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INTERVIEW/064: Mit Wolfgang Joithe, Bürgerschaftsabgeordneter der Partei Die Linke (SB)


In der Hamburger Bürgerschaft und in seinem Ladenbüro auf dem Dulsberg setzt sich Wolfgang Joithe insbesondere für die Belange von Hartz IV-Betroffenen ein. Auf dem Hamburger Parteitag der Linken am 8. Januar, wo dieses Interview stattfand, wurde Joithe auf Platz 10 der Landesliste zur Bürgerschaftswahl am 20. Februar 2011 gewählt.

Wolfgang Joithe - © 2011 by Schattenblick

Wolfgang Joithe
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Schattenblick: Herr Joithe, könnten Sie unseren Lesern bitte erklären, welche Ämter sie als Mitglied der Partei Die Linke in Hamburg bekleiden?

Wolfgang Joithe: Ich bin seit Juni 2008 Vizepräsident der Hamburgischen Bürgerschaft und als Abgeordneter der Linkenfraktion seit März 2008 sozialpolitischer Sprecher der Linken in der Bürgerschaft.

SB: Ein Schwerpunkt Ihrer politischen Arbeit liegt in ihrem Engagement für Hartz IV-Empfänger. In diesem Rahmen waren Sie maßgeblich an der Gründung der AG Arbeit und Armut beteiligt.

WJ: Die AG Arbeit und Armut wurde von mir und anderen im Dezember 2005 in Hamburg gegründet. Ich war im Erwerbslosenrat bei ver.di und bin 2005 in die Linkspartei PDS gekommen, wie sie zu diesem Zeitpunkt hieß, bis sie sich 2007 nach der Fusion mit der Wahlalternative Soziale Gerechtigkeit (WASG) in Die Linke umbenannte.

SB: Waren Sie da selber noch Hartz IV-Empfänger?

WJ: Ich war bis zu meinem "Einzug" in die Bürgerschaft im März 2008 erwerbslos. Das heißt auch Hartz-IV-Geschädigter und Bezieher von Arbeitslosengeld II.

SB: Ist die Bundesarbeitsgemeinschaft Hartz IV, der die AG Arbeit und Armut angehört, eine selbständige Parteiorganisation?

WJ: Ein sogenannter Zusammenschluß, der vor etwa anderthalb Jahren auf Bundesebene gegründet wurde und deren Vorsitzender Werner Schulten im Parteivorstand der Bundespartei ist. Aus diesem Grund nennt sich die alte Arbeitsgemeinschaft Arbeit und Armut seitdem Landesarbeitsgemeinschaft Hartz IV und ist praktisch Bestandteil der Bundesarbeitsgemeinschaft.

SB: Sind viele Mitglieder selbst betroffen von Hartz IV?

WJ: Die meisten sind selbst betroffen. In der Landesarbeitsgemeinschaft in Hamburg sind zwar einige, die in Erwerbsarbeit sind, aber der Großteil ist nach wie vor Hartz IV-geschädigt.

SB: Die Linke fordert die Abschaffung von Hartz IV. Inwiefern ist das in der Partei konsensfähig oder gibt es da auch widerstreitende Meinungen?

WJ: Über die Abschaffung von Hartz IV gibt es eigentlich keine widerstreitende Meinungen. Für Die Linke ist klar, daß es sich hier um ein Gesetz handelt, das von vornherein so nicht tragfähig war, das zur Armut nicht nur beigetragen, sondern zusätzlich Armut geschaffen hat. Man ist sich in der Diskussion jedoch uneins darüber, wie es abgeschafft werden soll. Da gibt es eine einfache und schnelle Lösung, für die man auch durchaus einen Konsens bekommen kann, wonach der derzeitige Regelsatz auf 500 Euro erhöht wird, plus Warmmiete und das Ganze repressionsfrei. Das wäre ein Einstieg, der die Verhältnisse der Betroffenen entscheidend verbessert. Darüber hinaus muß man sich allerdings darüber verständigen, wie eine sogenannte Grundsicherung aussehen könnte. Da gibt es die Möglichkeit der bedarfsgerechten Grundsicherung, wobei sich die Frage stellt, wer den Bedarf bestimmt. Eine andere Strömung tritt für ein bedingungsloses Grundeinkommen ein. Da wäre die Frage der Finanzierung zu klären, um sich einigen zu können. Grundsätzlich aber gilt, daß die Repressionen, wie sie tagtäglich hier auf der ARGE vorkommen und die durch die Hartz IV-Gesetze nicht nur begünstigt, sondern befördert werden, abgeschafft werden müssen.

SB: Ein-Euro-Jobs gehen mit einem ziemlichen Ausmaß an Entrechtung einher. So gibt es, anders als in normalen Erwerbsarbeitsverhältnissen, für Ein-Euro-Jobber nicht die Möglichkeit, sich gewerkschaftlich zu organisieren. Könnte man sagen, daß sie im Grunde genommen zwangsverpflichtet werden?

WJ: Ja, nach meiner Ansicht sowieso. Wir haben es sowohl im Bundestag als auch hier in den Bezirksparlamenten - als auch ich habe in der Bürgerschaft - klargestellt, daß es sich um Zwangsarbeit handelt. Das ist nicht unproblematisch, weil argumentiert wird, man würde die Opfer des Nationalsozialismus verhöhnen. Dazu muß man feststellen, daß der Nationalsozialismus Menschen durch Arbeit vernichtet hat. Da ist schon ein gewisser Unterschied. Die International Labour Organisation (ILO) hat schon im Jahre 1929 definiert, was Zwangsarbeit ist, und das läßt sich auf Ein-Euro-Jobs anwenden. Argumentiert wird grundsätzlich, der wäre freiwillig und es gäbe Wartelisten mit entsprechend vielen Menschen, die diese Ein-Euro-Jobs machen wollen. Das ist nicht verwunderlich bei einem derzeitigen Regelsatz von 359 Euro, wenn man die fünf Euro der wahnsinnigen Erhöhung, die jetzt kommen soll, nicht berücksichtigt. Davon kann man nicht leben. Das kann ich aus eigener Erfahrung sagen, schließlich habe ich das drei Jahre miterlebt. Zum einen melden sich die Leute dazu, damit ihnen die Decke nicht auf den Kopf fällt. Zum andern gelangen sie mit den 140 bis 160 Euro überhaupt auf einen Satz, mit dem man einigermaßen an der Gesellschaft teilhaben kann. Interessanterweise kommt man so auf etwa 500 Euro, wie von uns gefordert wird.

SB: Arbeitsministerin von der Leyen hat eine politische Initiative zur Bürgerarbeit in Gang gesetzt, die Ein-Euro-Jobs auf lange Sicht ablösen soll. Wie stehen Sie zu dieser sogenannten Bürgerarbeit?

WJ: Das ist alter Wein in neuen Schläuchen. Die Bürgerarbeit wird sich genauso schwierig gestalten. Da wird noch einiges an Arbeit auf uns zukommen.

SB: Ist damit nicht die Gefahr einer Institutionalisierung nicht entlohnter Arbeit verbunden, also der Reproduktionsarbeit, wie sie überall anfällt und von den Menschen meist einfach so erledigt wird?

WJ: Da gebe ich Ihnen völlig Recht. Wir haben schon jetzt eine Situation auch in Hamburg, daß der Senat die Ein- Euro-Jobs aus Kostengründen entscheidend zurückgeführt hat. Es gab in der Stadt rund 12.500, teilweise sogar 14.000 Ein-Euro-Jobs. Die sind inzwischen auf circa 7.500 abgebaut worden. Die Absicht ist, wenn ich mich recht entsinne, sie weiter auf etwa 5.000 herunterzuschrauben. Dann aber haben diejenigen, die von den Ein-Euro-Jobs profitierten, wie zum Beispiel das Kindermuseum "Klick", plötzlich niemanden mehr, der ihnen das Museum führt. Sie kommen dann zu den Bezirksabgeordneten und sagen: "Ihr müßt etwas tun, es müssen wieder Leute her, denn sonst können wir nicht weitermachen." Daran zeigt sich ganz klar, daß die sogenannte Zusätzlichkeit, die bei den Ein-Euro-Jobs gewährleistet sein muß, überhaupt nicht vorhanden ist, sondern daß mit Menschen, die Transferleistungen beziehen und dazu eine entsprechende Aufwandsentschädigung bekommen, Daseinsvorsorge betrieben wird, wie das so schön politisch in der Stadt heißt - ob nun durch das sogenannte Stadtbegleitgrün oder bei der Hilfe in irgendwelchen Museen. Anstatt voll sozialversicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse zu schaffen, wurden sie von der Stadt durch Ein-Euro-Jobber ersetzt. Unsere Forderung besteht genau darin, das abzuschaffen und für diese Bereiche, seien es Altenpflege, Bildung oder das sogenannte Stadtbegleitgrün, wieder voll versicherungsfähige Arbeitsplätze einzurichten, wie sie vorher vorhanden waren und das auch weiter auszubauen.

SB: Bei dem Modell der Bürgerarbeit soll es auch darum gehen, die Kosten, die bisher bei den Trägern der Ein-Euro-Jobs anfallen, einzusparen. Bisher bekommen sie Geld dafür, daß sie diese Arbeitsstellen zur Verfügung stellen.

WJ: Ja, die kriegen erhebliches Geld dafür, und deshalb sollen sie auch erhalten werden. Das ist ja der Grund, warum sie überhaupt in dieser Art und Weise bestehen. Wir sprechen da von einem regelrechten Trägersumpf. Alle profitieren davon, daß sie diese Spielsteine haben, nämlich die Erwerbslosen, die bei ihnen mehr oder minder sinnvolle oder nicht-sinnvolle Arbeit leisten und letztlich sicherstellen, daß der Overhead, der Verwaltungskopf und der Geschäftsführer, am Ende des Monats entsprechend entlohnt werden. Das ist gar keine Frage.

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Bei der Bürgerarbeit wird sich das ein bißchen verschieben. Aber ich denke, daß die Träger, solange dieses System Bestand hat, genügend Phantasie besitzen werden, um zum einen entsprechende Schlupflöcher zu finden, wie sie es bei den Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen auch getan haben, als sie 2005 bis auf einen, der dann Pleite gegangen ist, auf Ein-Euro-Jobs umsattelten. Zum anderen besteht die Gefahr, daß die sogenannten Bildungspakete von Frau von der Leyen auch durch diese Trägerschaft aufgegriffen werden könnten, um da nocheinmal entsprechende Gelder zu generieren.

SB: Könnte man von einer Korrumpierung potentieller Gegner derartiger Zwangsverpflichtungen sprechen? Ließe sich das möglicherweise als eine politische Strategie begreifen, oppositionelle Institutionen oder Teile der Bevölkerung in solche Konzepte einzubinden?

WJ: Wenn niemand in der Stadt oder in der Kommune die Not bewältigen will, dann besteht keine Veranlassung dazu, diese Daseinsvorsorge von anderen übernehmen zu lassen. Kommunen, denen das Wasser bis zum Hals steht, müssen sich tatsächlich überlegen, wie sie Projekte wie Stadtbegleitgrün, Kindermuseen oder Schulkantinen weiterführen. Dafür bietet sich die Armee von Erwerbslosen an. Das war politisch durchaus gewollt. Die Bürgerarbeit ist in diesem Sinne ein weiterer Schritt dahin, was politisch verwirklicht werden soll, wenn gesagt wird: "Da hast du eine Leistung, das ist eine Transferleistung. Dafür mußt du etwas tun." Das ist die Fortführung dessen, was man im Grunde mit dem Ein- Euro-Job vorsichtig eingeführt hat. Jetzt soll Bürgerarbeit geleistet werden, um sicherzustellen, daß ein großer Teil der Bevölkerung, der noch in Arbeit steht, sagt: "Ja, die sollen auch etwas dafür tun." Damit wird aber genau denen der Job wieder abgegraben. Diesen Punkt gilt es, immer wieder neu zu vermitteln.

SB: Bei der Bedarfsgemeinschaft werden Menschen in die Pflicht genommen, die in einem verwandtschaftlichen oder Eheverhältnis zum Leistungsempfänger stehen, möglicherweise betrifft das auch Wohngemeinschaften. Wie beurteilen Sie die Absicht zur Schaffung solcher Strukturen in Bezug auf die Solidarität unter Menschen, die gut zusammenleben könnten, wenn nicht ein materieller Keil zwischen sie getrieben würde?

WJ: Eben deshalb fordern wir auch auf Bundesebene die Abschaffung dieser Bedarfsgemeinschaften und insbesondere derer, die in sogenannten eheähnlichen Verhältnissen leben. In den Fortführungsgesetzen vom 1.6.2006, eine Verschärfung der Hartz IV-Gesetze, denen übrigens alle fünf Abgeordneten der Hamburger SPD zugestimmt haben, wurde die Beweislastumkehr eingeführt. Wenn das Jobcenter von der Annahme ausgeht, daß eine Bedarfs- oder eheähnliche Gemeinschaft vorliegt, müssen die Betroffenen den Gegenbeweis erbringen. Nach einigen Gerichtsurteilen gilt das für Männer und Frauen, wenn sie ein Jahr zusammenwohnen, bei Gleichgeschlechtlichen gucken sie dann schon ein bißchen eher, ob das annehmbar ist. Grundsätzlich will man Menschen, die sich bewußt gegen eine Heirat entscheiden, durch die Annahme einer Bedarfsgemeinschaft, einer eheähnlichen Gemeinschaft, in diese Einstandsgemeinschaft, wie sie rechtlich im Raume steht, hineinzwingen. Das ist für mich schlechthin verfassungswidrig.

Allerdings hat das Verfassungsgericht bis dato in dieser Sache noch nicht entschieden. Wir sind für die Abschaffung der Bedarfsgemeinschaft, wir sind dafür, daß es jeweils immer um einen Einzelfall geht. Ansonsten wird der Repression Tür und Tor geöffnet, vor allem wenn man bedenkt, wie das teilweise in der Presse dargestellt wird. Es geht eben nicht um die Kuhle im Bett, sondern darum, ob ich für den anderen einstehe, wenn er in Not gerät. Irgendwo klar ist dann schon, wenn man ein gemeinsames Kind hat, dann kann man so etwas annehmen. Wenn man aber lediglich mit einem anderen zusammenwohnt, kann nicht generell von einer Bedarfs- oder Einstandsgemeinschaft ausgegangen werden. Das müßte jeweils gerichtlich geklärt werden.

SB: Das Bundesverfassungsgericht hat im Februar 2010 noch einmal die Unantastbarkeit der menschlichen Würde hervorgehoben. Wie werten Sie das Urteil, wenn im Verhältnis dazu herauskommt, daß Minimalteilhabe definiert wird und massive Einkommens- und Klassenunterschiede festgeschrieben werden?

WJ: Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil nicht entschieden, daß die Regelsätze verfassungswidrig sind, weil sie zu hoch seien. Bemängelt wurde lediglich, daß die Berechnungsgrundlage nicht transparent sei, was bei dieser wahnsinnigen Erhöhung von fünf Euro auch noch nicht der Fall ist, auch wenn Frau von der Leyen behauptet, die Berechnungsgrundlage sei jetzt nachvollziehbar. Das ist nicht erreicht worden.

Die grundsätzliche Frage lautet: Wo hört Teilhabe auf und wo fängt sie an? Sie hört sicher nicht da auf, wo ich gerade einmal meinen Lebensbedarf bezüglich von Lebensmitteln und Wohnraum decken kann, sondern Teilhabe hat durchaus mit Kultur zu tun, mit Mobilität, wie wir heute ja formuliert haben. Also muß ein wirkliches Sozialticket und Ähnliches her. Das muß erkämpft werden, notfalls auch über die Gerichte. Aber nicht alles läßt sich vor Gericht verhandeln. Ich sehe das grundsätzliche Problem, an dem auch wir als Partei nach wie vor arbeiten und worüber wir aufklären müssen, gerade darin, die Diskrepanz zwischen den Erwerbslosen und den noch in Erwerb Stehenden aufzuheben. Also das, was man als "teile und herrsche" bezeichnet, wenn der Geringverdiener meint: "Ich verdiene noch, ich bin nicht von Transferleistungen abhängig, aber der da unten, der ist der Schlechtere". Dieser Aufgabe müssen wir uns stellen.

SB: Inzwischen hat sich ein Subproletariat aus dauerhaft Erwerbslosen herausgebildet, das seine Herkunft zwar in der Arbeiterklasse hat, doch nicht von ungefähr als "abgehängt" bezeichnet wird. Wie ließe sich erreichen, daß die Betroffenen ein Klassenbewußtsein entwickeln, das ihre Situation, in einer Gesellschaft auf Geld angewiesen zu sein, in der man nicht mehr auf archaische Weise überleben kann, wirksam als Anspruch auf eine angemessene Versorgung artikuliert?

WJ: In meinem Abgeordnetenbüro auf dem Straßburger Platz versuche ich, genau den Menschen, die betroffen sind, zu vermitteln, welche Rechte sie eigentlich haben. Wir haben eine wöchentliche Sozialrechtsberatung mit einer Juristin, die in diesen Fällen sehr erfahren ist. Wir bemühen uns im Grunde darum, den Rücken gerade zu kriegen. Ich habe bei meinen Veranstaltungen 2005 zum Hartz IV-Thema gemeinsam mit einem anderen Genossen erlebt, daß Leute zu uns kamen und sagten: "Wir finden das toll, wie ihr euch wehrt, aber wir schämen uns so." Dieses Schämen ist das eigentliche große Problem, das überwunden werden muß. Die Leute müssen wissen, daß sie ein Recht auf Teilhabe haben und nicht resignieren, nur weil sie 50 sind - ich war 53 - und plötzlich feststellen, nicht mehr gebraucht zu werden. Das gilt auch, wenn man eine ziemlich variantenreiche Arbeitsbiographie hat, man also durchaus flexibel ist. Man bekommt allein aufgrund des Alters keinen Arbeitsplatz mehr und sinkt auf Sozialhilfeniveau ab. Das Problem wird größer, je länger die Erwerbslosigkeit andauert. Ich habe es mit Leuten zu tun, die praktisch seit 2005 Arbeitslosengeld II beziehen. Da treten häufig Veränderungen im psychischen Bereich auf, weil der Verlust der Teilhabe einen Rückzug in die eigene Wohnung, in der aus Kostengründen vielleicht nicht einmal mehr das Internet zur Verfügung steht, zur Folge hat. Es ist schwierig, die Leute da wieder herauszuholen.

SB: Sie selbst sind ein Beispiel für die Möglichkeit der Politisierung aus dieser Situation heraus. Erweckt das nicht Mut bei den Betroffenen, sich zu solidarisieren und zu kämpfen? So werden etwa beim Erwerbslosenforum gemeinsame Amtsbesuche unternommen und ähnliches.

WJ: Solche Angebote haben wir auch von Anfang an gemacht. Mit meiner Biographie kann ich sicherlich ein ermutigendes Beispiel geben, aber es ist ein langwieriger Prozeß, der nicht so sehr auf eine Massenmotivation abzielt. In diesem Bereich der Politik vor Ort habe ich es mit einzelnen Personen zu tun. Vor einem halben Jahr ist eine Frau zu uns gekommen, die mehrere Ein-Euro-Jobs hinter sich hatte, völlig verstört war und häufig geweint hat. Sie war zunächst in der Sozialrechtsberatung. Wenn sie sich in einer öffentlichen Veranstaltung hinstellt und ihre Situation ruhig schildert, ohne in Tränen auszubrechen, und dabei ziemlich analytisch vorgeht, dann muß ich schon sagen, habe ich manchmal das Gefühl, daß wir das Richtige machen.

SB: Befürchten Sie eine stärkere Orientierung nach Rechts unter Langzeiterwerbslosen? Daß Demagogen wie Sarrazin es schaffen, diese Menschen davon zu überzeugen, daß Muslime, Türken oder wer auch immer an ihrem Schicksal schuld sind?

WJ: Ich denke, daß es dabei nicht einmal unbedingt um die Ausländerfrage oder um die Frage des Migrantenhintergrundes geht. Ich glaube, daß das in sich eine Gefahr ist, von der wir wissen und mit der wir umgehen müssen und wo wir sehen müssen, daß wir die Betroffenen möglichst an uns binden. Gerade weil ihre finanzielle Situation und Teilhabe keinesfalls gesichert ist und viele schon psychisch entsprechenden Schwankungen ausgesetzt sind, sind sie in ihrer Sympathie zu einer Partei und auch in ihrem Wählerverhalten sicherlich nicht sehr stabil. Diesen Rechtsruck so weit wie möglich zu verhindern, ist denn auch eine ganz besondere, zusätzliche Aufgabe. Da steht uns ansonsten nichts Gutes ins Haus.

SB: Herr Joithe, vielen Dank für das Gespräch.

WJ: Ich bedanke mich für Ihr Interesse.

Wolfgang Joithe mit SB-Redakteur - © 2011 by Schattenblick

Wolfgang Joithe mit SB-Redakteur
© 2011 by Schattenblick

14. Januar 2011