspassagen fungieren wie Bahnhöfe und Fußballstadien als Laboratorien der Kontrolle gesellschaftlichen Lebens, in denen neue Formen der Überwachung eingeführt, getestet und verbessert werden.

'Das Labor für unkontrollierbare Situationen führt Tests durch, die einerseits die paranoiden Struktur des panoptischen Blicks der Videokameras spiegeln

- überall finden unerwartete Abweichungen statt -

andererseits etablieren die Tests eine von dem panoptischen Blick völlig unabhängige Logik -

Auf welches andere Ziel als Warentausch könnte dieses Traumschiff zusteuern?


Nach einigen Minuten des Umherschlenderns beginnt die Testreihe "Produktionsweise der Kontrolle". Hier scheint es darum zu gehen, eine unterschwellige Abweichung von der Normalität der in der Ähnlichkeit ihres Verhaltens stereotypischen, als Monaden persönlicher Wunscherfüllung jedoch stets asynchron auftretenden Kundschaft zu erzeugen. Mit gemeinsam ausgeführten Gesten wie dem Ausstrecken der rechten Hand nach einem Geländer, dem Ballen der Faust in der rechten Jackentasche oder dem Winken in den Raum wird die Ungleichzeitigkeit des Kundenstroms aufgehoben, und kaum merklich manifestiert sich ein dem Raum der programmatischen Vereinzelung fremdes Element gemeinschaftlichen Handelns.

Menschliche Geste in marmorner Hauslosigkeit - © 2008 by Schattenblick

Abb.: Menschliche Geste in marmorner Hauslosigkeit
© 2008 by Schattenblick


Nun wird die Abweichung dadurch verstärkt, daß die Akteure beginnen, andere Personen in ihren Bewegungen nachzumachen, ohne daß diese dies merken sollen. Die Erinnerung an berühmte Pantomimekünstler drängt sich auf, während das Radio von Pariser Flaneuren erzählt, die im frühen 19. Jahrhundert geschaffene Passagen als Theater zur Selbstinszenierung nutzten. Während es nicht immer leicht fällt, die Aktualität des Geschehens mit den Vorgaben des gesprochenen Textes in Übereinstimmung zu bringen, und sich durchaus Widerstand dagegen regt, den von der Fremdheit der Situation und Fülle der Eindrücke herausgeforderten Blick durch wenn auch andere, sich ihrerseits jedoch von außen aufdrängende Interpretationen vereinnahmen zu lassen, reizt die Aufgabenstellung zum Theater, zur Parodierung des vom Blendwerk der Waren und dem Versprechen auf Erfüllung in Beschlag genommenen Menschen.

Tatsächlich bleibt das Publikum, das die Europapassage der frühabendlichen Stunde gemäß nur dünn bevölkert, während der ganzen Aktion weitgehend so passiv, wie es zum Zwecke seiner Vereinnahmung von ihm erwartet wird. Vor allem jüngere Passanten und Paare nehmen das Geschehen amüsiert zur Kenntnis, offensichtlich erfreut darüber, daß die Monotonie des Ortes durch merkwürdige Begebenheiten unterbrochen wird. Da über hundert Akteure, die sich zur LIGNA-Aktion zusammengefunden haben, in etwa die Hälfte des Passagenpublikums ausmachen, können sie dem Blick der Observateure schon von ihrem Style and Fashion kaum kompatiblen Äußeren her nicht entgangen sein.

Dennoch wird das Wachpersonal erst 20 Minuten nach Beginn der Aktion sichtbar, es war, wie später zu erfahren ist, bis dahin durch einen Notfall gebunden. Zweifellos sind der Totalen des Kamerablicks schon die ersten gemeinsamen Bewegungen aufgefallen, was während der Haupteinkaufszeit nicht selbstverständlich gewesen wäre.

Ein weiterer Test, bei dem die Akteure sich gemeinsam den Schaufenstern zuwenden, eine Ware fixieren, den Blick beim weitergehen wieder zerstreuen, überprüft das Verhältnis des Kunden zur Ware. Die dabei aufgeworfene Frage, ob man überhaupt handelt oder lediglich die Stimme des Radios materialisiert, ist von so grundlegender Konsequenz, daß sie der genaueren Untersuchung bedürfte, was im Rahmen der Aktion nicht zu leisten ist. Dennoch ahnt man etwas von der Ambivalenz, die in dem Konsumappell, der eigenen Affinität zum Erwerb der Ware und dem Widerstand gegen die dadurch beförderte Vereinnahmung steckt.

Nun werden verschiedene Bewegungsformen - langsamer und schneller Gang, ein den Rhythmus des Gangs anderer Passanten aufgreifendes Schnippen mit den Fingern - ausprobiert, um die durch das Arrangement der Gänge und die darin verteilten Inseln der Pflanzen, Bänke und Schaukästen bedingte Konditionierung des Bewegungsverhaltens transparent zu machen. So wird die in der architektonischen Gestaltung des Raums verfestigte Einflußnahme unsichtbar bleibender Planer und Sozialingenieure sichtbar gemacht. Nun wendet sich die Aufmerksamkeit dem perfekt mit Marmorplatten gefliesten Boden zu.


Der Boden verleiht dem Raum seinen Charakter.

Je eleganter, desto teurer -

Ein gutes Mittel, um unerwünschte Personen fernzuhalten.

Wechselt nun euren Fokus und setzt eure Schritte so, dass ihr die Fugen zwischen den Marmorplatten nicht berührt - aber möglichst unauffällig!

Es gibt Firmen, die darauf spezialisiert sind, den Einfluss der Bodenstruktur auf die Geschwindigkeit des Gehens zu untersuchen.

Auf diesem Boden normieren sich die Gesten.

Die Normierung erzeugt eine Regelmäßigkeit, durch die Abweichungen erst als Anomalien auffallen - und als Einzelfälle pathologisiert werden können.

Der Tic, die Linien nicht berühren zu dürfen, wird nicht nur durch die regelmäßige Struktur des Boden selbst provoziert, sondern auch durch eine Lebensweise, die alle Bereiche zu ordnen und zu kontrollieren versucht.


Der Verweis auf die der baulichen Normierung immanente Gewalt und die Zwanghaftigkeit des Kontrollregimes erinnert daran, daß man es mit einem komplexen und durchdachten System der Zurichtung zu tun hat, das den Subjekten, die es umfaßt, um ihre Kaufkraft zu verstoffwechseln, alles andere als freundlich gesonnen ist. Diese Einsicht geht in dem unterhaltsamen Charakter der Aktion leicht unter, doch die zusehends nervös reagierenden Wachleute verhindern, daß man sich der Illusion hingibt, selbst bei völlig legalem Verhalten nicht Ziel der Verdächtigung und möglichen Maßnahme zu sein.

Zweckfreie Gesten verändern den Raum - © 2008 by Schattenblick

Abb.: Zweckfreie Gesten verändern den Raum
© 2008 by Schattenblick


Wie sehr gemeinschaftliches Handeln diesem System antagonistisch ist, zeigt auch der letzte Test zur "Produktionsweise der Kontrolle". In ihm geht es um das Verhältnis der Menschen zueinander, das dadurch überprüft wird, daß man sich fremden Passanten nähert und überprüft, wie weit man gehen kann, ohne das konventionelle Distanzgebot zu verletzten. "Kontrolle beginnt damit, die Menschen auseinanderzuhalten und zu vereinzeln", tönt es aus dem Radio wie zur Bestätigung des eigenen Unbehagens, das aufsteigt, wenn man dem andern zu nah auf den Leib rückt. Hier hat man es allerdings nicht nur mit einem Problem konsumtechnisch intendierter Vereinzelung zu tun, sondern der archaischen Konstitution des nicht umsonst mit Zähnen ausgestatteten Bioorganismus, dem die Flucht in den Raum so nahe wie der Zugriff auf den andern niemals fern ist. Die Einkaufspassage ist eben nicht nur ein Ort konsumistischer Performanz, sondern auch des ritualisierten Beutemachens, in dem der Mensch als von Not und Zwang befreites Wesen keinen Platz haben soll.

Sich zusammenzuschließen und die Distanz in einem produktiven Sinne zu überwinden ist desto mehr politische Praxis, als die administrative Beschränkung der Versammlungsfreiheit im öffentlichen Raum, im Fall der Einkaufspassage durch das Hausrecht, in Frage gestellt wird. So kommt mit der Anweisung, kleine Gruppen von bis zu fünf Menschen zu bilden, in Bewegung zu bleiben und sich wieder zu zerstreuen, die Ahnung auf, daß jede größere Ansammlung gemeinsam agierender Menschen entsprechende Reaktionen des Wachpersonals und eventuell herbeigerufener Sicherheitskräfte provozierte.


Dem panoptischen Blick den Spiegel vorhalten

Mit der nun beginnenden zweiten Testreihe zur "Produktion unkontrollierbarer Situationen" wird die Abweichung deutlicher konturiert, indem Bewegungen wie etwa das Ausbreiten der Arme auf Schulterhöhe oder das Ausstrecken eines Arms mit nach oben geöffneter Handfläche gemacht werden. Besonders auffällig machen sich die Akteure allerdings mit dem nächsten Test.


Wörtliche Rede wird an Orten wie diesen nur sehr begrenzt genutzt: im Verkaufsgespräch, der Anweisung des Wachmanns, dem privaten Austausch.

Die Logik des Warentauschs hat sich auf die Sprache
ausgeweitet:

Nur wenn man etwas zurück bekommt, darf man Worte äußern.

Menschen, die gegen diese Konvention verstoßen, werden aus der menschlichen Gesellschaft ausgeschlossen.

Kommunikation, die auf Zerstreuung beruht, ist selten. Ihre Effekte sind unbekannt.

Das Labor für unkontrollierbare Situationen bittet Euch, die Zerstreuung des Radios in der Europapassage hörbar zu machen.

Ein Sprechen im Schlaf - Traumformeln und Assoziationen, die sich nicht erklären.

Bitte sagt: (...)

Das Unerwartete ist überall.


Da einige der Akteure recht laut werden, ist die Passage plötzlich von Stimmen und Rufen erfüllt, die einen regelrechten Einbruch in das verhaltene, fast andächtige Geräuschniveau dieser Kathedrale des Konsums darstellen. "Das Unerwartete ist überall" - die Feststellung verifiziert sich durch ihre akustische Manifestation. Es herrscht eine Stimmung von Beunruhigung, die Wachleute sind alarmiert und werden in ihrem eher hilflosen Aktionismus noch hektischer als zuvor.

Viel Platz für raumgreifende Bewegung - © 2008 by Schattenblick

Abb.: Viel Platz für raumgreifende Bewegung
© 2008 by Schattenblick


Nachdem dieser Eklat vorüber ist, wird mit der Über- und Unterschreitung der durchschnittlichen, recht einheitlich ausfallenden Gehgeschwindigkeit der Passanten das Verhältnis von Eigenbewegung zur architektonisch determinierten Taktung des Kundenstroms und zur Aufmerksamkeitsbindung der Warenangebote überprüft. Es zeigt sich schnell, daß die sich im baulichen Arrangement, dem Design der Waren und dem Ensemble der Auslagen artikulierenden Handlungsanweisungen unbedingt der mit ihnen korrespondierenden Bereitschaft des Passanten bedürfen, sich zum vermeintlich eigenen Nutzen auszuliefern. Die Negation des konsumistischen Zugriffs wird durch den vom Radio vorgegebenen Beat verstärkt, und man könnte den Effekt weiter steigern, indem man beim Gehen ganz auf die Füße kommt und die sinnliche Bindung an die Umgebung dadurch noch weiter zurücknimmt. Den in seiner produktiven und reproduktiven Verfügbarkeit total vergesellschafteten Körper noch vor der Rückeroberung der Straße in einen nicht mehr fremdbestimmten Umgang zu überführen könnte Anlaß zu weitergehenden Schlußfolgerungen sein.

Ein besonders frappanter, da dem panoptisch kontrollierten Raum so kontraproduktiv wie nur denkbarer Test besteht in der Aufforderung, sich ein Versteck zu suchen, mit dem man sich den meisten Blicken entziehen kann.


Die Architektur der Passage empfiehlt:

Ein jeder sei der Gefängniswärter seines Nächsten.

Die Passage eröffnet eine Bühne, auf der die BesucherInnen sich gegenseitig das Schauspiel der immer gleichen sozialen Konventionen aufführen.

Die Passage ist eine Fabrik. Sie produziert konforme Gesten und Subjekte.

Und für die, die abweichen, gibt es immer noch das Gefängnis.


Der vergebliche Versuch, sich zu entziehen, schärft den Blick für die streng zweckbezogene Konstruktion der Passage. Sie schafft eine Öffentlichkeit, die den Zweck der Anwesenheit vorgibt und seine Einlösung am Verhalten des einzelnen stets überprüfbar ist. Der Passant ist sich der permanenten Überwachtheit bewußt, und das nicht nur durch die Kameras und Augen des Sicherheitspersonals, sondern auch die Verkäufer in den Läden. Diese halten sich zwar eher im Hintergrund des Ensembles aus Verkaufstischen und Präsentationsflächen auf, um dem potentiellen Kunden einen Raum zu öffnen, den er gerne betritt. Ihre Präsenz ist jedoch stets spürbar, soll sie doch die Legalität einer Aneignung sicherstellen, die auch ohne Einhaltung der Regeln des Tauschs zu vollziehen wäre.

Dementsprechend wenig Akteure haben versucht, sich in den Läden ein Versteck zu suchen. Die Schwelle zu den Verkaufsräumen wird im Bewußtsein der eigenen Abkoppelung von der dort ausgebreiteten Zweckrationalität eher höher, es handelt sich quasi um Innenräume im Innenraum der Passage, die nur zu betreten hat, wer auch bereit ist, auf den intentierten Tausch einzugehen.

Turmbau als Parodie auf das neue Babylon - © 2008 by Schattenblick

Abb.: Turmbau als Parodie auf das neue Babylon
© 2008 by Schattenblick


Um so unterhaltsamer gestaltete sich die nun folgende Aktion des Plazierens von Zuckerwürfeln, die die Akteure zusammen mit den Radiogeräten erhalten hatten. Indem man diese an funktional eindeutig definierten Stellen auslegte und im Vorbeigehen kleine weiße Türme entstehen ließ, materialisierte sich ein dem geordneten Verlauf völlig fremder Gedanke.


Die Assoziation der RadiohörerInnen manifestiert sich in kleinen, stummen Objekten.

Ihre Vermehrung ist unvorhersehbar, ihre Verteilung im Raum für niemanden planbar.

Ihr Auftreten unkontrollierbar.

Zerstreute sinnlose Geschenke, nach denen niemand gefragt hat.

Unverständliche Signale an eine Welt, in der alles seinen Platz hat.


Auch angesichts des nun ärgerlich werdenden, zu Platzverweisen ausholenden Wachpersonals lief die Aktion allmählich ihrem Ende entgegen. Dem performativen Anspruch des Radioballetts wurde mit einer Tanzeinlage Genüge getan, die die Gänge der Europapassage durch die ihnen besonders wesensfremde Bewegung um sich selbst oder den andern kreisender Körper, die sich in Freude an dieser ungeordneten Bewegung offenkundig selbst genügten, in eine Bühne verwandelte, die von der Aufmerksamkeitsbindung der sie säumenden Schaufenster nichts übrigließ.

Begleitet von einem Text voller nachdenklicher Reminiszenzen an diesen Ort aus der Sicht einer unbestimmten Zukunft bewegten sich die Akteure rückwärts gehend auf die Ausgänge zu, durch die sie die Passage betreten haben.


Wofür wird der Name der Passage in Zukunft stehen? 2: Welcher zukünftige Gebrauch wäre von diesem Ort zu machen?

Die Passagen des 19. Jahrhunderts waren Rückstände einer Traumwelt. Wie der Traum hüllten sie das Allerneueste in altbekannte, vertraute Formen.

Die Europapassage versucht den Weg in diese längst vergangene Traumwelt zu bahnen.

Jeden Abend, wenn sie sich schlafen legt, träumt sie von der großen Zeit der Passage.

Träumt davon, sündhaft teure Luxusartikel für eine ausgewählte Kundschaft in sich zu beherbergen.

Träumt von Armani und Gucci, die es an den Neuen Wall statt hierher verschlagen hat.

Verlasst die Passage rückwärts gehend.

Jede Epoche träumt ja nicht nur die nächste sondern träumend drängt sie auf das Erwachen hin.

Schreckt sie nicht auf!

Sie trägt ihr Ende in sich und entfaltet es mit List. Mit der Erschütterung der Warenwirtschaft beginnen wir, die Monumente der Bourgeoisie als Ruinen zu erkennen noch ehe sie zerfallen sind.

Das Labor für unkontrollierbare Situationen dankt Euch herzlich für Eure Teilnahme.


Nachbetrachtung

In der Auswertung des Radioballetts, die im Anschluß an den Besuch der Europapassage in der Hochschule für Bildende Künste stattfand und bei der rund ein Drittel der Teilnehmer zugegen war, ließen die Veranstalter der Aktion vor allem die Akteure zu Wort kommen. Die drei Radio- und Performancekünstler Ole Frahm, Michael Hüners und Torsten Michaelsen, die seit 1995 die Gruppe LIGNA bilden und unter diesem Namen Medienkunst betreiben, tun dies, wie die über das Radio vermittelten Hintergrundinformationen zum Thema der Einkaufspassagen ahnen ließen und wie im Internet nachzulesen ist (www.ligna.blogspot.com), durchaus im Rahmen einer kunst- und radiotheoretischen Konzeption. In der Auswertung der Aktion ging es jedoch vor allem darum, was die Teilnehmer des Labors für unkontrollierte Situationen an Einsichten und Erkenntnissen gemacht hatten und was sie dazu kritisch anmerken wollten.

So gaben die Reaktionen des Wachpersonals, das vergeblich versucht hatte, einzelne Teilnehmer der Passage zu verweisen, auf das Radioballett Anlaß, über die rechtliche und politische Dimension von Aktionen in einem Raum, in dem ein Privatunternehmen Hausrecht hat, zu sprechen. Der schleichende Charakter der Privatisierung öffentlicher Räume zeigte sich auch darin, daß sich nicht jeder Teilnehmer bewußt war, daß man es hier mit zweierlei Rechtssituationen zu tun hat.

Kontrovers diskutiert wurde die Frage, ob eine über das Radio - über das, wie die Veranstalter betonten, keine Anweisungen, sondern Empfehlungen vermittelt würden - organisierte Aktion überhaupt ein System unterlaufen könnte, dem Kaufanweisung und Verhaltensdiktat wesentlich sind. Sicherlich ging es beim Labor für unkontrollierbare Situationen nicht darum, sich den Handlungsempfehlungen zu fügen, zumal man es schlicht unterlassen konnte, sich an den auf diese Weise synchronisierten Bewegungen zu beteiligen. Zweifellos hat aber auch jeder Teilnehmer gespürt, welches Potential darin liegt, gemeinsam aufzutreten und zu handeln. Von daher leitet die Frage des organisierten Tuns unmittelbar zum Verhältnis des gesellschaftlichen Subjekts zu der es konditionierenden und atomisierenden Verfügungsgewalt über. Hier wäre zu fragen, in welchem Ausmaß sich über kollektives Handeln Zwecke und Ziele fremdnützigen Charakters vermitteln respektive das gemeinsame Ganze Ausdruck und Erweiterung des individuellen Anliegens sein kann.

Wie sehr der Mensch ein soziales, stets aufeinander bezogenes Wesen ist, das konnte bei dem Radioballett exemplarisch studiert werden. Auch wenn die Passanten, die lediglich zum Einkaufen oder Flanieren in die Europapassage gekommen waren, kaum durch von der initiierten Norm abweichendes Verhalten in Erscheinung traten, so waren sie sichtbar von dem Geschehen in Anspruch genommen. Sich unter dieser Bedingung dem wohligen Gefühl eines bevorstehenden Kaufaktes hinzugeben dürfte kaum noch möglich gewesen sein.

Obwohl die gemeinsam aufgeführten Bewegungen nicht einmal besonders präzise aufeinander abgestimmt waren, förderten sie eine Effizienz zutage, die ahnen läßt, wie leicht sich die urbane Maschine mit Hilfe geringfügiger Manipulationen aus dem Takt ihrer Prozeßlogik bringen läßt. So wirkte es nach dieser Erfahrung durchaus plausibel, daß eine präzise aufeinander abgestimmte Choreographie mit unterschwelligen, für andere kaum wahrnehmbaren Abweichungen die stets gegebene Bezugnahme auf den anderen Menschen so okkupieren kann, daß es zu einer Unterbrechung der ansonsten gut geschienten Abläufe und Verrichtungen käme.

Die Frage der Kontrolle stellt sich nicht nur hinsichtlich des Anspruchs der administrativen Apparate und warenförmigen Zurichtung, den Menschen so fugenlos in die Gesellschaftsmaschine einzubinden, daß selbst die Erinnerung daran, es könnte andere Zwecke und Ziele als deren störungsfreies Funktionieren geben, einen zu eliminierenden Störfaktor darstellt. Sie wird auch angesichts des Unvermögens aufgeworfen, den angeblich eigenen Körper, vom Zugriff der kapitalistischen Verwertung und medizinaltechnokratischen Zurichtung unbeschadet, in einen physischen Gebrauch zu überführen, dem nichts Fremdes mehr anhaftet.

Das Labor für unkontrollierbare Situationen bietet allemal Anlaß für Überlegungen, mit denen das Thema gesellschaftlicher und sozialer Kontrolle fruchtbar gemacht werden kann. Wie wichtig dies ist, bedarf keiner weiteren Bekräftigung, wenn man in der Europapassage erlebt, daß ein noch so perfekt inszenierter Traum vom Glück gelungener Aneignung den Körper nicht von den ihn bedingenden Zwängen zu befreien vermag. Ob der harte Boden, auf dem er mit jedem Schritt aufschlägt, nun aus dem Sand eines Feldwegs, dem Asphalt einer Autostraße oder dem Marmor einer Einkaufspassage besteht, immer bleibt die Vision, wie bunt und verlockend sie auch erscheinen vermag, an die materielle Realität einer Physis gebunden, deren Verfügbarkeit aus der stofflichen Bindung an Ressourcen aller Art resultiert. Der Augenblick des Glücks, der glitzernden Verheißung des Warenfetischs teilhaftig geworden zu sein, ist ein Moment vollständig kompensierter und damit ungreifbar gewordener Ohnmacht. Dieser eine kunstvolle Handlungsweise abzuringen, die im umfassenden Verkehr kulturindustrieller Verwertung noch nicht verbraucht wurde und von der damit bewirkten Neutralisierung emanzipatorischen Denkens nicht zu treffen ist, könnte Passagen eröffnen, in denen der Mensch kein Partikel übergeordneter Interessen mehr ist und jeder Schritt zum Abenteuer wird.



(Der über das Radio empfangene Text wurde dem Schattenblick freundlicherweise von LIGNA zur Verfügung gestellt. Es handelt sich um eine vorläufige Version, die von dem letztlich gesprochenen Text teilweise abweicht. Die zitierten Auszüge wurden von vier Sprecher/innen präsentiert, die den Text abwechselnd - hier markiert durch einzelne Absätze - verlasen.)

1. Dezember 2008