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BERICHT/017: Führt Deutschland Krieg in Afghanistan? - Weltgeschichtliche Betrachtung (SB)


Veranstaltung des German Institute of Global and Area Studies (GIGA)
und des Vereins Geschichte des Weltsystems am 9. September 2009 in Hamburg

Helmut Stubbe da Luz, Wolfgang Schulenberg, Norman Paech, Moderator Hein

Helmut Stubbe da Luz, Wolfgang Schulenberg, Norman Paech, Moderator Hein
© 2009 by Schattenblick

Angesichts der aktuellen Kontroverse um das Engagement der Bundeswehr am Hindukusch hätte die in der Themenstellung aufgeworfene Frage, ob Deutschland Krieg in Afghanistan führt, gerade im Kontext einer weltgeschichtlichen Betrachtung brisanter und für den künftigen Kurs deutscher Politik relevanter kaum sein können. Verfolgt man das bizarr anmutende Gezänk der Alliierten um angebliche Fehler beim jüngsten Luftangriff mit seinen zahlreichen Opfern, drängt sich der Verdacht auf, man lausche derzeit einer Ouvertüre wechselseitiger Bezichtigung, die nur dem einen Zweck dient, der Arie massiver Aufstockung des deutschen Kontingents nach der Bundestagswahl den Boden zu bereiten. Daß sich Militärs und Politiker in diesen Konflikt hineinziehen lassen, ist eine Interpretation, die man dieser Tage häufig zu hören bekommt. So düster die naheliegenden Parallelen zu Vietnam anmuten mögen, würde dieses Szenario noch von den furchterregenden Konsequenzen einer Analyse übertroffen, die von einer strategisch konzipierten und in taktischen Etappen durchgesetzten deutschen Kriegsbeteiligung ausgeht. Ob es sich um einen aus deutscher Perspektive ungewollten und auf dem Wege der Einsicht noch abzuwendenden vollständigen Kriegseinsatz oder im Gegenteil um die systematische Herbeiführung desselben unter gezielter Täuschung der hiesigen Bevölkerung handelt, ist in der Tat ein grundsätzlicher Unterschied.

Will man sich nicht im Labyrinth tagesaktueller Wirren verlaufen und dem Trommelfeuer einer mediengenerierten öffentlichen Meinung erliegen, bedarf es einiger grundlegender Klärungen. Auf ihre fundamentalste und zugleich wirkmächtigste Bedeutung zurückgeführt, stellt überlegene Waffengewalt die Ultima ratio und somit unabdingbare Voraussetzung der strategischen Herrschaftssicherung dar, die ökonomischen Entwürfen und politischen Konzepten zur Durchsetzung verhilft. Unter dem Primat eigenen Überlebens auf dem höchstmöglichen Niveau bricht sie der ausschließlichen Logik raubgestützter Verelendung einer Mehrheit der Menschheit Bahn, die in den Dienst des Fortbestands elitärer Entitäten gepreßt wird, die über die Zwangsmittel zur Durchsetzung ihrer Interessen verfügen. Erklärungsansätze wie "Krieg ums Öl" oder "geopolitische Intervention" greifen zu kurz, da sie hinter dem Entwicklungsstand der Auseinandersetzung zurückbleiben und den Charakter der angestrebten ultimativen Weltordnung im Sinne einer unumkehrbaren Herrschaft nicht zu prognostizieren vermögen. Auf ein sofort verständliches und dennoch nicht unzulässig verkürztes Bild gebracht, geht es längst darum, in einer Welt ohnehin unzureichender und überdies dramatisch schwindender Sourcen des Überlebens wie Luft, Wasser und Nahrung die Versorgung der Wenigen auf eine Weise administrativ zu sichern, die einem letztgültigen Entwurf gesellschaftlicher Organisation gleichkommt.

Deutschland wurde nach seiner Niederlage im Zweiten Weltkrieg nicht im Sinne des Morgenthauplans auf das Niveau eines reinen Agrarlands gedrückt, sondern mit Hilfe des Marshallplans in seinem Westteil zu einem Verbündeten im Kampf der Systeme aufgerüstet. Dies erlaubte es der Bundesrepublik, sich dem größten Räuber erfolgreich als Juniorpartner anzudienen, wodurch ihm beträchtliche Anteile der Beute zufielen. Dennoch ist Deutschland bis heute ein besetztes Land, dessen eigentliche Herren keinen Augenblick zögern würden, einen drohenden Systemwechsel durch eine militärische Intervention abzuwenden. Zwangsläufig blieb die deutsche Wiederbewaffnung ein heikles Thema, da die Verwandlung des kriegsschuldtragenden Saulus zum geläuterten Paulus eines komplexen ideologischen Umgestaltungskomplexes bedurfte, der noch längst nicht abgeschlossen ist. Aus dieser historischen Sonderrolle abzuleiten, die Bundeswehr sei eine Friedensarmee, hieße Zwischenetappen und insbesondere den sie flankierenden Propagandakampagnen auf dem Leim zu gehen.

Wie alle heiligen Schwüre war auch jener, von deutschem Boden dürfe nie wieder ein Krieg ausgehen, bereits die erste Lüge auf dem Wege künftiger Militarisierung. Die Wiederbewaffnung war die logische Konsequenz der Staatsgewalt, zumal die Partnerschaft im Nordatlantischen Pakt dies auf Dauer geradezu erzwang. Stets richtete sich die Waffengewalt sowohl gegen die potentielle Revolte im Innern als auch gegen den Systemfeind von außen, was sich nur befristet als nicht eingetretener Notstand und ausgebliebener Verteidigungsfall interpretieren ließ. Wenn heute der Einsatz der Bundeswehr im eigenen Land wie auch im fernen Jugoslawien, Kosovo, Kongo und Afghanistan legalisiert wird, ist das zweifellos eine innovative Stufe exekutiver Zugriffsgewalt, die sich jedoch nur im Kontext des angedeuteten Prozeßverlaufs angemessen entschlüsseln läßt.

Folglich ist die analytische Einbettung des Auslandseinsatzes der Bundeswehr in den weltgeschichtlichen Kontext ein hochaktuelles und innen- wie außenpolitisch zentrales Thema angesichts deutschen Strebens, sich im Weltmaßstab nicht nur auf der Siegerseite zu positionieren, sondern darüber hinaus dort auf zentrale Entscheidungsprozesse Einfluß zu nehmen. Kontroversen sind in der Diskussion um wesentliche Aspekte dieses Komplexes nicht nur unvermeidlich, sondern absolut wünschenswert, zumal die Kriegsbeteiligung im Vorfeld der Bundestagswahl eine bemerkenswert geringe Rolle in der Meinungsbildung spielt. Dies hängt zum einen mit der Medienkampagne zusammen, Kriegsgegner wie insbesondere die Linkspartei weitgehend auszublenden, und ist zum andern angesichts wachsender Verelendung weiter Teile der Bevölkerung nur zu verständlich, deren alltägliche Sorgen immer erdrückender werden.

© 2009 by Schattenblick

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Man hätte sich unter diesen Umständen bei der GIGA-Veranstaltung eine lebendige Streitkultur gewünscht, die drängende Fragen aufgeworfen und weiterentwickelt, ja sie womöglich sogar auf die eine oder andere Weise über den Ort der Zusammenkunft und den Kreis der Teilnehmer hinauszutragen geeignet gewesen wäre. Stimmen der Betroffenheit, des Engagements oder auch der Ablehnung klangen durchaus an, doch fanden sie nur ungenügende Entsprechung in einem Vortragskonzept, das eher den gesetzten Rahmen einer Bildungsveranstaltung vorgab, als ein direktes Wechselspiel von Rede und Widerrede zu befördern. Dem Völkerrechtler und Bundestagsabgeordneten der Linkspartei Norman Paech als Referenten waren auf dem Podium zwei Kommentatoren an die Seite gestellt, die somit weniger für die Präsentation einer entsprechend ausgearbeiteten Gegenposition vorgesehen waren, als daß sie mit Einwänden oder Ergänzungen dem Vortragenden Stichworte liefern sollten. Während Paech seine Argumentation souverän darlegen konnte, was angesichts ihres Inhalts zu begrüßen war, kam der Kontrapunkt als Geburtshelfer einer Weiterentwicklung der Fragestellung zu kurz.

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Helmut Stubbe da Luz, der an der Hamburger Bundeswehrhochschule lehrt und als Vorsitzender des Vereins "Geschichte des Weltsystems" Mitveranstalter war, hob die Bedeutung des weltgeschichtlichen Blickwinkels hervor und regte eine genaue begriffliche Klärung bei der Unterscheidung von humanitärer Intervention einerseits und Kriegführung andererseits samt den jeweils daraus erwachsenden Maßgaben an. Leider beließ er es bei diesen Hinweisen, so daß die sicher anregende und möglicherweise auch kontroverse inhaltliche Debatte mit Norman Paech diesbezüglich unterblieb.

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So fiel der antithetische Gegenpart Wolfgang Schulenberg zu, der im Rang eines Hauptmanns der Bundeswehr die Funktion eines Inspektionschefs in der Luftwaffe bekleidet und dank seines Einsatzes in Afghanistan insbesondere aus Sicht eines betroffenen Soldaten berichten konnte. Da er kurzfristig für den ursprünglich vorgesehenen Kommentatoren eingesprungen war, mußte er aus dem Stegreif argumentieren, was ihm durchaus mit Verve und nicht ohne manchen Seitenhieb gegen Norman Paech gelang. Auch wenn dies natürlich keine offizielle Darstellung seitens der Bundeswehr sein konnte, zeichneten sich doch wesentliche Argumente aus militärischer Sicht deutlich ab.

© 2009 by Schattenblick

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Norman Paech untermauerte in seinem Vortrag die Forderung nach einem Rückzug aus Afghanistan, wobei er aus der Fülle der ihm zu Gebote stehenden Gründe auf Expertenwissen voraussetzende Gesichtspunkte verzichtete und sich auf unmittelbar nachvollziehbare und schlagkräftige Argumente konzentrierte. Die Alliierten haben seines Erachtens in den zurückliegenden acht Jahren bereits eine ganze Reihe von Niederlagen erlitten, denen man nicht noch weitere Fehlschläge hinzufügen sollte. So ist der Widerstand in einem Maße gewachsen, daß man angesichts diverser darin aktiver Fraktionen inzwischen nicht mehr nur von Taliban, sondern allgemein von Insurgenten spricht. Verstärkte Präsenz der Besatzungstruppen und insbesondere steigende Opferzahlen in der Bevölkerung speisen die Gegenwehr, die heute stärker denn je in Erscheinung tritt.

Nachdem die NATO eine sichere Durchführung der Wahl zu einer ihrer wichtigsten Aufgaben erklärt hatte, kann man die massive Fälschung des Ergebnisses nur als Scheitern auf ganzer Linie bezeichnen. Obgleich von den 28 Millionen Einwohnern des Landes 60 Prozent jünger als 18 Jahre sind, wurden 17 Millionen Wahlscheine ausgegeben. Als die Wahlbeteiligung dann bei unter 30 Prozent lag, was statistisch gesehen als aussagelos gilt, reduzierte man die offizielle Zahl der Wahlberechtigten auf 15 Millionen, um die Beteiligung mit diesem Trick in den Bereich des Relevanten zu rücken. Zudem sind zahlreiche massive Fälschungen dokumentiert: Vielerorts gab es mehr Stimmen als Wähler, Urnen wurden vorab oder nachträglich gefüllt, kaum oder gar nicht frequentierte Wahllokale produzierten unmögliche Resultate, diverse Absprachen zwischen dem Lager Karsais und lokalen Machthabern sind bekannt. Der Wahlsieg Karsais ist somit eine Farce, die nahezu unlösbare Legitimationsprobleme schafft. Zudem wies Paech dezidiert darauf hin, daß schon 2004 zum überwiegenden Teil Warlords, Drogenhändler und andere Kriminelle in hohe Ämter gewählt wurden, was auch beim aktuellen Urnengang nicht anders sei.

Acht Jahre Krieg haben demzufolge nicht nur das Ausmaß an Gewalt und Not gesteigert, sondern auch die Korruption massiv gefördert. Dabei wies der Referent darauf hin, daß dieses Phänomen nur zwischen Armut und Reichtum auftreten kann, wobei letzterer in beträchtlichem Ausmaß vom Westen gespeist wird, der damit das System subventioniert, welches er in offiziellen Verlautbarungen kritisiert. Von den eingehenden Hilfsgeldern fließen 20 Prozent an die Taliban und 30 Prozent an die lokalen Kriegsherrn, so daß mit der Hälfte dieser Zahlungen die Korruption auf hohem Niveau gehalten wird. Und nicht zuletzt sei Afghanistan auf Grund eines totalen Zerfalls seiner Souveränität ein Vasallenstaat Washingtons, wie dies auch für den Irak gelte.

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Ein verheerendes Bild zeichnete Norman Paech auch von den bedrückenden sozialen Verhältnissen im Land. So müssen nach Angaben der WHO 54 Prozent der Großfamilien mit weniger als 100 US-Dollar im Monat auskommen, über 50 Prozent der Kinder sind unterernährt, 31 Prozent der Bevölkerung können sich trotz bitter kalter Winter kein Heizöl leisten, nur 25 Prozent haben Zugang zu Trinkwasser, so daß nach acht Jahren angeblichen Wiederaufbaus 25mal mehr Menschen der Armut als dem Krieg zum Opfer fallen.

Obgleich die Resultate desaströs sind, wird die Besatzung unter enormem finanziellen Aufwand fortgesetzt. Daß man Afghanistan im westlichen Sinn demokratisieren könne, hat selbst US-Präsident Obama inzwischen verworfen. Auch das Argument gestärkter Menschenrechte darf man getrost bezweifeln, da beispielsweise die Situation der Frauen heute schlechter als Anfang der 1970er Jahre ist. Abgesehen davon sei die Lage von Frauen in mindestens elf anderen Ländern wie etwa Saudi-Arabien genau so schlecht, ohne daß dies westliche Regierungen je interessiert hätte. In Bagram, dem zentralen Stützpunkt der US-Streitkräfte, werden noch immer rund 650 "Terrorverdächtige" festgehalten und gefoltert. Spreche man mit Afghanen, bekomme man Bagram als einen der geläufigsten Gründe erbitterter Ablehnung des Besatzungsregimes zu hören. Und selbst das Argument, man gehe in diesem Land gegen "Terroristen" vor, bröckelt in Kreisen der alliierten Mächte. Osama bin Laden - falls er überhaupt noch leben sollte - hält sich heute vermutlich im Norden Pakistans auf, wobei man inzwischen auch offiziell von einer hohen Mobilität der meistgesuchten Gegner ausgeht, die eine Besetzung ganzer Länder unter diesem Vorwand illusorisch macht. Selbst große regionale Konferenzen wie die von Delhi kamen zu dem Schluß, daß die Quelle des "Terrors" in jenen Ländern zu verorten sei, die zuvor von den USA überfallen wurden.

Aus der Weltperspektive zeichne sich ab, was in Afghanistan tatsächlich auf dem Spiel steht, schlug Norman Paech an dieser Stelle seines Vortrags einen großen Bogen. Die USA nähmen samt den übrigen NATO-Staaten eine Neuvermessung der Kolonien vor, die auf einer geostrategischen Sicherung ihrer Wirtschaftsinteressen gründe. Wenngleich Afghanistan selbst von der Uranförderung abgesehen keine nennenswerten Ressourcen liefere, sei es doch hinsichtlich der Energiesicherung von zentraler Bedeutung in dieser Region. Die zentralasiatischen Staaten verfügen demnach über 6 bis 7 Prozent der weltweit bekannten Vorräte an Öl und Gas, für deren Transfer die Kontrolle Afghanistans von besonderer Wichtigkeit sei.

Anders als die Imperien der Vergangenheit beherrscht die Weltmacht USA nicht nur alle Meere, sondern mittels ihrer amphibischen Optionen auch die Küsten. Zahlreiche Staaten stehen in mehr oder minder tiefgreifender Abhängigkeit von der Regierung in Washington, die weltweit über 860 Stützpunkte gebieten kann, davon nicht weniger als 60 in Deutschland. Daß die Dominanz der USA ein Segen für die Welt sei, wie dies Samuel Huntington formuliert hat, muß zwangsläufig bezweifelt werden, wenn man sich allein die Entwicklung in Afghanistan vor Augen hält. Diese wird inzwischen selbst von konservativer und keinesfalls pazifistischer Seite mit Vietnam verglichen, wofür nicht zuletzt die fortgesetzte Truppenaufstockung spricht. Während die Sowjetarmee mit maximal 120.000 Soldaten am Hindukusch gescheitert ist, tendieren Prognosen der erforderlichen aktuellen Mannschaftsstärke der Alliierten inzwischen zu 600.000 Mann als Voraussetzung der dann angeblich möglichen Kontrolle des Landes.

© 2009 by Schattenblick

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Um eine naheliegendere Konsequenz aus dem Vietnamkrieg zu ziehen, zitiert Norman Paech den früheren US-Außenminister Robert McNamara, der in späteren Jahren elf Gründe für den Abzug aus Vietnam zusammengefaßt hat. Diese Liste beginnt mit einer Fehleinschätzung der politischen Kräfte und des Nationalbewußtseins, sie setzt sich über Irrtümer bei der Unterscheidung von Freund und Feind, die Grenzen moderner Streitkräfte und den asymmetrischen Charakter dieses Krieges fort und endet nicht vor der Erkenntnis, daß man Herz und Verstand der vietnamesischen Bevölkerung nicht erreicht habe. Diese Gründe ließen sich gleichermaßen auf den Afghanistankrieg anwenden, argumentierte Paech, der zum Abschluß Maximilian Robespierre aus dem Jahr 1793 mit den Worten zitierte, es sei eine wunderliche Idee im Kopf eines Politikers, mit Waffengewalt in ein anderes Land einzudringen, um die dort lebenden Menschen zu bekehren.

Nachdem Norman Paech für seinen Vortrag den gebührenden Applaus bekommen hatte, faßte Wolfgang Schulenberg die Einschätzung aus Sicht des Bundeswehroffiziers zusammen. Er könne die Schilderung der Verhältnisse in Afghanistan durchaus mittragen, teile aber die Folgerungen des Referenten nicht. Niemand habe einen Sieg in militärischer Hinsicht versprochen, und man riskiere als Soldat sein Leben für die Stabilisierung der Verhältnisse. Das Problem konzentriere sich vor allem auf die paschtunische Bevölkerung, die gleichermaßen in den angrenzenden Regionen Pakistans lebe. Nach dreißig Jahren Krieg habe man es mit einer Generation zu tun, der Frieden völlig unbekannt sei. Schulenberg schätzte die Unterstützung der Taliban in der paschtunischen Bevölkerung lediglich auf fünf Prozent ein, doch warnte er andererseits davor, die von ihnen ausgehende Gefahr unterzubewerten. Da man es mit einem zerfallenen Staat zu tun habe, in dem eine einheitliche Staatsgewalt kaum zu erreichen sei, könne man nicht westliche Systeme exportieren, um einen Rechtsstaat zu schaffen.


© 2009 by Schattenblick

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Schulenberg attestierte Deutschland eine eher kritische Haltung hinsichtlich des Engagements in Afghanistan, wofür er auch die Position der rot-grünen Bundesregierung zum Irakkrieg anführte. Erst als das Kind in den Brunnen gefallen sei, habe man sich auf ausdrücklichen Wunsch der afghanischen Regierung bereiterklärt, zum Wiederaufbau des Landes beizutragen. Bei dieser Doppelstrategie von militärischer Präsenz und Aufbauhilfe könne man nicht auf die traditionellen humanitären Regeln und Konventionen zurückgreifen, sondern müsse gemäß den Rules of Engagement handeln. Wünschenswert sei insbesondere eine stärkere Unterstützung der Soldaten in der Bevölkerung.

Norman Paech unterstrich in einer Erwiderung, daß es sich durchaus um einen Krieg handelt. Das humanitäre Völkerrecht sei seit 1977 nicht mehr auf Kriege zwischen Staaten beschränkt, sondern schließe in zwei Protokollen zu den Genfer Konventionen asymmetrische Konflikte ein. Es sei durchaus modern und heute nach wie vor anwendbar. Im Falle des Jugoslawienkriegs wurde die Bombardierung eines souveränen Staates völkerrechtswidrig mit dem Scheinargument einer humanitären Intervention gerechtfertigt. Diese Pseudobegründung habe abgewirtschaftet und sei heute schlechterdings nicht mehr möglich. Wer im Falle Afghanistans von Stabilisierung oder vergleichbaren Konstrukten spreche, um alle Zeichen eines ausgewachsenen Krieges zu ignorieren, sei an die klassische Aussage Cäsars erinnert, daß es zwischen Krieg und Frieden kein Drittes gebe.

Die daran anschließende erste Diskussionsrunde wurde bedauerlicherweise in Gestalt einer Fragensammlung durchgeführt, was mit dem Ausschluß einer direkten Abfolge von Rede und Widerrede einhergeht und daher eine regelrechte Debatte zu zentralen Aussagen und Einschätzungen erschwert bis unmöglich macht. Da die gestellten Fragen und vorgetragenen Meinungen in einer solchen Sammlung entufern, können sie hier nur andeutungsweise wiedergegeben werden. Deutlich wurde indessen rasch, daß die Thematik viele Teilnehmer dieser Veranstaltung persönlich berührte, zumal sich Afghanen und Iraner im Publikum befanden und zu Wort meldeten. Vereinzelt kam es auch zu Anwürfen gegen Norman Paech, die der Linkspartei insgesamt galten und nichts zur Debatte beitrugen. Daß Fragen nach den eigentlichen Kriegszielen aufgeworfen wurden, die geostrategischen Dimensionen betont wurden, die fragwürdige Rolle Deutschlands verurteilt und ein noch kritischerer Umgang mit dem Thema angemahnt wurde, dokumentierte das Engagement und den Kenntnisstand in diesem Plenum.

© 2009 by Schattenblick

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Zwangsläufig konnte Norman Paech nur zusammenfassend auf die angesprochenen Aspekte eingehen und bestätigte natürlich, daß ein geostrategischer Erklärungsansatz dieses Konflikts auch Rußland, China und Indien einbeziehen müsse, wie insbesondere der Iran als letzter verbliebener ressourcenreicher, intakter und wehrfähiger Staat dieser Zwischenregion von einem Angriff bedroht sei. Funktioniere die Übertragung des westlichen Systems auf Länder wie Afghanistan nicht, bemühe man plötzlich wieder zuvor verworfene Traditionen der Entscheidungsfindung oder Organisation von Macht, um darüber die angestrebte Legitimation der Besatzung zu erwirtschaften. Daß man sich nicht zurückziehen könne, ohne unweigerlich ein Chaos zu hinterlassen, sei das alte Argument der Kolonialmächte. Daß die Dekolonialisierung von Gewalt begleitet werde, sei in erster Linie eine Fortsetzung der Gewalt der Kolonialzeit. Wenn man daher einen Ausstieg in Afghanistan zum gegenwärtigen Zeitpunkt ablehne, müsse man sich fragen lassen, was an einem Rückzug nach zehn oder zwölf Jahren Krieg besser sein soll. Die militärische Intervention sei ebenso gescheitert wie die zivile, da die Präsenz einer ausländischen Streitmacht die Hilfsdienste unvermeidlich infiziere und deren Engagement untergrabe.

Darauf wußte Wolfgang Schulenberg nur zu erwidern, daß Afghanistan seines Erachtens durchaus eine eigenständige Entwicklung nehmen könne, ein Rückzug jedoch erst dann in Betracht komme, wenn er nicht vom "Terrorismus" bestimmt werde. Er beharrte darauf, daß es sich beim Engagement der Bundeswehr nicht um eine Besatzung handle, da deutsche Hilfe bei der Petersberger Konferenz von der afghanischen Übergangsregierung erbeten worden sei. Mit dieser Aussage zog er sich auf den offiziellen Begründungszusammenhang zurück, der freilich unterschlägt, daß die von den USA installierte Marionettenregierung in Kabul zwar ein mehr oder minder brauchbares Instrument interventionistischer Interessen, doch keinesfalls eine legitim zu nennende Repräsentanz der afghanischen Bevölkerung ist.

Nach einer zweiten Fragerunde, in der unter anderem die Rechtswidrigkeit des Auslandseinsatzes, das Faktum der Besatzung, die Verantwortlichkeit der EU, die Entstehungsgeschichte der Taliban, der Opiumanbau und nicht zuletzt die zuvor in der Hamburger Innenstadt durchgeführte Demonstration gegen den Afghanistankrieg zur Sprache kamen, hatten die Podiumsteilnehmer Gelegenheit zu einer kurzen abschließenden Stellungnahme. Norman Paech erinnerte noch einmal an die Entstehungsgeschichte der Taliban, der Mudschaheddin und Osama bin Ladens unter dem Einfluß der USA und hob hervor, daß "Terror" nicht mit Krieg bekämpft werden könne. Krieg bringe nie etwas anderes als Gewalt hervor, weshalb Demokratie und Freiheit auch in Afghanistan unmöglich mit den Mitteln des Krieges herbeizuführen seien.

Blick auf den Sitz des GIGA-Forums an der Hamburger Binnenalster

Blick auf den Sitz des GIGA-Forums an der Hamburger Binnenalster
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11. September 2009