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INTERVIEW/042: Geheimdienste im Rechtsstaat - Norbert Juretzko, Autor und ehemaliger BND-Agent (SB)


Interview mit Norbert Juretzko am 10. Juli 2010 im niedersächsischen Wietze


Norbert Juretzko war von 1984 bis 1999 Mitarbeiter des Bundesnachrichtendienstes (BND). Er hat die Erfahrungen, die er als operativer Agent im deutschen Auslandsgeheimdienst gemacht hat, nach seinem Ausscheiden in den Büchern "Bedingt dienstbereit" (2004) und "Im Visier" (2006) kritisch reflektiert. Im Gespräch mit dem Schattenblick gab er unter anderem Auskunft über die ethischen, politischen und institutionellen Probleme, die im Spannungsfeld zwischen nachrichtendienstlicher Arbeit und demokratischem Rechtsstaat entstehen.

Norbert Juretzko - © 2010 by Schattenblick

Norbert Juretzko
© 2010 by Schattenblick
Schattenblick: Herr Juretzko, könnten Sie unseren Lesern eine Vorstellung davon vermitteln, wie es um das politische Selbstverständnis der Mitarbeiter des Bundesnachrichtendienstes bestellt ist?

Norbert Juretzko: Der Dienst selber besteht ja aus verschiedenen Gruppen von Mitarbeitern. Wir haben dort ganz normale Arbeitnehmer, wir haben Beamte, wir haben einen großen Pool von Soldaten, das dürfte etwa ein Drittel sein, die natürlich ein eigenes Klima und eine eigene Sicht mitbringen. Politisch dürfte heute das gesamte Spektrum vertreten sein, allerdings ist so ein Dienst im negativen Sinne sehr konservativ. Man will sich natürlich nicht in die Karten gucken lassen. Es wird oft - das ist auch etwas, das ich kritisiert habe - Geheimniskrämerei gemacht um Dinge, um die man kein Geheimnis machen muß. Dort, wo es wirklich wichtig wäre, Geheimschutz zu pflegen, da wird es nicht gemacht.

Der Tankwart an der dienstinternen Tankstelle hat einen Decknamen, da frage ich mich, was so etwas soll. Bei der CIA ist das heute anders. Da hat jeder eine Visitenkarte, da steht "CIA" drauf mit einer Telefonnummer, die man auch anrufen kann. Das ist gar kein Geheimnis, denn er arbeitet dort vielleicht als Analytiker oder ähnliches. Wenn er in den Außendienst geht, dann wird er zum Agenten, wie man es aus Filmen kennt. Da wird er seine Identität wechseln, und da macht es auch Sinn.

Das sind Dinge, die beim Bundesnachrichtendienst völlig verwaschen waren. Es wurde Geheimniskrämerei betrieben, und auf der anderen Seite wurde bei wirklich wichtigen Operationen sehr lax mit den Sicherheitsfragen umgegangen. Es wurden Telefonnummern angemeldet, die waren in Serie und wurden an Mitarbeiter ausgegeben nach dem Motto 'hast du eine, hast du alle'. Es wurden Ausweise angefertigt, deren Nummern auch in Serie produziert wurden, was natürlich völlig unprofessionell war. Das war einer meiner größten Kritikpunkte am Dienst. Um noch einmal auf den Ausgangspunkt zurückzukommen - vom Selbstverständnis her ist es sehr unterschiedlich schon allein aufgrund der unterschiedlichen Berufsgruppen, aber grundsätzlich ist es natürlich ein sehr konservativer Laden. Das kann man sich vorstellen.

SB: Herrscht im BND eine Art Corpsgeist vor, bei dem die Loyalität über dem möglicherweise aufkommenden persönlichen Zweifel an der jeweiligen Arbeit rangiert?

NJ: Der Corpsgeist ist im Dienst insgesamt nicht sehr ausgeprägt, weil das interne Klima sehr schlecht ist. Das ist ja ein Dienst, der mehr oder weniger von der Politik allein gelassen wird. Die Politik sagt, macht mal, aber macht ja nicht irgendeinen Fehler, dann seid ihr dran. Wir haben das jetzt erlebt, als ein Resident in Georgien betrunken am Lenkrad saß und dabei eine Frau überfahren hat. Das ist jetzt ein ganz armer Hund, der wird von allen fallen gelassen, der hat von niemandem Schutz zu erwarten. Da gibt es auch keine Fürsorge mehr von seiten des Dienstes und die Frage, warum es zu Alkoholismus im Dienst kommt, wird nicht gestellt.

Es ist eher so, daß Corpsgeist innerhalb dieses Dienstes eine untergeordnete Rolle spielt, aber das gegenseitige Mißtrauen unwahrscheinlich groß ist. Das verhindert diesen Corpsgeist sogar. Das war ein wenig anders im Bereich der Soldaten, die so wie ich von der Luftlandetruppe kamen. Die Fallschirmjäger haben ja ohnehin innerhalb ihrer Gruppe einen starken Corpsgeist, und den nimmt man dann mit. Der ist aber auch nur in dieser Gruppe ausgeprägt, und jedem Beamten oder Angestellten im Dienst ist er sehr suspekt. Dieser Bruch geht durch die ganze Behörde - auch ein großer Kritikpunkt, der bis heute nicht beseitigt wurde, obwohl man ihn leicht beseitigen könnte.

SB: Die BND-Zentrale wird ja nach Berlin umziehen. Das neue Gebäude hat in der Tat etwas Furchteinflößendes. Könnte es sein, daß Auslandaufklärung auch für die innere Repression oder innere Kontrolle immer relevanter wird?

NJ: Ich glaube, das ist am Ende auch ein Instrument für die innere Kontrolle. Das drückt auch ein bißchen Macht aus, es wird ein bißchen Angst suggeriert. Ich fand es zu der Zeit, als Bonn noch Hauptstadt war, sehr sympathisch und sehr angenehm, daß die Bundesrepublik sich bescheiden gegeben hat. Sie hat sich freiwillig bescheiden gegeben, und das ist mit Berlin komischerweise verloren gegangen. Wenn man sich diese Klötze von Bauten dort anschaut, allein dieses Kanzleramt, das ist eher abschreckend. Das hat überhaupt nichts sympathisches mehr, das geht völlig verloren. Und das macht man nun auch mit diesem Reichssicherheitshauptamt. Brauchen wir das überhaupt? Das ist die Frage! Also nicht nur vom Gebäude, sondern auch vom Personal her. Brauchen wir eigentlich so einen riesigen Dienst?

Ich bin schon seit langem der felsenfesten Überzeugung, daß man einen Auslandsnachrichtendienst bräuchte, der viel kleiner ist, sprachlich viel besser ausgebildet ist, der tatsächlich die Bundesregierung unterstützt. Bestimmte Dinge, die dieser BND jetzt noch macht, gehören in die Hände von Fachleuten. Wir haben beim BKA (Bundeskriminalamt) Menschen, die dafür ausgebildet sind, sich mit Drogenfahndung zu befassen. Der BND betreibt auch Drogenermittlungen im Ausland, ist aber in der Regel miserabel ausgebildet und nimmt den anderen Behörden Ressourcen weg.

Es gibt in Deutschland nur einen Bedarfsträger für militärische Aufklärung. Das ist die Bundeswehr. Das ist der Bedarfsträger, der wissen muß, was in der Welt an militärischen Bewegungen vorgeht, wo geflogen wird, wo Schiffe unterwegs sind, was in der Entwicklung los ist. Warum muß das eine zivile Behörde machen, die dadurch riesig aufgebläht wird? Man bringt Soldaten aus der Bundeswehr in den Dienst, und dann gehen diese Informationen durch einen Filter wieder an die Bundeswehr zurück. Das ist absoluter Unsinn. Wir hatten ein Amt für Nachrichtenwesen, das hätte das wunderbar machen können, und ich bin davon überzeugt, daß die Ergebnisse wesentlich besser gewesen wären. Dann müßten Soldaten auch nicht irgendwelchen Drogenbaronen hinterherjagen, sondern sie würden militärische Aufklärung betreiben. Die Ressourcen beim BKA oder BfV (Bundesamt für Verfassungsschutz) in Sachen Terrorismus usw. wären dort wesentlich besser aufgehoben.

SB: Geht es beim BND nicht wesentlich um Erkenntnisse zum Terrorismus, zur Wirtschaftskriminalität und um eine generelle Aufklärung der Absichten konkurrierender Regierungen, da die Staaten in einem Standortwettbewerb miteinander stehen?

NJ: Gerade letzteres ist ein klassischer Punkt für einen Nachrichtendienst, also auch für einen BND, wie ich ihn verstehe. Bei der detaillierten Terrorfahndung jedoch handelt es sich um eine klassische Polizeiaufgabe. Dabei passiert nämlich folgendes. Dadurch, daß der BND das machen darf, machen soll oder machen muß, wird ihm auch die Möglichkeit eröffnet, im Inland aktiv zu werden. Wir haben in jedem Bundesland einen Verbindungsreferenten, das sind viele Mitarbeiter, und die machen nichts anderes als Aufklärung im eigenen Land. Und ich bin mir ziemlich sicher, daß eine verfassungsrechtliche Prüfung dieses Sachverhalts erbrächte, daß es sich um einen nicht verfassungskonformen Verstoß gegen die Richtlinien handelte.

SB: Laut Bundeskanzlerin Merkel und anderen Regierungspolitikern ist der Unterschied zwischen Außen- und Innenpolitik als solcher eigentlich nicht mehr existent. Das deckt sich generell mit dem US-Dispositiv des Globalen Krieges gegen den Terrorismus, der parallel zur Globalisierung im sicherheitspolitischen Bereich eine Aufhebung der Grenzen und damit eine erweiterte Befugnis aller Organe der inneren wie äußeren Sicherheit mit sich bringt. Dient die Terrorismusfahndung nicht zu einem Gutteil der Legitimation der Auslandseinsätze der Bundeswehr? Es wird ja nach wie vor unterstellt, daß in Afghanistan der Terrorismus bekämpft wird.

NJ: Ja, das ist das Feigenblatt. So bezeichne ich das. Das ist das Feigenblatt für diese Auslandseinsätze. Deshalb bin ich auch strikt dagegen. Ich habe Lesungen an der Führungsakademie der Bundeswehr gehalten und habe Applaus dafür bekommen, daß ich das kritisiert habe. Man schickt schlecht ausgebildete Soldaten mit schlechter Ausrüstung in einer falschen Struktur für solche Kriege in dieses Land und tut so, als würde man den Terrorismus bekämpfen. In Wirklichkeit verteidigen sie sich da nur selbst. Wenn man das ernst nimmt mit seiner Pflicht zum treuen Dienen und all diesen Dingen, dann muß man sagen, das ist falsch und das darf man nicht mitmachen. Ich bin felsenfest davon überzeugt, daß das ein Riesenfehler ist. Wir haben uns da nicht zu tummeln. Gerade die Deutschen haben sich aus solchen Dingen gefälligst herauszuhalten.

Wir müssen natürlich Aufklärung in Sachen internationaler Terrorismus betreiben, wir müssen versuchen herauszufinden, wo die Gründe dafür liegen. Das ist aber mehr eine Arbeit der Analyse. Wir müssen heute nicht weltweit herumturnen und James Bond spielen. Da gibt es andere Methoden, und es gibt mit Sicherheit Analytiker, die das können, aber die sitzen leider nicht beim BND.

Norbert Juretzko mit SB-Redakteur - © 2010 by Schattenblick

Norbert Juretzko mit SB-Redakteur
© 2010 by Schattenblick

SB: Können Sie sich vorstellen, daß Analytiker innerhalb des BND zu der Auffassung gelangen, daß das Problem des Terrorismus maßgeblich ein sozial verankertes, armuts- und elendbedingtes Problem ist, so daß man möglicherweise zu ganz anderen Schlußfolgerungen hinsichtlich der diesbezüglichen Politik gelangte?

NJ: Ein Nachrichtendienst hat immer ein Eigenleben und dieses Eigenleben hat natürlich auch ein Eigeninteresse. Und das, was man nach Außen gibt, das wird auch immer von diesem Eigeninteresse gesteuert. Ein Nachrichtendienst, der gerne Flugreisen nach Amerika macht, wie der Bundesnachrichtendienst, wird in seinen Analysen immer darlegen, wie wichtig es ist, daß man diesen Kontakt hat. Ich habe selber erlebt, wie fünf Leute für eine ganze Woche in die Vereinigten Staaten fliegen und zwei Blatt Papier in der Tasche haben, und da stand auch noch Mist drauf. Ich sage das jetzt mal so. Das ist ein simples Beispiel, aber es soll verdeutlichen, daß ein Dienst immer auch seine eigenen Interessen verfolgt und sich selber am Leben erhalten will.

SB: Berufsständische sozusagen.

NJ: Natürlich. Man will keine Bereiche abgeben, aber es gibt Felder, wo ich wirklich sage, die gehören nicht in den Nachrichtendienst. Würden wir uns das ersparen und Terrorismusbekämpfung in eine Hand legen, dann würde das auch Synergien hervorrufen. Wenn wir das als Verteidigung betrachten, dann ist das zunächst eine innenpolitische Angelegenheit, die aber auch außenpolitisch in irgendeiner Form beackert werden muß. Dann gehört das zum Verfassungsschutz, dann gehört das vielleicht zum BKA, je nachdem wie man es ansiedeln will, aber nicht in irgendeine Behörde, die ihr eigenes Ding macht.

Ich habe zum Beispiel Mitte der 90er Jahre streng geheime Dokumente aus Osteuropa beschafft, in denen es ganz detailliert um strategische Planung ging. Das wurde innerhalb des Dienstes hoch bewertet, hoch benotet, ich habe Orden dafür bekommen usw. Diese Erkenntnisse sind bei der Bundeswehr nie angekommen. Nachdem ich meinen Privatkrieg mit dem BND hatte, hat es mich einfach interessiert, also habe ich das recherchiert - das ist dort nie angekommen. Das ist Herrschaftswissen, das kocht sozusagen im eigenen Saft, so daß ich mich fragen muß, warum wir das machen? Das wäre, wenn ich bei der Bundeswehr z.B. beim Amt für Nachrichtenwesen oder beim MAD gewesen wäre, gar nicht möglich gewesen. Dann wäre es dort gelandet, wo es hingehört. Und das ist übertragbar auf andere Bereiche - Terrorismus, Drogen, Proliferation, internationaler Waffenhandel, all das, das ist völlig übertragbar.

SB: Wurde der MAD gegenüber dem BND nicht in seinen Kompetenzen beschnitten?

NJ: Ja natürlich. Die Möglichkeiten, die der MAD hat, sind gar nicht zu vergleichen. Nun müssen wir auch sehen, daß der MAD ein reines Instrument zum Schutz der Bundeswehr vor Ausspähungen, vor Sicherheitsrisiken ist. Doch was die Informationsbeschaffung betrifft, wäre es durchaus möglich gewesen, das ANBw, das Amt für Nachrichtenwesen der Bundeswehr, zu beauftragen. Dann wäre der Bundesnachrichtendienst schon um ein Drittel reduziert worden. Das macht jedoch niemand, weil die Politik abhängig ist. Gerade bei einem Nachrichtendienst sind die Politiker sehr vorsichtig. Ich kenne das aus meiner eigenen Zeit, da gab es einige Abteilungsleiter, die stapelweise Dossiers über Politiker im Schrank liegen hatten. Ich habe immer gesagt, das darf nach unserem rechtsstaatlichen Empfinden doch gar nicht sein. Das darf doch nicht sein, daß so ein Dienst selbst Politik macht.

SB: Also daß er Einfluß nimmt auf demokratische Politik?

NJ: Ja sicher. Ein Abteilungsleiter sagte, wer unter mir Präsident ist, das ist doch völlig egal. Weil sie genau wußten, daß sie machen können, was sie wollen. Und das darf nicht sein. Ich finde, das verbietet sich, und ich verstehe bis heute nicht, weshalb die Bundesregierung auf eine wirklich funktionierende Überprüfung dieses Nachrichtendienstes verzichtet. Es ist heute noch nicht möglich, daß ein Angehöriger des Parlamentarischen Kontrollgremiums nach Pullach fährt und in den ersten Stock des Hauses 109 geht und sagt: Machen Sie mal den Schrank auf, machen Sie mal den Schreibtisch auf, ich möchte einmal sehen, was Sie hier machen. Das geht nicht. Der kann eine Anfrage stellen, und im Zweifelsfall gibt es dann das Büro gar nicht mehr. Das hat es alles schon gegeben.

SB: Das Bundeskanzleramt ist Ihrer Ansicht nach nicht dazu geeignet, eine entsprechende Kontrolle auszuüben?

NJ: Nein. Selbst ein Untersuchungsausschuß bekommt nur das, was er bekommen darf. Ich habe selber erlebt, wie Akten serienweise für derartige Ausschüsse oder auch für Staatsanwaltschaften umgeschrieben wurden. Eins der Paradebeispiele war der Plutoniumschmuggel mit dieser Lufthansa-Maschine. In diesem Dienst wird ja nicht gefälscht, das heißt dann, daß die Akten nachempfunden werden. Das konnte ich mit meinem Treueschwur nicht in Einklang bringen. Jeder Richter, jeder Beamte, jeder Soldat, der morgens zum Dienst geht und dort was auch immer macht, muß doch den demokratischen Rechtsstaat wiederfinden, für den er das tut. Ich habe irgendwann das Gefühl gehabt, daß das damit eigentlich überhaupt nichts zu tun hat. Man braucht so lange, um zu gehen, weil man abhängig ist. Man hat eine Familie, man hat ein Haus abzubezahlen, man ist finanziell abhängig. Man guckt dann auch manchmal weg, man sucht sich Nischen, Betätigungsfelder, wo man nicht so stark mit diesen Problemen konfrontiert wird. Aber man stolpert immer wieder darüber und sagt eines Tages, jetzt geht es nicht mehr. Bei mir war dann wirklich Ende der Fahnenstange. Ich habe gesagt: Jetzt macht ihr Euer Ding, aber ich nicht mehr. Ich habe mich dann anderthalb Jahre hier in den Garten gesetzt, das hat überhaupt niemand zur Kenntnis genommen.

SB: Wie würden Sie aufgrund ihrer Erfahrungen den Einfluß der Exekutive gewichten? Es gibt im Bundeskanzleramt einen Geheimdienstkoordinator. Wird der BND von der Bundeskanzlerin verfügt, oder wie verlaufen die Wege?

NJ: Natürlich. Der Koordinator für die Geheimdienste macht das nach bestem Wissen und Gewissen. Aber er kann nur über Dinge entscheiden, die er weiß. Er kann nur über Papiere entscheiden, die auch der Wahrheit entsprechen. Und die Halbwertzeit der Wahrheit ist beim Bundesnachrichtendienst ziemlich gering. Daß er Quellen schützen muß, ist ganz klar. Aber es gibt irgendwo einen Punkt in unserem System, da kann ich nicht meinen eigenen Politikern mißtrauen. So einen Dienst brauchen wir nicht. So etwas haben wir 40 Jahre lang auf der anderen Seite des Zaunes gehabt, so etwas brauchen wir nicht. Wir müssen einen Dienst haben, der intelligent Lagebilder verfaßt, der eine Unterstützung ist. So etwas braucht eine Bundesregierung auch, aber wir brauchen kein Gebilde, das ein Eigenleben hat und alles damit begründet, daß es geheim ist.

SB: Wie beurteilen Sie die Rolle des BND im Jugoslawienkrieg? Gab es, wie behauptet wurde, eine enge Kooperation des BND mit Kroatien gegen die Bundesrepublik Jugoslawien?

NJ: Ich halte solche Vorwürfe für ein Gerücht. Der Bundesnachrichtendienst ist weder personell noch finanziell in der Lage, solche Operationen und solche Unterstützungen durchzuführen. Da müßten andere Wege beschritten worden sein. Das würde sofort in den Haushaltsplanungen auffallen. Dafür braucht man Finanzmittel, die das übersteigen, was da ist. Es spricht aus meiner Sicht alles dagegen, daß da etwas Wahres dran ist. Daß sich der Dienst bei diesen Aktivitäten gerade in Jugoslawien oft sehr dusselig verhalten hat, lag daran, daß seine Mitarbeiter schlecht ausgebildet sind. Die nachrichtendienstliche Ausbildung ist miserabel. Es gibt eine Verwaltungsausbildung, die Dienstschule in Haar bei München, und die ist mehr oder weniger verschrien als Abschiebebahnhof für Mitarbeiter, die Probleme mit Drogen und Alkohol haben oder aus anderen Gründen nicht mehr zu gebrauchen sind. Das drückt sich natürlich in der Qualität aus.

SB: Im Vorfeld des Irakkriegs gab es diverse Behauptungen zur angeblichen Existenz von Massenvernichtungswaffen im Irak, die der BND - wie im Fall Curveball - offensichtlich lanciert hatte. Wie entsteht so etwas? Können Sie sich vorstellen, daß das aus einer Kooperation mit US-Diensten hervorgeht, oder hat die Bundesregierung ein Eigeninteresse am Aufstellen derartiger Behauptungen?

NJ: Die Curveball-Geschichte ist wirklich ein Paradebeispiel dafür, daß dieser Dienst eben nicht funktioniert. Ich bin sehr gut informiert, was da gelaufen ist. Es ist eine klassische Folge des Eigenlebens eines Dienstes. Jetzt haben wir ein Problem, die Amerikaner befürchten, daß es da Massenvernichtungswaffen gibt. Aber sie haben nichts. Dann wird dem Kanzler ein Bedarfspapier geschrieben, bitte besonderes Augenmerk auf alles, was von da kommt. Nun bekommt ein Abteilungsleiter das in die Hand - man will ja auch was werden, man will befördert werden - und sagt, jetzt nur noch Massenvernichtungswaffen Irak, das ist jetzt unser Schwerpunkt. Alles schwärmt aus.

Was ich bisher gesagt habe, ist das, was mir meine Erfahrungen zum wahrscheinlichen Verlauf sagen. Nun sage ich, was dann passiert ist. Es gab eine Stelle für Befragungswesen in der Nähe von Nürnberg, die sind dann nach Zirndorf gefahren in ein Lager, in dem Menschen leben, die eingebürgert werden wollen. Dort gehen sie an die Karteikarten und sehen sie unter "Irak" durch. Irgendwann kommen sie auf einen Namen, bei dem "Chemiker" steht. Die Person holen sie sich für ein nettes Gespräch, es gibt ein kleines Abendessen. Dann fragen sie: "Sagen Sie, haben Sie denn schon einmal etwas davon gehört?" "Ja, weiß ich auch nicht, ich kann ja mal überlegen." "Wenn wir da etwas wissen könnten, das wäre natürlich toll. Wir helfen natürlich mit Ihrem Ausweis, wir wissen, Ihre Frau ist da, die holen wir jetzt erst einmal rüber." "Ja, ich denke darüber nach."

Dann fängt er an zu denken, und dann hat er gedacht. Jetzt gab es mehrere Treffen, die ich ausspare, denn deren Schilderung wäre eher eine Art kabarettistische Veranstaltung. Am Ende hatte er dann aus dem Internet ein Fahrzeug der New Yorker Feuerwehr abgemalt, hatte einen Tanklastzug daraus gemacht und gesagt: "So sehen die aus". Alle waren begeistert. Es wurden wunderbare Reisen nach Amerika gemacht, immer mit großem Bahnhof - "Wir haben die Quelle und wir wissen". Der Mann selber war schon zehn Jahre zuvor von seiner Firma, in der er Lippenstift und Lidschatten produziert hat, entlassen worden, weil er so ein windiger Vogel war. Die Ergebnisse wurden, wie bei der stillen Post, immer toller, man war wichtig, hatte plötzlich persönliches Zugangsrecht zum Kanzleramt. Gerhard Schröder war damals Bundeskanzler, man konnte persönlich vortragen und hatte natürlich jede Woche etwas Neues. Das Ganze hatte null Substanz, null Substanz.

Dann passierte folgendes: Die Amerikaner wollten mit ihm persönlich reden, denn der CIA kamen allmählich Zweifel. Man konnte sich immer darauf herausreden, daß man sagte "der Mann haßt Amerikaner, der spricht nicht mit Euch". Besonders den Engländern kamen seine Angaben merkwürdig vor. Sie begutachteten seine Wegebeschreibungen, doch dort, wo angeblich ein- und ausgeladen werden sollte, stand schon seit zehn Jahren eine Mauer. Irgendwie paßten einige Dinge nicht so richtig zusammen. Dann fiel auf, daß der Dienst vergessen hatte, den Mann zu überprüfen, also bei der Verwandtschaft im Irak nähere Informationen über seinen Hintergrund und seine Glaubwürdigkeit einzuholen. Das ist alles unterlassen worden. Dann wurde jedoch vom Kanzleramt so viel Druck ausgeübt, daß man ein Gespräch zulassen mußte.

Norbert Juretzko mit SB-Redakteur - © 2010 by Schattenblick

Norbert Juretzko mit SB-Redakteur
© 2010 by Schattenblick

Die Rede, die Colin Powell gehalten hat [als US-Außenminister am 5. Februar 2003 vor dem UN-Sicherheitsrat - Anm. d. Red.], rückte immer näher, und dann überschlugen sich die Ereignisse. Die CIA ruderte zurück und meldete Zweifel an. Sie wollte den Mann ersteinmal richtig checken, weil sie befürchtete, daß an seinen Informationen nichts dran ist. Dann beichtete der BND-Präsident im Kanzleramt, daß es sich vielleicht doch nicht ganz so verhält, wie man gesagt hat. Bis dahin stimmt die Geschichte voll und ganz. Nun kann ich mir vorstellen, daß die Erkenntnis über diesen Verlauf auch ein Argument für Schröder war, sofort zu sagen: "Wir nicht". Davon bin ich ziemlich überzeugt, ohne daß ich das belegen könnte.

Dann kam die Rede von Colin Powell. Die CIA ist auch ein Dienst, der ein Eigenleben hat. Man ließ Powell auflaufen, obwohl man eigentlich wußte, daß nichts dran war. Das hat auch die Geschichte gezeigt, es wurde nie etwas gefunden. Insofern ist Curveball ein Paradebeispiel dafür, daß ein Dienste kontrolliert werden muß. Und das tun sie nicht. Sie können es nicht, weil sie einfach unkritisch glauben müssen. Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser, hat zwar ein anderer gesagt, aber in dem Punkt hatte er recht. Das funktioniert bei der Bundeswehr auch. Doch eine Kanzlerin kann niemanden zum BND schicken, der völlig unbefangen ist, der keinen Vorteil und keinen Nachteil hat, der dort einfach völlig neutral in die Akten guckt. Das geht bis heute nicht. Das kann ich nicht verstehen.

SB: Meinen Sie nicht, daß es ein Bestandteil exekutiver Logik ist, genau diese Kontrolle zu vermeiden?

NJ: Natürlich hat der Dienst ein Interesse daran, weil er Angst hat, dabei erwischt zu werden, wenn er Fehler macht.

SB: Aber trifft das nicht auch auf die Politik zu, weil sie von dem Dienst gegebenenfalls Legitimation für das erhält, was sie tut?

NJ: Dann müßten wir aber damit aufhören, Beamte wegen Untreue oder ähnlichem zu bestrafen. Aus diesem Grund auf Kontrolle zu verzichten wäre grob fahrlässig. Ich glaube in Wahrheit würde es dem Dienst gar nicht schaden, sondern etwas ganz anderes würde passieren. Erstens würde viel sorgsamer gearbeitet, weil man immer der Gefahr ausgesetzt ist, daß morgen einer am Schreibtisch steht und einem auf die Finger schaut. Auf der anderen Seite müßte das in logischer Konsequenz dazu führen, daß Mitarbeiter, die Fehler machen, besser geschützt wären. Es würde den Dienst insgesamt effektiver machen, es würde die Kontrolle effektiver machen, und es würde die Motivation der Mitarbeiter erhöhen, weil sie wissen, wenn ich jetzt wirklich daneben greife, dann stehe ich nicht gleich am Baum, sondern ich werde irgendwo aufgefangen. Fehler geschehen ja nicht alle aus Böswilligkeit. Daß es dazu kommt, ist gerade in einem Nachrichtendienst ein großes Risiko.

SB: Zusätzlich zum Eigeninteresse der Dienste gibt es natürlich ein übergeordnetes politisches Interesse. So setzen die USA ihre geostrategischen Absichten mit relativ rabiaten Mitteln auch gegenüber den eigenen Verbündeten durch. Inwiefern ist der BND, um bei dem Beispiel zu bleiben, empfänglich für Manipulationen seitens eines in dem Fall doch sehr viel stärkeren Bündnispartners?

NJ: Für die CIA oder für den englischen oder französischen Dienst gibt es ja nichts besseres als so einen BND. Die sparen so viel Geld dadurch, daß dieser BND so ist, wie er ist. Deswegen loben sie ihn auch immer. Sie wären ja dumm, wenn sie es nicht täten. Natürlich besteht die Gefahr, daß Mitarbeiter, die offizielle Kontakte zu anderen Diensten unterhalten, sich dort wohler fühlen als in der eigenen Firma. Ich habe das selber in Berlin erlebt. Dort waren wir mit Amerikanern zusammen, und das war eine Einbahnstraße. Wir haben gegeben, die Amerikaner haben genommen, und wir sind mit ein paar Bröseln zufriedengestellt worden. Da war ein großer Kühlschrank, in dem stapelten sich die Spirituosen von unten bis oben. Was man nur wollte, stand zur freien Verwendung. Da hat mancher seine Grillparty mit ausgestattet. Ich war damals noch Raucher, ich habe meine Zigaretten in der Zeit nicht gekauft, sondern habe sie aus dieser Schublade genommen.

SB: Das hilft schon, kleine Geschenke?

NJ: Nein, das ist ein Beispiel dafür, wie dieses Klima ist. Das bleibt ja nicht dabei. Ich weiß, es gab dann Einladungen in die Vereinigten Staaten, mit der ganzen Familie 14 Tagte Hawaii und derartige Dinge. Da war bei mir der Punkt erreicht, an dem ich gesagt habe, das kommt überhaupt nicht in die Tüte. Ich habe mich mit den Amerikanern in der Zeit auch sehr angelegt, weil sie uns einfach betrogen haben. Das ist eine Riesengefahr, und wenn unser Dienst in der Struktur so bleibt, wie er ist, wird man die auch nicht beseitigen können.

SB: Meinen Sie mit der Struktur, daß er nicht genügend von außen kontrolliert wird?

NJ: Daß er nicht kontrolliert wird und die Mitarbeiter zu dem Schluß gelangen, am besten gar nichts zu tun, weil man ansonsten Gefahr läuft, Fehler zu machen und dann fallengelassen zu werden. Das ist auch ein Grund dafür, daß der Alkoholmißbrauch dort so ausgeprägt ist.

SB: In gewissem Ausmaß ist das ein Problem jeder Firma.

NJ: Das stimmt, das habe ich auch immer in bezug auf meine Bücher gehört, so verhält es sich natürlich in jedem Großkonzern. Aber das ist nicht Mercedes oder AEG und nicht Siemens, das ist eine der wichtigsten Bundesbehörden, die wir haben. Und wenn die so wichtig ist, wie das mit dem neuen Gebäude demonstriert wird, dann muß man sich auch besonders darum kümmern! Das macht man komischerweise nicht. Man will viele Dinge aus Angst davor, daß etwas öffentlich werden könnte, nicht wissen, und man verzichtet dann auf Kontrolle, was ich für unverantwortlich halte.

SB: Ich hätte noch eine Frage zu der jüngeren politischen Entwicklung, die Sie natürlich nur von außen beobachten können. Im Verhältnis zum Iran wurde die Bundesrepublik sozusagen zur sechsten Vetomacht aufgewertet, indem sie sich stark daran beteiligt, im diplomatischen Prozeß Druck auf das Land auszuüben. Wie würden Sie die Rolle Deutschlands, auch unabhängig von der Beteiligung des BND, in dieser Entwicklung beurteilen?

NJ: Ich komme noch einmal auf den Neubau des BND in Berlin. Er ist ein Synonym für diese Großmannssucht, die bei uns wieder herrscht. Ich mochte diese Bescheidenheit, daß wir nicht auf jeder Hochzeit mittanzen und nicht an jedem Tisch sitzen müssen. Wir können auch ein Land sein, von dem Frieden ausgeht, das eine friedliche Diplomatie betreibt, das als Mittler zwischen den Mächten agiert. Nein, man bezieht Stellung und zieht die Gefahren auf sich. Man will in einem Chor mitsingen, dem man am Ende nicht Stand halten kann. Wir haben keine Armee, die das leisten kann. Die Wehrpflicht wurde jetzt wieder verkürzt, das Budget wurde reduziert und gleichzeitig will man wieder Muskeln spielen lassen. Ich halte das politisch für einen Riesenfehler. Das ist einfach der falsche Weg. Ich finde, Bescheidenheit wäre eine Zierde.

Ich hätte mir gut vorstellen können, daß man den Verbündeten in der NATO in Verbindung mit dem Irakkrieg sagt, wir können das nicht, wir haben nicht die Ressourcen, weder finanziell noch personell noch materiell. Aber wir können hier in Deutschland zwei Bundeswehrkrankenhäuser aufbauen und euch logistisch unterstützen, wenn ihr Verletzte ausfliegen wollt. Wir können etwas im humanitären Bereich machen, oder wir organisieren die Transporte, ehrlich gesagt, das wäre eine Rolle für Deutschland gewesen. Das wäre auch angemessen in Anbetracht der Geschichte, aber nein, sie müssen jetzt wieder dabeisein, die Generäle müssen sich wieder die Orden umhängen, wo war er schon überall, am Horn von Afrika und überall. Das brauchen wir doch nicht. Wir haben so viele Probleme hier, es gäbe so viel hier zu tun, und ich glaube, es würde uns auch gut zu Gesicht stehen, und die Welt würde es verstehen.

SB: Aber vielleicht nicht die einflußreichen Kräfte, die Interesse an dieser Willfährigkeit haben. Geht das Interesse der Bundesrepublik nicht doch ein wenig über diese Großmannssucht hinaus? Deutschland hat immer gute Wirtschaftsbeziehungen zum Iran unterhalten, doch nun scheint es um neue geostrategische Entwicklungen zu gehen. Ist es nicht auch das Anliegen der Bundesregierung, notwendigerweise oben mitzumischen, um den eigenen Einfluß zu wahren?

NJ: Ich glaube schon, daß das mit ein Grund ist. Ich will auch nicht sagen, daß alles ehrenrührig ist, was dort gemacht wird. Das sind sicherlich Überlegungen. Ich zweifle aber daran, ob das so wichtig ist und ob sie es auch können. Das ist immer die Frage.

SB: Eine Frage noch zum Europäischen Auswärtigen Dienst, der sehr stark von Sicherheitsinteressen besetzt ist und auch über eine eigene Geheimdienstkoordination verfügt. Wie können sich die verschiedenen Geheimdienste der EU-Staaten in so einem Apparat integrieren? Können Sie sich vorstellen, daß es überhaupt eine Zusammenarbeit gibt?

NJ: Es gibt diese Zusammenarbeit natürlich, sie wird jedoch von den Staaten unterschiedlich betrachtet. Ich möchte dies mit einem ganz konkreten Beispiel illustrieren. Ich war mit einem Special Agent der CIA unterwegs. Dieser Spezialagent hat dann auch Berichte geschrieben. Er hatte aber nicht nur den Auftrag, den wir beide zu erledigen hatten - es ging damals um Abzug von Nuklearmaterial aus der ehemaligen DDR -, sondern er hatte auch abzuklären, was der Juretzko für einer ist, was nimmt er zu sich, trinkt er drei oder vier Bier am Abend. Er hat dann einen sauberen Bericht geschrieben. So etwas machen wir nicht. Auf die Idee kommt bei uns überhaupt niemand, weil dieser Dienst auch nicht funktioniert. Das heißt, der BND wird gerne dazu eingeladen, weil die Erkenntnisse, die andere daraus ziehen, natürlich viel größer sind als das, was sie preisgeben. Insofern ist er auch gern gesehen in diesem Chor. Wenn man es aber vom fachlichen her betrachtet, ist es ein Riesendesaster. Es ist ein größerer Schaden als Nutzen.

SB: Wie stehen Sie als Mitglied der Partei Die Linke zur Forderung der Abschaffung der Geheimdienste?

NJ: Die Geheimdienste kann man nicht abschaffen. Geheimdienste müssen bestimmten Regeln, auch bestimmten ethischen Regeln unterliegen. Wie geht man mit menschlichen Quellen um. Für mich würde sich zum Beispiel immer das Kompromat (kompromittierendes Material) verbieten. Das gehört nicht zum Instrumentarium eines Rechtsstaates. Wir haben ja durch die Geschichte der DDR das Problem, daß wir eine sehr oberflächlich geführte Diskussion über das Ministerium für Staatssicherheit führen. Ich vermisse einen differenzierten Blick. Nachdem die Mauer gefallen war, hatten alle für den Frieden spioniert. Die Russen, die Amerikaner, die Franzosen, die Westdeutschen, nur das Ministerium für Staatssicherheit nicht. Und das halte ich für eine sehr verkürzte Betrachtungsweise. Da haben wir mit Sicherheit eine Chance verpaßt. Wir haben dieses Ministerium ja nur als Repressalie verstanden und haben nur diese Inlandsgeschichte gesehen, haben die HVA, also die Hauptverwaltung Aufklärung [Auslandsnachrichtendienst des MfS - Anm.d.Red.], mit in diesen Topf geworfen, und das war ein Kardinalfehler. Vieles, was die gemacht haben, war vom Fachlichen, vom Operativen her so, daß man es hätte übernehmen können.

Man hätte da auch lernen können. Dann wäre man differenzierter mit dieser Problematik Nachrichtendienst umgegangen, hätte nicht diese Schwarzweißmalerei betrieben, hätte vielleicht sogar Mitarbeiter nutzen können. Das wäre unter Sicherheitsaspekten in bestimmten Bereichen sicherlich möglich gewesen, aber darauf hat man verzichtet. Wir haben uns hier hingestellt und gesagt: Wir haben den Krieg gewonnen. Dabei war es der viel schlechtere Nachrichtendienst.

SB: Das bringt mich zu der anfänglichen Frage nach der Loyalität und dem Corpsgeist zurück. Es war ja die politisch erklärte Absicht, die DDR zu delegitimieren, da konnte man mit der sogenannten Stasi dann nichts anderes anfangen und schon gar nicht eingestehen, daß sie womöglich im Agentenkrieg die bessere Mannschaft war.

NJ: Das ist klar. Ich war ja Soldat, kam von der Bundeswehr, und da war die Welt schön einfach. Hier waren die Guten, da waren die Bösen, dazwischen war die Mauer und fertig war's. Nun war die Mauer weg, und ich habe mich in Berlin wiedergefunden, habe gegen Russen aufgeklärt, mußte also russische Quellen finden, und arbeitete nebenbei mit den Amerikanern zusammen. Die Amerikaner waren ja eigentlich die Guten und die Russen waren die Bösen. Dann habe ich aber festgestellt, also so gut waren die doch nicht. Sie haben uns abgehört, sie haben versucht uns zu bestechen, sie haben uns betrogen. Damit ist das Bild den Amerikanern gegenüber nicht grundsätzlich gestört, aber es hat sich verändert. Auf der anderen Seite habe ich Russen kennengelernt, die später Quellen waren, mit denen ich dieselben Gespräche wie mit einem guten Freund geführt habe. Sie hatten Probleme mit ihren Kindern, weil sie in der Schule zu faul waren, die Ehefrau war vielleicht krank oder man hatte finanzielle Schwierigkeiten. Also auch wieder ein ganz anderes Bild, als ich vorher hatte. Da habe ich erst gemerkt, daß dieses Schwarzweißdenken und damals Rotblaudenken eine unwahrscheinliche Gefahr ist. Man begibt sich schnell aufs Glatteis und kommt dann oft zu falschen Schlußfolgerungen. Das war für mich eigentlich die größte Lehre. Nicht zwischen der Herkunft und dem Standort zu differenzieren, sondern zwischen den Menschen, sich die Menschen selber anzuschauen. Es war schon fast peinlich festzustellen, daß man als erwachsener Mensch so lange braucht, um so etwas zu merken. Wir hätten ja aufeinander geschossen.

Das prägt natürlich sehr und hat meine Loyalität nur noch mehr bestärkt. Wir müssen loyal sein zu unserem Staat. Aber der Staat ist nicht der Präsident des Bundesnachrichtendienstes. Er ist auch nicht Frau Kanzlerin Merkel oder irgend einer der Minister, sondern das ist das Ganze. Ich glaube, man muß immer schauen, ob ich eigentlich vor dem Ganzen mit dem, was ich tue, stand halte. Wenn man das tut und ein bißchen Ausdauer und ein bißchen Mut hat, dann schafft man das. Das sehen natürlich die oberen nicht so gerne, die verstehen unter Loyalität eher so etwas wie Kadavergehorsam. Ich glaube, die Bundeswehr erzieht eigentlich auch anders, das Konzept der inneren Führung ist da anders.

SB: Meinen Sie, daß das Konzept der inneren Führung noch Gültigkeit besitzt? Dem steht ja jetzt der archaische Kämpfer gegenüber.

NJ: Wir fallen wieder in alte Zeiten zurück. Ich weiß noch, als ich junger Soldat war, da wurde kurzfristig das feierliche Gelöbnis anberaumt. Die Unteroffiziere der Kompanie sollten vereidigt werden, und ich war in der Mittagspause nach Neuburg an der Donau in den Ort gefahren und hatte mir ein Fischbrötchen gekauft, weil es in der Kantine etwas gab, das ich nicht mochte. Nun kam ich wieder zurück, und der Spieß stand auf der Treppe und sagt: "Mensch Juretzko, wo waren Sie denn? Wir haben doch eben Gelöbnis gemacht, Sie müssen doch noch Ihren Eid ablegen!" Da stand ich dann mit meinem Fischbrötchen und bin rein in seine Stube. Es mußte noch ein Zeuge hinzukommen und dann hieß es "Im Namen der Bundesrepublik Deutschland". Mein Fischbrötchen lag auf dem Tisch und hat einen Fettfleck auf seinen Akten hinterlassen. Nachdem ich meinen Treueschwur abgelegt hatte, habe ich mein Brötchen genommen und bin hinausgegangen. Als ich vor der Tür stand, habe ich gedacht, also das war jetzt eine bizarre Geschichte.

Aber dieses feierliche Gelöbnis vergißt du dein Leben nicht mehr, und ich habe mir in dem Moment versprochen, es um so ernster zu nehmen. Das hat natürlich am Ende zu den Konflikten mit dem Dienst und mit all diesen Dingen geführt.

SB: Herr Juretzko, wir bedanken uns für das lange Gespräch.

Norbert Juretzko mit SB-Redakteur - © 2010 by Schattenblick

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28. Juli 2010