Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → REPORT

BERICHT/038: Johan Galtung - Analysen und Prognosen zur Weltpolitik (SB)



Koryphäe der Friedensforschung referiert Entwicklungstendenzen des Weltsystems

Vortrag beim GIGA Forum am 17. September 2010 in Hamburg

Johan Galtung am Pult - © 2010 by Schattenblick

Johan Galtung
© 2010 by Schattenblick

Das German Institute of Global and Area Studies (GIGA) konnte in Kooperation mit dem Verein für Geschichte des Weltsystems e.V. (VGWS) den bekannten Friedensforscher Prof. Dr. Johan Galtung für einen Vortrag zum Thema "Entwicklungstendenzen des Weltsystems" gewinnen. Wer könnte besser dazu geeignet sein, eine fundierte Prognose der globalen Entwicklung in den kommenden Jahrzehnten zu entwerfen, als der renommierte Norweger, der seit mehr als 50 Jahren die Mechanismen von Krieg und Frieden erforscht und sich weltweit in über 40 Konflikten als Vermittler engagiert hat! Bereits 1980 sagte er den Zusammenbruch des Warschauer Pakts binnen zehn Jahren voraus. Mit dieser spektakulären Einschätzung stand er fast allein auf weiter Flur. Nachdem sich seine Vorhersage als zutreffend erwiesen hatte, prognostizierte er, daß entweder der Ökoaktivismus oder der Islam das neue Feindbild des Westens würde. Wiederum sollte er recht behalten, weshalb man ihm große Beachtung schenkte, als er im Jahr 2000 den Zusammenbruch des US-Imperiums im Zeitraum von 2020 bis 2025 ansiedelte und diese Frist unter dem Eindruck der Präsidentschaft George W. Bushs später um fünf Jahre verkürzte.

Nicht nur mit Blick auf Erschütterungen und Trendwenden im Weltmaßstab stellt Galtung prognostische Treffsicherheit unter Beweis, er zeichnet sich auch durch präzise Einschätzungen im regionalen Kontext akuter Konflikte aus. Bereits im Spätherbst 2001 zog er den proklamierten Sieg der US-Militärstrategie in Afghanistan in Zweifel und kritisierte das zur Begründung der Intervention vorgehaltene Terrorkonzept.

Der norwegische Friedensforscher erwies sich als Wissenschaftler im besten Sinn, indem es ihm in zahlreichen Konflikten gelang, aus einer tiefgreifenden Analyse fundierte Vorhersagen über künftige Entwicklungsverläufe abzuleiten. Möglich wurde ihm die Überwindung bloßer Rekapitulation bekannter Ereignisse der Vergangenheit, indem er die distanzierte Betrachtungsweise elitären Expertentums und dessen Einbindung in herrschende Interessen hinter sich zurückließ und als Vermittler auf dem Feld internationaler Konfliktbewältigung tätig wurde. Ohne Berührungsängste suchte er das Gespräch auch mit jenen Kontrahenten, die westlicherseits unter das Verdikt absoluter Bösartigkeit gestellt wurden. Auf diese Weise gelang es ihm nicht nur, Interessen und Ziele der beteiligten Konfliktparteien differenziert zu entschlüsseln, sondern auch wesentliche soziale Widersprüche einzubeziehen und daraus dezidierte Lösungsvorschläge zu entwickeln. Vor allem aber hebt er die fundamentale Bedeutung zukunftsfähiger Entwürfe hervor, anhand derer er wohlbegründete Vorhersagen über kommende Veränderungen im weltweiten Machtgefüge trifft. Entscheidend sei, so die Kernthese Galtungs, wessen Zukunftsentwurf Anziehungskraft zu entfalten im stande ist.

Henner Fürtig, Johan Galtung, Helmut Stubbe da Luz - © 2010 by Schattenblick

Henner Fürtig, Johan Galtung, Helmut Stubbe da Luz
© 2010 by Schattenblick

So lang und reichhaltig ist die Lebensgeschichte Johan Galtungs, daß man seinen Beitrag zur theoretischen wie praktischen Friedens- und Konfliktforschung, zu deren Gründungsvätern er gehört, im Rahmen einer Vortragsveranstaltung allenfalls in wenigen ausgewählten Aspekten würdigen kann. Prof. Dr. Henner Fürtig, Direktor des GIGA Instituts für Nahost-Studien, beschränkte sich in seiner einleitenden Moderation denn auch auf einige Schlaglichter zum Wirken des Referenten. Diesen stellte er als einen der anerkanntesten Friedensforscher unserer Zeit vor, der im Jahr 1987 mit dem Alternativen Nobelpreis und 1993 mit dem Gandhi-Preis ausgezeichnet wurde. Galtung gründete 1959 das Internationale Friedensforschungsinstitut PRIO in Oslo, welches das erste seiner Art in Europa war. Gegenwärtig ist er Direktor des 1992 gegründeten internationalen Transcend-Netzwerks für Frieden, Entwicklung und Umwelt, dessen Hauptaufgabe in der praktischen Konfliktmediation in makropolitischen Konflikten nach der Transcend-Methode besteht. Er prägte die Begriffe strukturelle Gewalt und positiver Frieden und war maßgeblich an der Entwicklung des Konzeptes der sozialen Verteidigung beteiligt. Darüber hinaus setzt er sich für eine Demokratisierung der Vereinten Nationen ein und hat sich in zahlreichen Beiträgen für die Etablierung eines Weltparlaments ausgesprochen. Mit der Frage, welche Umwälzungen uns bevorstehen und welche neuen regionalen Führungsmächte daraus hervorgehen werden, übergab Fürtig dem Vortragenden das Mikrofon.

"Liebe Gigantinnen und Giganten", eröffnete Johan Galtung unter Bezug auf den Gastgeber GIGA seinen Vortrag, der nicht nur durch analytische Präzision, überraschende Einblicke und wohlbegründete Prognosen bestach, sondern die Zuhörer immer wieder auf unterhaltsame Weise einbezog. Den Norweger, der in Kürze seinen 80. Geburtstag feiert, als älteren Herrn zu bezeichnen, wird zwar seinem Lebensalter gerecht, nicht jedoch seinem jugendlich anmutenden Schwung und dem ganz und gar unprätentiösen Auftreten. Erst vor wenigen Tagen aus Beijing zurückgekehrt, wo er Gespräche auf hochrangiger Ebene geführt hatte, strahlte er die Kompetenz eines Menschen aus, der an Orte reist und mit Leuten spricht, über die andere eher aus der Ferne vorurteilsbehaftet zu spekulieren pflegen. Zugleich gewann man den angenehmen Eindruck, daß ihm Dünkel fremd und Herablassung ein Greuel sind, kurz die Zuwendung zu seinen Gesprächspartnern in Fleisch und Blut übergegangen ist. Dies dürfte dazu beigetragen haben, daß ihm die konzentrierte Aufmerksamkeit der Zuhörer sicher war, die in dem fast bis auf den letzten Platz gefüllten Saal bemerkenswert störungsfrei seinem Vortrag lauschten.

Ohne Umschweife teilte Galtung die Welt in vier Gruppen von Ländern ein. Er nahm Anleihe an lebensgeschichtlichen Phasen und sprach von "Ruhestandsländern", die sich durch abgewirtschaftete Projekte auszeichneten und nichts Neues vorzuweisen hätten. Darunter fallen seines Erachtens die meisten OECD-Staaten. Die USA und Israel nähmen gar ein Mandat Gottes für sich in Anspruch und hätten sich in ein Dominanzstreben verrannt, das paranoide Züge entwickle und zugleich autistisch im Sinne der Unfähigkeit zu Kommunikation und Verständnis für andere sei. Als "erwachsene Länder" mit Projekten bezeichnet er die BRIC-Staaten, unter denen insbesondere Brasilien wie überhaupt die Region Lateinamerika zukunftsfähig hervorstechen. Zu einer bemerkenswerten ökonomischen Entwicklung gesellt sich ein gewachsenes Selbstbewußtein samt der Vision, wie die Zukunft neu zu gestalten ist. Eher skeptisch sieht Galtung die Aussichten Rußlands, das in seiner Geschichte drei Projekte hervorgebracht habe: die orthodoxe Kirche, den Bolschewismus sowie Gas und Öl - letzteres offensichtlich kein Entwurf von übergreifender Anziehungskraft. Indien weise Wachstum für die oberen 30 Prozent seiner Gesellschaft auf, doch Rückschritt für übrigen 70 Prozent der Bevölkerung.

Galtung mit Weltkarte - © 2010 by Schattenblick

Die Welt aus der Sicht Chinas
© 2010 by Schattenblick

China verfügt über einen Zukunftsentwurf

China schätzt der Friedensforscher als den zukunftsträchtigsten Entwurf ein, weshalb er ihm den überwiegenden Teil seines Vortrags widmete. Anschaulich demonstriert anhand einer kurzerhand auf den Fußboden vor dem Vortragspult gelegten Weltkarte fließen Begebenheiten des jüngst erfolgten Besuchs in Beijing in grundsätzliche Erwägungen dazu ein, wodurch sich die chinesische Sichtweise auszeichnet und von der westlichen unterscheidet. Den auf die eurozentrische Weltsicht geeichten Blick überrascht, daß die Karte den asiatischen Kontinent und das "Reich der Mitte" ins Zentrum stellt, während Europa ganz nach links und Amerika an den rechten Rand rücken.

China sieht sich demnach von einer Zone umgeben, in deren sieben Gebieten keine oder nur wenige Han-Chinesen leben. Mit Ländern wie Vietnam und Korea oder Regionen wie Tibet und Taiwan sind Konflikte bis hin zu Kriegen möglich, während der weit entfernte Rest der Welt aus Perspektive Chinas unvorbelastet durch Auseinandersetzungen und Besatzungszeiten ist. Durchaus dem Grundverständnis folgend, allseits von Barbaren umgeben zu sein, betreiben die Chinesen ausgiebig Handel und Technologieaustausch mit den entlegendsten Regionen, ohne daraus hegemoniale Ansprüche abzuleiten. Gleichzeitig zeigt sich das Land resistent gegen jede Art von Belehrung oder Bevormundung auswärtiger Provenienz.

Weltkarte liegt am Boden vor dem Vortragspult -  © 2010 by Schattenblick

... legt dem Publikum die Welt zu Füßen
© 2010 by Schattenblick

Galtung würzte seinen Vortrag an dieser Stelle mit der Anekdote, wie er einmal auf sich und seine aus Japan stammende Frau Fumiko Nishimura anspielend zu bedenken gab, ob der Barbar aus dem Westen und die Barbarin aus dem Osten nicht doch etwas Sinnvolles zum Dialog beizusteuern hätten, was bei seinen chinesischen Zuhörern eine Salve beifälligen Gelächters ausgelöst habe. Dies zeige einmal mehr, über welch ausgeprägten Humor die Chinesen verfügten, der sich freilich erst bei einer zugewandten Kontaktnahme erschließe.

Daß eine konfliktreiche Vorgeschichte durchaus auf spezifisch chinesische Weise zugunsten einer beiderseits akzeptablen Lösung bewältigt werden kann, belegt das Beispiel Hongkongs. Während die ehemalige britische Kronkolonie für Beijing ein Teil Chinas ist, reduziert man diese Zugehörigkeit in Hongkong auf den Status einer Postadresse. Aus westlicher Sicht mag dies paradox oder unzureichend erscheinen, doch nach chinesischer Auffassung braucht man keine Angst vor Widersprüchen zu haben. Diese sind vielmehr dialektisch in Harmonie zu überführen, ein Vorgehen, das unter den erstrebenswerten Idealen eindeutig an erster Stelle steht. Yin und Yang gehen auseinander hervor, so daß es abwegig wäre, eines unter Ausschluß des anderen anzustreben. Daher sei ein Endzustand für Chinesen nicht annehmbar, während für sie naheliege, daß auf den Kommunismus der Kapitalismus folgt, worauf dieser wiederum in den Neokommunismus übergehe. Nach Galtungs Ansicht handelt es sich ohnehin nicht um eine kommunistische Partei, da Mao den Marxismus nie verstanden habe, wohl aber Lenin und den Imperialismus.

Laut dem Friedensforscher versteht der Westen nicht, daß Demokratie und Menschenrechte den Chinesen vertraut sind, jedoch anders aufgefaßt und umgesetzt werden. Während Parteien auf nationaler Ebene und eine Trennung von Regierung und Opposition nach westlichem Muster fehlen, existieren durchaus demokratische Ansätze auf niedrigerer Ebene. Es ist ein Kardinalfehler, China als westliches Land aufzufassen und ihm zuallererst Demokratie, Wachstum und Menschenrechte abzuverlangen. Wohl hat das enorme Wirtschaftswachstum drei Riesenprobleme verschärft, doch wollen die Chinesen Ungleichheit, Umweltschäden und Demokratiedefizite auf ihre eigene Weise und gemäß ihren Entwicklungspräferenzen überwinden. Für sie steht die Befriedigung der Grundbedürfnisse an erster Stelle, während Freiheit hintenansteht. Eine andere Abfolge zu fordern wäre antihistorisch, wobei der Einfluß des Westens ohnehin gering sei.

Die westlicherseits erhobene Forderung, China müsse dem Kommunismus entsagen und sich ausschließlich dem kapitalistischen Weg verschreiben, ist mithin nicht nur anmaßend, sondern auch von grundlegender Ignoranz geprägt. Aus chinesischer Sicht ist ein "Kapikommunismus" kein unerträglicher Zwitter, dessen Existenz baldmöglichst ein Ende gesetzt werden muß. Will man China verstehen, gilt zuallererst, das chinesische Entwicklungsmodell zu verstehen und dessen Leistungen zu würdigen. Die Lokalgesellschaft wird dort als Einheit aufgefaßt, in der verschiedene Kräfte zusammenarbeiten müssen. Daraus resultiert eine Dynamik, die vor allem hinsichtlich der Befriedigung der Grundbedürfnisse rasante Fortschritte macht, so Galtung.

Während der Kapitalismus nur seine Durchsetzung zu Lasten anderer Wirtschaftssysteme und tief verwurzelter kultureller Traditionen kenne, setzt aus Perspektive Chinas Frieden vor allem eine gleichrangige Zusammenarbeit zum beiderseitigen Vorteil voraus. Galtung verweist in diesem Zusammenhang auf die Bedeutung der historischen Seidenstraße, bei der es sich weniger um den bekannten Landweg, als vielmehr um einen Seehandel gehandelt hat, der zwischen 500 und 1.500 unserer Zeitrechnung China mit Indien, dem Nahen Osten und Somalia verband. Buddhismus und Islam arbeiteten über lange Fristen gedeihlich zusammen, bis diese Verbindung von westlichen Mächten unterbunden wurde. Eine neue Seidenstraße, die von China über Afrika bis nach Lateinamerika reicht, werde binnen zehn Jahren als Achse des Ost-West-Handels die seit der Kolonialzeit vorherrschende Nord-Süd-Route der Warenströme übertreffen und tendenziell ablösen.

Galtung am Pult - © 2010 by Schattenblick

Konzentriert und mitreißend
© 2010 by Schattenblick

Das US-Imperium liegt im Sterben

Dem US-Imperium gibt Galtung nur noch eine kurze Frist. In den Schuhen des sterbenden spanischen Weltreichs seit 1898 aufstrebend, gewannen die Vereinigten Staaten zunächst alle Kriege, denen unter anderem auf den Philippinen zahllose Menschen zum Opfer fielen. Den Wendepunkt, an dem die Phase des Abstiegs begann, siedelt der Friedensforscher bereits im Jahr 1953 an, in dem die USA den Waffenstillstand mit Nordkorea und China schließen mußten, was sie den Machthabern in Pjöngjang noch heute nachtragen. Es folgten Vietnam, der Irak und Afghanistan - allesamt Kriege, in denen die US-Militärs letzten Endes gescheitert sind.

Angesprochen auf den Irak erwiderte Galtung, daß dieser nicht existiere, sondern eine Fiktion sei, entworfen von zwei britischen Kolonialbeamten. Die britische Oberherrschaft habe eine gerade Linie auf der Landkarte gezogen, die ihren Zugriff auf die Ölquellen sichern sollte. Später folgte Saddam Hussein, ein von den USA bezahlter Antikommunist. George W. Bush glaubte eine Mehrheit gegen Saddam ausgemacht zu haben, woraus er irrtümlich schloß, daß diese auf der Seite der Eroberer steht. Er vergaß dabei jene, die gegen beide Parteien waren, und nicht zuletzt eine Vielzahl von Profiteuren, die für jeden zu haben sind, der ihnen Vorteile verschafft. Das Kunstprodukt Irak entfaltete im Gefolge der Invasion enorme Zentrifugalkräfte, wobei sich der Bürgerkrieg nicht nur gegen die USA richtet. Zur Lösung dieses Konflikts schlägt Galtung einen Staatenbund vor, in dem die Interessen der Kurden in Abstimmung mit der Türkei besonderer Berücksichtigung bedürfen. Hierzu schlägt der Friedensforscher vier autonome Provinzen vor, die in ihrer Gesamtheit Kurdistan ausmachen.

Der Iran sei Opfer massiver westlicher Aggression und habe immer wieder zum öffentlichen Dialog eingeladen, der von den USA zurückgewiesen wurde. Ausländische Interventionen, wie der von den Geheimdiensten CIA und MI6 1953 herbeigeführte Putsch in Teheran, graben sich Galtung zufolge wie ein Trauma im Gedächtnis der Nationen ein. Wäre Washington jemals bereit gewesen, über 1953 zu sprechen und Irrtümer einzuräumen, hätte sich wohl auch der Iran geöffnet. Er glaube nicht, daß die iranische Führung nach Atomwaffen strebt, so der Friedensforscher. Was Ahmedinejad betreffe, sei er vorsichtig in seiner Einschätzung. Manches deute darauf hin, daß der iranische Präsident den Einfluß des Klerus begrenzen wolle, und sicher sei, daß er Israel nicht mit Vernichtung gedroht habe, wie dies falsche und unvollständige Übersetzungen glauben machten.

Afghanistan erweist sich auch für die USA als Friedhof der Imperien, und den US-Militärs ist klar, daß sie diesen Krieg nicht gewinnen werden. Laut Galtung hat der Abzug der Verbündeten bereits begonnen, und auch Deutschland, dessen Sicht dieses Konflikts irrelevant sei, solange es als bloßer Plapperapparat Washingtons fungiert, werde sich ihm anschließen. Die Taliban kämpfen gegen Säkularismus, Kabul und die Invasoren, erklärt Galtung, der damit die Propagandakonstruktion des westlicherseits vorgehaltenen Feindbildes aufbricht und zugunsten einer differenzierten Sichtweise verwirft.

Transcend hat einen Plan zur Lösung des Konflikts entwickelt, der folgende sechs Punkte umfaßt: Abzug der fremden Truppen, Koalitionsregierung mit den Taliban, Afghanistan als Bundesstaat, Staatenbund rund um Afghanistan, Befriedigung der Fundamentalbedürfnisse beider Geschlechter sowie Sicherheit unter Einbeziehung der islamischen Welt. Selbst Abgeordnete des US-Kongresses hätten diesen Sechspunkteplan für vernünftig erachtet, sich jedoch außerstande gesehen, ihn ihren Wählern zu verkaufen. Die Taliban dürfen demnach nicht einmal im Einzelfall als seriöse Gesprächspartner anerkannt werden. Wer "hearts and minds" der Afghanen gewinnen will, muß selbst über Herz und Verstand verfügen, doch ein Verständnis für die Interessen der Menschen in diesem Land geht dem US-Imperium völlig ab, so Galtung in der ihm eigenen Unverblümtheit.

Auch dem US-Präsidenten hatte er wenig Erbauliches ins Stammbuch zu schreiben. Barack Obama sei ein bloßer Rhetoriker, der über kein politisches Kapital verfüge. Das vorherrschende politische Klima in den USA schließe eine Kursänderung nahezu aus, weshalb für Galtung außer Frage steht, daß das US-Imperium in Kürze fallen wird. Was danach in den USA geschehen werde, sei eine wichtige Frage, da aus heutiger Sicht sowohl ein Militärputsch, als auch ein Bündnis moderater Kräfte denkbar sei.

Johan Galtung am Tisch mit Mikrofon - © 2010 by Schattenblick

Ausführliche Beantwortung von Fragen aus dem Publikum
© 2010 by Schattenblick

Was kommt nach dem Niedergang der unipolaren Weltordnung?

Als möglicher Nachfolger des zusammengebrochenen US-Imperiums steht zwar die Europäische Union in den Startlöchern, doch gleicht Europa einem Altersheim, da es vor allem behalten will, was es bereits besitzt. Einen zukunftsfähigen Entwurf verortet Galtung vor allem in China, weil es nicht auf gleiche Weise wie die ihm vorangehende Hegemonialmacht handeln kann. Wachsende Bedeutung werde die Shanghai Cooperation Organisation (SCO) erlangen, wobei der Friedensforscher prognostiziert, daß Afghanistan diesem Verbund, der auch als militärisches Bündnis konzipiert ist, bis 2020 beitreten werde. Galtung geht in seinem Ausblick auf künftige Entwicklungen deutlich über bereits bestehende zwischenstaatliche Organisationen hinaus und wirft am Beispiel der geplanten Eisenbahnverbindung zwischen China und Kasachstan die Frage auf, wie weit diese Streckenführung letztendlich gehen wird. Auch in dieser Hinsicht trifft er eine Vorhersage und spricht von einer künftigen Achse zwischen Beijing und Istanbul, was einmal mehr unterstreicht, wie sehr er der Herausbildung eines interregionalen Systems den Zuschlag gibt. Das westliche Modell, welches sich allein für die weltweite Entwicklung zuständig erklärt, habe ausgedient und erscheine zunehmend pathologisch. Die Zukunft gehöre der Koexistenz und gegenseitigen Befruchtung verschiedener Entwicklungsmodelle, da der unipolare Machtanspruch rückwärtsgewandt sei und in eine Sackgasse führe.

Johan Galtung hat in seiner jahrzehntelangen Praxis als Vermittler in Konflikten stets darauf bestanden, mit beiden Parteien zu sprechen und damit der jeweils verfemten und verteufelten Gegenseite eine Stimme zu verleihen. Dies bringt ihm im Westen immer wieder harsche Kritik ein, droht er doch die systematische Ausgrenzung und ideologische Stigmatisierung absichtsvoll aufgebauter Feindbilder auszuhebeln. Zugleich überführt er die von ihm im Zuge der Mediation angewandte Herangehensweise in Ansätze der Konfliktlösung und Prognostik auf der höheren Ebene des Weltsystems, wobei er nicht müde wird zu betonen, daß es gilt, klare Visionen zu entwickeln: Wer die Vision mit der stärksten Anziehungskraft hat, wird diese Zukunft erleben.

Den aus dem Publikum vorgebrachten Einwand, ob nicht die Bestandsdauer des römischen Reiches einen weiter gefaßten Zeithorizont für den Fall des US-Imperiums nahelege, schlug Galtung unter Zuhilfenahme historischer Beispiele aus dem Feld. Das britische Weltreich (1756/63-1965), die Sowjetherrschaft (1922-1990) und schließlich das US-Imperium (1898- 2020) ließen erkennen, daß Imperien in der Moderne eine wesentlich kürzere Lebenszeit beschieden sei, als dies in der Antike der Fall war. In Afghanistan nahe das Ende der USA als imperiale Macht, doch wie viele Afghanen sollen dafür noch sterben? Mit diesem ebenso entschiedenen wie eindringlichen Plädoyer beendete Galtung seinen Vortrag. Er stehe zu seinem Zeithorizont, schloß der Friedensforscher, und wolle diesen sogar exakt auf den 24. Oktober 2020 datieren. Die fragenden Blicke des Publikums verwandelten sich in lautstarkes Gelächter, als er erklärte, was ihn zu dieser genauen Terminierung bewegt. An diesem Tag jährt sich die Verabschiedung der UN-Charta und feiert Galtung seinen 90. Geburtstag: "Wer überlebt, das Imperium oder ich. Ich bin bei sehr guter Gesundheit, das Imperium nicht."

Publikum applaudiert Johan Galtung - © 2010 by Schattenblick

Beifall für einen gelungenen Vortrag
© 2010 by Schattenblick

Galtungs Prognostik im Kontext globaler Geschichtswissenschaft

Dem Historiker, Philosophen und Politikwissenschaftler Dr. Helmut Stubbe da Luz, der dem Vorstand des Vereins für Geschichte des Weltsystems angehört, war die ebenso erfreuliche wie diffizile Aufgabe vorbehalten, den Vortrag des prominenten Gasts in einem Kommentar abzurunden. Dessen Besuch in der Hansestadt wäre zweifellos eine breitere mediale Resonanz zu wünschen gewesen. Um so mehr konnte sich das Publikum über das Privileg freuen, dem norwegischen Weltbürger in persona zu begegnen. Das konfrontierte den Kommentator freilich mit der Frage, was er den hochkarätigen Ausführungen noch hinzufügen könnte. So bettete er das Wirken Galtungs metatheoretisch in den Kontext einer Geschichtswissenschaft ein, die sich der Weltgeschichte befleißigt und die Systemtheorie heranzieht, um Funktionen und Verläufe ihres Gegenstands herauszuarbeiten.

Helmut Stubbe da Luz am Vortragspult - © 2010 by Schattenblick

Helmut Stubbe da Luz beim Kommentar
© 2010 by Schattenblick

Wie der Vortrag unterstrichen habe, sei es außerordentlich sinnvoll, in der Vergangenheit zu forschen, weil sich daraus künftige Entwicklungen ableiten ließen. Wenngleich man hinsichtlich der Prognose in zeitlicher Hinsicht ungleich weniger tief vorstoßen könne als im Rückgriff auf historische Ereignisse, seien doch Vorhersagen für die nahe Zukunft möglich. Historiker sollten sich in diesen Zusammenhang stellen und nicht zuletzt dieses Übertragspotential ihrer Disziplin zur Entschlüsselung weltweiter Entwicklungstendenzen nutzen. Ob die von Stubbe da Luz vertretenen Historiker Galtungs spezifischen Analysen zustimmen mögen oder nicht, allein einem so profilierten Prognostiker wie ihm ein Forum zu geben spricht für ihre grundsätzliche Weltoffenheit.

Die Präsentation Johan Galtungs war so gesehen zugleich ein überzeugendes Plädoyer für den in der Geschichtswissenschaft unterrepräsentierten weltsystemischen Ansatz. Der renommierte Friedensforscher verfolgt als Wissenschaftler wie auch Mediator den Ansatz der Weltsystemtheorie auf ganz praktische Weise. Er hat die zugrundeliegenden theoretischen Entwürfe und Modelle nicht nur mitentwickelt, sondern setzt sie für ein humanistisches Anliegen ein. Im Übertrag wissenschaftlicher Erkenntnis auf die friedenspolitische Nutzanwendung erfüllt sich zweifellos der tiefere Sinn historischer Forschung, die Vergangenheit für die Zukunft fruchtbar zu machen, anstatt ihr in deterministischer Totalität zu erliegen.

Veranstaltungsort an der Hamburger Binnenalster - © 2010 by Schattenblick

Veranstaltungsort an der Hamburger Binnenalster
© 2010 by Schattenblick


21. September 2010