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INTERVIEW/128: Rolf Geffken zum Arbeitskampf in China (SB)


Interview mit Dr. Rolf Geffken am 20. August in Hamburg


Dr. Geffken in der Nahaufnahme - Foto: © 2012 by Schattenblick

Dr. Rolf Geffken
Foto: © 2012 by Schattenblick

Dr. Rolf Geffken gehört in Deutschland zu den besten Kennern der chinesischen Arbeitswelt. Der Chef der Hamburger Anwaltskanzlei RAT & TAT und Gründer des Instituts für Arbeit (ICOLAIR) hat zum Thema der Arbeitskämpfe in der Volksrepublik in den vergangenen Jahren viele Artikel und Bücher veröffentlicht, an der Spitze einen dreisprachigen, auf Chinesisch, Deutsch und Englisch verfaßten Kommentar zum neuen chinesischen Arbeitsgesetz. In den vergangenen Wochen hat Dr. Geffken in Hamburg eine Reihe von Vorträgen über China gehalten, von denen der Schattenblick zwei beiwohnen konnte und über die wir inzwischen berichtet haben. [1] [2] Am Rande der zweiten dieser Veranstaltungen, "China für Betriebsräte - Arbeitskonflikte im Reich der Mitte" im DGB-Haus, führten wir mit Dr. Geffken folgendes Gespräch.

Schattenblick: Dr. Geffken, woher kommt Ihr Interesse an den Verhältnissen in der Volksrepublik China?

Dr. Rolf Geffken: Das Interesse datiert weiter zurück und hat hauptsächlich mit den Arbeitsbeziehungen in Asien zu tun, die in meiner Biographie noch früher ansetzen. Ich war über viele Jahre hinweg Anwalt für ausländische Seeleute. Ab einem bestimmten Zeitpunkt wurde in Deutschland ein internationales Seeschiffahrtsregister eingeführt, demzufolge die Arbeitsbedingungen der Heimatländer von Seeleuten unmittelbar auf deutschen Schiffen zugrunde gelegt werden sollten. Das betraf in der Hauptsache Philippinos, und deswegen habe ich mich ganz besonders mit dem philippinischen Arbeitsrecht vertraut gemacht. Ich war auch mehrmals auf den Philippinen, wo ich Forschungen betrieben und Vorträge gehalten habe. Außerdem habe ich ein Buch darüber geschrieben. Darauf folgten dann auch Abstecher nach Taiwan und Singapur. Ich war anschließend auch in Indien und habe entsprechende Fachliteratur veröffentlicht. Irgendwann tauchte in meinem Horizont natürlich China auf. Aber ich hatte zunächst davon abgesehen, eigene Forschungsreisen zu unternehmen. Statt dessen habe ich mich an die heute noch als Chinaexperten gerühmten Koryphäen orientiert und eine Vielzahl von Konferenzen besucht, auf denen auch diese namhaften Leute Reden hielten. Ich mußte dann jedoch nach der der dritten oder vierten Konferenz feststellen, das mein Thema, die Arbeitsbeziehungen, und -konflikte, überhaupt das Arbeitsrecht, eigentlich von niemanden bearbeitet wurde. Das war für mich der Anlaß, 2003 erstmals nach China zu reisen. Dann hat eins zum anderen geführt. Bereits im Jahr darauf hatte ich die erste deutsch-chinesische Konferenz zum Arbeitsrecht an der Zhongshan-Universität organisiert. Später folgten viele weitere Veranstaltungen wie die erste deutsch-chinesische Anwaltskonferenz in Tianjin und schließlich diese Konferenz zum Thema China und die Gewerkschaften an der Universität Oldenburg. Das waren so die wichtigsten Etappen, aber daneben gab es auch Buchveröffentlichungen und Projekte.

SB: Inwieweit ist das neue Arbeitsgesetz von 2008 Ihrer Meinung nach eine Verbesserung im Vergleich zur Fassung von 1995?

RG: Sie ist vor allem deshalb eine Verbesserung, weil das Gesetz von 1995 die Wanderarbeiter nicht erfaßt, das jetzige aber schon. Daneben gibt es eine ganze Reihe von weiteren Regelungen. Das alte ist ja nicht außer Kraft getreten, sondern gilt weiterhin, nur daß das neue ein Spezialgesetz ist, das jeweils dann zur Anwendung kommt, wenn das alte Gesetz Regelungen enthält, die inhaltlich den gleichen Gegenstand betreffen. In diesen Fällen gilt eben das neue Gesetz. Ansonsten gibt es jede Menge Standards, die selbst bei uns nicht eingehalten werden wie zum Beispiel eine restriktive Handhabung der Leiharbeit. Darüber hinaus gibt es Regelungen in bezug auf Kündigungsschutz und Abfindungszahlungen, auf Vergütung von Überstunden und dergleichen mehr, die eben in unseren gesetzlichen Regelungen, aber auch in den meisten europäischen arbeitsgesetzlichen Regelungen nicht enthalten sind.

SB: Hat das neue Gesetz der Regierung die Möglichkeit gegeben, die Arbeitskonflikte beziehungsweise den Arbeitskampf zu kanalisieren, oder hat es diese möglicherweise sogar noch verschärft?

RG: Das ist mit einem Satz schwer zu sagen. Das Entscheidende ist erst einmal, und das wird oft vergessen, daß in China viele Individualrechtsstreitigkeiten geführt werden, das heißt, daß einzelne Arbeitnehmer ihre Rechte auch unmittelbar über die Arbeitsverwaltung wahrnehmen. Das hat sich durch das neue Gesetz erheblich verschärft, obwohl dies nach dem alten Gesetz ebenfalls möglich war. Aber dieser Weg ist den Betroffenen jetzt vor allem durch die Kampagne vor Inkrafttreten des Gesetzes empfohlen worden. Für die kollektiven Arbeitskonflikte hat dies indirekt eine Rolle gespielt, worauf ich schon immer hingewiesen habe. Heute habe ich gelesen, daß Frau Schan, eine Professorin aus Australien, diese viel zu lang vernachlässigte Geschichte endlich aufgegriffen hat, eben daß die Propagierung dieses Gesetzes natürlich auch dann, wenn das Gesetz von den Unternehmen nicht eingehalten wird, zu einer größeren Konflikt- und kollektiven Streikbereitschaft führt, und nicht dazu, daß die Leute ihre Rechte nur auf dem Wege von Individualklagen geltend machen, sondern gegebenenfalls auch ihre Arbeit niederlegen.

SB: In welchem Ausmaß tragen westliche Unternehmen zu den negativen Aspekten des Arbeitsalltags in China bei?

RG: Auch da gibt es verschiedene Schattierungen. Man muß sicherlich einerseits zwischen taiwanesischen Investoren oder solchen aus Hongkong und westlichen Investoren andererseits unterscheiden. Bei den westlichen Investoren muß man wiederum zwischen denen, die Direktunternehmen, Produktionsfirmen bzw. -stätten in China unterhalten, und denen, die in China produzieren lassen und selber gar nicht in Erscheinung treten, unterscheiden. Das müssen nicht unbedingt Subunternehmen sein. Große Handelsketten wie Carrefour, Wal-Mart und Metro, die dort ihre eigentlichen Produktionsstätten besitzen, gehören dazu. Wenn man die klassischen chinesischen Produktionsfirmen einmal außenvor läßt, dann ist die Rolle der Unternehmen, die dort produzieren lassen - zu ihnen gehört zum Beispiel auch Apple -, aus meiner Sicht besonders verheerend, weil man in der Tat nachweisen kann, daß diese Firmen, und Wal-Mart ist ein gutes Beispiel dafür, die Vertragskonditionen mit den chinesischen Lieferanten extrem zu drücken versuchen. Ohne das jetzt entschuldigen zu wollen, haben viele dieser chinesischen Unternehmen vor Ort einen ganz geringen Spielraum und geben den Druck, der auf ihnen lastet, in jedem Fall an die Arbeiter weiter.

Interviewszene - Foto: © 2012 by Schattenblick

SB-Redakteur und Dr. Geffken
Foto: © 2012 by Schattenblick

SB: Es ist allgemein bekannt, daß Wal-Mart eine extrem gewerkschaftsfeindliche Position einnimmt. Besteht nicht die Gefahr, daß Firmen wie Wal-Mart in China Standards durchzudrücken versuchen, um diese in der Folge in den Westen zurückimportieren zu können, und zwar mit dem Argument, daß man sich an den Wettbewerb aus China anpassen müsse.

RG: Das glaube ich nicht, weil Wal-Mart nicht erst dazu bekehrt werden müßte, daß Gewerkschaften sozusagen des Teufels sind. Davon gehen sie, wie auch viele andere US-amerikanische Firmen, seit jeher aus. Das Besondere bei Wal-Mart besteht ja gerade darin, daß es diese Philosophie eins zu eins auf China zu übertragen versucht. Das war natürlich eine ziemliche Dummheit, denn es hat dazu geführt, daß die chinesischen Gewerkschaften jedenfalls teilweise eine zusätzliche Legitimation bekamen. Ihr Ansehen unter den chinesischen Arbeitern war gering, aber Wal-Mart hat dazu beigetragen, daß es zumindest zeitweise angewachsen ist. Man hat dann auch auf entsprechenden politischen Druck Gewerkschaften in China zugelassen. Welche Art von Betriebsgewerkschaften das im einzelnen sind, ist ein Kapitel für sich, aber man hat dem politischen Druck durchaus nachgegeben und sich mit den Verhältnissen vor Ort arrangiert. Allerdings glaube ich, daß man die Methode, Gewerkschaften wenn möglich durch die Errichtung von Betriebsräten zu bekämpfen, wie dies zum Beispiel in Deutschland geschieht, beibehalten wird, ganz unabhängig davon, was in China vor sich geht. Und genau das Gleiche wird man machen, wenn man nach Vietnam oder Bangladesch geht. Vielleicht wird ein wenig hinzugelernt, auch US-amerikanische Unternehmen sind schließlich lernfähig.

Konkret bedeutet dies, daß es unter Umständen besser ist, eine Gewerkschaft nicht einfach zu verhindern, sondern sie von vornherein so zu polen, daß sie im Unternehmensinteresse arbeitet. Es kommt in China ohnehin oft vor, daß das Management die Gewerkschaften selber leitet. Auch von zahlreichen Wal-Mart-Gewerkschaften wird ähnliches behauptet. In China wird man diese Art der Anpassung sicherlich vollzogen haben. Und möglicherweise wird man auch versuchen, sie in anderen Ländern anzuwenden. Aber das ist reine Spekulation. Ich glaube nicht, daß Wal-Mart durch die Ereignisse in China sehr viel gelernt hat, und genauso wenig glaube ich, daß sie die dort angewandten Methoden woanders importieren werden, weil diese von ihnen ohnehin ständig angewandt werden, egal, wo sie sind.

SB: Wie können sich Arbeiter im Westen beziehungsweise in China gegenseitig im Arbeitskampf gegen die Großunternehmen unterstützen, auch in ihrer Rolle als Konsumenten, um in Kampagnen bestimmte Mindeststandards von den Herstellern einzufordern?

RG: Darüber gibt es auch von einigen wenigen westlichen Experten schlaue Untersuchungen. Mich wundert allerdings, daß in diesen Analysen tunlichst darüber hinweggegangen wird, daß es trotz aller Internetkommunikation keine Möglichkeit zum Aufbau wirklicher Organisationen gibt. Es geht ja nicht einfach um das Thema freier Gewerkschaften. Es geht auch darum, daß praktisch kein regelmäßiger Austausch von Streikenden stattfindet. Es hat zwar immer Streikführer gegeben, aber keine Anleitung oder Unterstützung für Streikaktionen. Es ist ja kein Geheimnis, daß Gewerkschaftsbewegungen nicht nur in der Geschichte westlicher Industrienationen nicht allein von Spontaneität leben können. Letztlich geht es darum, inwieweit bestimmte Führungsqualitäten entwickelt werden. Das schließt natürlich auch Organisationsstrukturen mit ein, aber die gibt es eben nicht. Das heißt, man ist im Grunde genommen immer nur auf sehr spontane eruptive Kommunikation über das Internet angewiesen. Auf Dauer wird das dazu führen, daß die Erfolge, die man jetzt wiederholt erlebt hat, nicht unbedingt von Bestand sein werden. Vielmehr werden sich die Unternehmen an die Situation anpassen und sich Schritte überlegen, um solchen Streiks begegnen zu können.

Ich habe gar keinen Zweifel, daß man das mit Hilfe des chinesischen Strafrechts und auch der politischen Strukturen schaffen kann, falls man entsprechend Gelegenheit dazu findet. Man darf also die Situation, wie sie sich jetzt in China darstellt, nicht idealisieren. Sie ist sehr brüchig, vor allem deshalb, weil inzwischen ein so hohes Maß an Streikbewegung erreicht ist, daß man sie nur noch durch eine Mindestanforderung an Organisationsstrukturen bewahren und weiterführen kann. Und es sieht nicht danach aus, daß sie von den herrschenden Gewerkschaften geschaffen werden. Aber wenn es keine alternativen, also überbetriebliche Organisationsformen gibt, beispielsweise durch Konferenzen, Austausch mit Experten und so weiter, und man immer nur auf spontane Diskussionen über das Internet angewiesen ist, dann wird es, falls China in eine krisenhafte wirtschaftliche Entwicklung kommt, sehr schwierig werden. Dann kann es passieren, daß eine spontane Streikbewegung, mag sie auch in großem Umfang in Erscheinung treten, unter Umständen plötzlich implodiert. Nur durch Organisationen ließe sich das verhindern, aber die zeichnen sich zur Zeit nirgends ab.

SB: Unter Gerhard Schröder ist ein deutsch-chinesischer Dialog geschaffen worden. Wie ist der neuste Stand in dieser Entwicklung?

RG: Der sogenannte Rechtsstaatsdialog ist im wesentlichen eine Chimäre. Ich weiß, wovon ich rede, denn ich saß über mindestens fünf Jahre mit am runden Tisch und habe immer wieder versucht, auch eigene Impulse zu geben. Aber letztlich war insbesondere meine Initiative, aber auch die von anderen, nicht sonderlich erwünscht. Die große Mehrzahl der daran beteiligten Institutionen betreibt diesen Dialog vor allem aus eigennützigem Interesse. Das gilt nicht nur für Unternehmen, die ohnehin sehr eigennützige Interessen haben, sondern auch für den akademischen Hochschulbereich. Denn hier geht es um Geld und Projekte. Die Leisetreterei, mit der insbesondere auch im Hochschulbereich Themen aufgegriffen werden, ist geradezu Legende. Man sollte nicht glauben, daß deutsche Intellektuelle nach China fahren und ihre Stimme besonders kritisch erheben. Davon kann überhaupt nicht die Rede sein. Es ist eher so, daß die Chinesen unter sich viel kritischer diskutieren als mit deutschen Experten. Das liegt auch daran, daß der Wissensstand gerade von Juristen in bezug auf China zum Teil ausgesprochen marginal ausgeprägt ist.

Es gab kürzlich eine Veröffentlichung eines Experten vom Max-Planck- Institut für internationales Privatrecht, der sehr vorsichtig, aber doch deutlich genug die Meinung vertrat, daß sich bei einigen dieser Treffen immer wieder herausgeschält habe, daß die Chinesen über die Verhältnisse hier weitaus besser informiert waren als so mancher deutsche Hochschullehrer in bezug auf das deutsche oder auch chinesische Recht. Das heißt, weder von der Qualität noch von der Interessenausrichtung als auch von den politischen Rahmenbedingungen her kann man diesen Dialog als ernsthaft bezeichnen. Das war ja von Gerhard Schröder und teilweise auch von Helmut Kohl, der als Vorgänger von Schröder schon damit angefangen hatte, so intendiert. Der Dialog dient im wesentlichen dem Argument, daß wir keine Sanktionen im Umgang mit China brauchen. So hat Ulrich Klose, ein bekannter Abgeordneter aus Hamburg, erst kürzlich in einem Interview zu bestimmten Fragen in bezug auf China gesagt, daß innerhalb des Dialogs, so wörtlich, Tacheles geredet wird. Das ist einfach dummes Zeug. In diesem Dialog wird kein Tacheles geredet.

Ich bin selber unmittelbar betroffen, weil meine eigene Website in China über einen relativ langen Zeitraum gesperrt war. Es gab dazu eine Anfrage des Bundestagsabgeordneten Wolfgang Neskowic, ehemals Richter am Bundesgerichtshof, mit mehrmaligem Nachhaken und Nachfassen. Es stellte sich schließlich heraus, daß die Bundesregierung rein gar nichts getan hat, um gegenüber der chinesischen Seite vorstellig zu werden. Das ist schon deshalb bemerkenswert, weil es zu einem Zeitpunkt geschah, als ich Mitglied am runden Tisch war und selber eine Vielzahl von Projekten durchgeführt hatte. Wenn schon die eigene Seite sich nicht hinter jemanden stellt, der im Namen auch dieses Dialogs mit China Verbindung aufnimmt, dann muß man wenig Hoffnung haben. Ich habe natürlich hinsichtlich meiner chinesischen Freunde und Experten sehr viel Hoffnung. Man kann mit den Chinesen sehr gut diskutieren, was ich auch tue, aber nicht im Rahmen dieses Dialogs, der nur heiße Luft produziert und das Papier, das da bedruckt und nach außen propagiert wird, nicht wert ist.

Titelseite vom Buch 'Streik auch in China?' - Foto: © 2012 by Schattenblick

Eine von Dr. Geffkens Publikationen
Foto: © 2012 by Schattenblick

SB: Manche Beobachter würden die jüngsten Proteste in China - zum Beispiel gegen den Bau eines großen Abwasserkanals in Jiangsu in der Provinz Chifang und einer Kupferschmelze in Shifang in Sichuan - als Ausdruck einer Demokratisierungsphase betrachten. Wie bewerten Sie das?

RG: Davon kann keine Rede sein, auch wenn die Korrespondenten der taz mehrfach eine solche Meinung vertreten haben. Bestenfalls könnte man vielleicht davon sprechen, daß China in bestimmten Bereichen ansatzweise auf dem Weg in eine sogenannte Bürgergesellschaft ist. Das hat aber mit Demokratie noch wenig zu tun. Demokratie heißt eben auch Teilhaberechte, und daß es hierfür Strukturen der Teilhabe gibt. Das liegt noch in weiter Ferne. Es sind vielmehr spontane eruptive Konflikte, und die chinesische Führung ist relativ hilflos in der Frage, wie sie damit umgehen soll. Wir sehen ja jetzt gerade im Fall der Ehefrau von Bo Xilai und auch bei seinem eigenen Schicksal, wie das gemacht wird. Die Frage ist doch: Was ist eigentlich das Hauptproblem bei Bo Xilai gewesen? Darüber läßt sich viel spekulieren, aber im Grunde sind es zwei Dinge. Das eine ist, daß er sich sehr deutlich in bezug auf die unterprivilegierten Schichten und Wanderarbeiter geäußert hat. So hat er bereits in Chongqing in einer Reihe von Modellen die Stärkung des öffentlichen Sektors vertreten, auch in Konfrontation mit ausländischen Investoren. Das ist offensichtlich eine Politik, die die chinesische Parteiführung so nicht goutiert hat. Aber das Ganze hat noch eine andere Seite. Er hat eben etwas gemacht, das, weil es der Form nach ein bißchen der Zeit in der Kulturrevolution entsprochen hat, als maoistisch denunziert wurde, was natürlich völliger Unfug war und ist. Er hat einfach, wie das auch in westlichen Demokratien durchaus üblich ist, Öffentlichkeit mobilisiert. Dazu ist er in die Medien gegangen und hat Kundgebungen veranstaltet. Auf diese Weise hat er eine Art plebiszitäres Element in die kommunistische Partei hineingetragen, und das war offensichtlich des Teufels. Das hat eine große Befürchtung ausgelöst, weil man nicht zu Unrecht davon ausgegangen ist, daß jemand wie Bo Xilai, wenn er innerhalb der Partei keine Zustimmung bekommt, unter Umständen die Massen mobilisiert.

SB: War die Form, wie er es gemacht hat, ungewöhnlich oder bis dahin noch nie dagewesen?

RG: Das war seit der Politik der Öffnung sicherlich ungewöhnlich. Das ist in der Tat in der Kulturrevolution passiert. Mao selber hat ja die Leute mehr oder weniger gegen die Partei mobilisiert. Aber das ist wirklich nur der Form nach ähnlich. Man kann sich an dieser Form nicht aufhängen, denn es kommt noch etwas Hochinteressantes hinzu. Bo Xilai ist offenbar der einzige führende Kader gewesen, der, um das einmal ganz stark zuzuspitzen, in der Lage war, eine Rede zu halten, ohne vom Zettel abzulesen, und zwar auch auf Englisch. Ich bin fest davon überzeugt, daß der Mann, wenn er in diese Funktion geraten wäre, sowohl nach außen wie nach innen ein neues China hätte repräsentieren können, aber eben auch eine Volksrepublik, die nicht einfach nur Gewehr bei Fuß steht, wenn ausländische Investoren an die Tür klopfen. Das ist ihm zum Verhängnis geworden. Was dann anschließend als Strafprozeß abgelaufen ist, war eine reine Farce. Wir wissen alle nicht, was an diesen Vorwürfen wirklich zutrifft. Es ist jetzt reine Spekulation, aber es spricht sehr viel dafür, daß das Strafrecht wie auch in anderen Fällen benutzt wurde, um mißliebige Leute loszuwerden. Das Schlimme an dieser Methode ist eben, daß in der chinesischen Öffentlichkeit der Eindruck entsteht, daß die Zustände doch anders sind als früher, als die Leute einfach von der Bildfläche verschwunden sind. Heute ist das rechtsstaatlich. Heute geht es mit Gesetzen zu. Heute machen das die Staatsanwaltschaft und ein Richter, und das ist meines Erachtens besonders perfide.

Ich sehe auch nicht, daß sich westliche Experten genügend eingeschaltet hätten. Ich meine nicht nur die fehlende Solidarität oder Kritik an diesem Prozeß, ich möchte vielmehr darauf hinweisen, wie verräterisch viele Bewertungen über Bo Xilai in westlichen Medien waren, übrigens auch von sogenannten Experten. Nehmen wir als Beispiel Oskar Wegel vom ehemaligen Institut für Asienkunde oder auch Herrn Sandschneider von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. Unisono wurde und wird dieser Mann als Retro-Maoist, also als jemand, der nicht nur Maoist ist, sondern zu den maoistischen Verhältnissen zurück will, bezeichnet. Das ist wider besseres Wissen behauptet worden. Wenn man so vorgeht, geschieht das auch im Interesse der großen ausländischen Firmen. Das wird leider auch noch ideologisch oder mit bestimmtem Expertenwissen hier bei uns abgesichert. Das finde ich besonders bedauerlich. Es ist ein Einzelfall, aber wiederum nicht irgendein Einzelfall. Ich glaube, mit dem Ausschalten von Bo Xilai sind jetzt die Weichen in eine ganz andere Richtung gestellt. Für mich bedeutet dies: Die Konflikte werden weiter zunehmen und die Legitimationskraft der kommunistischen Partei wird sich noch mehr abschwächen. Die kommunistische Parteiführung trägt selbst die Verantwortung dafür, daß die Integrationskraft der KP gerade mit Sicht auf diese Konflikte weiter nachlassen wird. Das ist das Ergebnis dieser Weichenstellung.

Chinesisches Straßenplakat in der Totale - Foto: © 2012 by Schattenblick

Staatliches Mobilisierungsplakat in China
Foto: © 2012 by Schattenblick

SB: Man kann also davon ausgehen, daß China seinem dirigistischen Modell treu bleibt. Aber welche Rolle spielen in diesem Zusammenhang das Militär und die Rüstungsindustrie?

RG: Das ist jetzt ein großes Kapitel.

SB: Ich frage auch deshalb, weil Bo Xilai offenbar eine gewisse nationalistische Tendenz repräsentiert und das Militär in letzter Zeit immer häufiger mit nationalistischem Trommelwirbel in Erscheinung getreten ist.

RG: Ich glaube, daß diese Seite weniger ausschlaggebend war, weil nationalistische oder scheinbar nationalistische Positionen in China insgesamt sehr zustimmungsfähig sind und Bo Xilai da nicht unbedingt eine Sonderrolle gespielt hat. In den innenpolitischen Konflikten spielt die Volksbefreiungsarmee keine besonders große Rolle. Sie hat vor allen Dingen eine außenpolitische Funktion. Dazu muß man natürlich die Außenpolitik Chinas selber bewerten. Wenn man sich die aktuelle Situation anschaut, und hier vor allem den Konflikt, wie er sich jetzt mit Japan abzeichnet, dann muß man fairerweise sagen, daß nicht China in die Offensive gegangen ist, sondern daß Japan offensichtlich seit geraumer Zeit in den Startlöchern liegt und auch von den USA unterstützt wird. Da gibt es sicherlich ein Doppelspiel. Die USA versuchen sowohl politisch als auch über ihren wirtschaftlichen Einfluß an mancher Schraube in China zu ihren Gunsten zu drehen, aber gleichzeitig versuchen sie auch, das Land selber in bezug auf seine Außenpolitik und auch militärischen Präferenzen in die Enge zu drängen. Da wird mit unterschiedlichen Methoden gearbeitet, die sich scheinbar widersprechen, aber im wesentlichen gleichgerichtet sind. Dieser Nationalismus oder die Empfindsamkeit vieler Chinesen in bezug auf das, was jetzt von Japan ausgeht, hat einen riesigen Konsens in China. Da wird es niemandem gelingen, einen Keil in die chinesische Öffentlichkeit hineinzutreiben. Ich glaube sogar, daß dies in China bis hinein in viele Kritikerkreise konsensfähig ist.

SB: Das geostrategische Kalkül der USA mit der Einbindung Japans und Indiens in eine Eindämmungsstrategie gegen China ist kein Geheimnis. Bei allem Wohlwollen der Position Chinas gegenüber drängt sich doch der Verdacht auf, daß die chinesische Außenpolitik schon aufgrund des enormen Ressourcenbedarfs im Wirtschaftswachstumswunderland längst imperialistische Züge angenommen hat. Dazu muß man sich nur anschauen, wie China mit den kleineren Nachbarn im südchinesischen Meer umspringt.

RG: Ja, nur wäre ich vorsichtiger zu sagen, daß es imperialistische Züge angenommen hat. Dazu muß ich dann natürlich auch wissen, welchen Imperialismusbegriff man hat. Hinsichtlich Chinas gilt es schon deshalb vorsichtig zu sein, weil das Land nun wirklich ein Kronzeuge des Imperialismus ist, wenn ich zum Beispiel die britischen Kriegsschiffe nehme, die den Jangtse hochgefahren sind, oder die Opiumkrieg bzw. den zu spät gekommenen deutschen Imperialismus von Kaiser Wilhelm II. Das als Maßstab genommen, kann man das von der Volksrepublik sicherlich nicht sagen. Aber richtig ist natürlich, daß China in bezug auf seine Nachbarn und auf der Suche nach Ressourcen sehr strategisch und langfristig seine Interessen zu wahren versucht und dabei möglicherweise auch bestimmte Grenzen überschreitet.

Bemerkenswert dabei ist jedoch - und das muß man einfach anerkennen, auch wenn die Leute hier dabei ein bißchen nervös werden -, daß dieser Prozeß jedenfalls in Afrika binnen kürzester Zeit schleichend, aber offenbar sehr nachhaltig vonstatten gegangen ist, zwar auch mit Konflikten vor Ort, aber überwiegend so, daß er offenbar zur beiderseitigen Zufriedenheit erfolgt ist. Eine solche Art von Entwicklungspolitik, wie sie jetzt Bundesentwicklungsminister Dirk Niebel macht, indem er nette Vorschläge unterbreitet, aber nichts passiert, ist halt in China nicht gelaufen. Da wurden keine Vorschläge gemacht, sondern sind Straßen und Eisenbahnschienen gebaut worden. Eine Infrastruktur wurde errichtet, die für die jeweiligen Länder einen großen Fortschritt darstellt. Daß es den Chinesen auch etwas bringt liegt auf der Hand, und daß die chinesischen Ingenieure, die dahin gehen, allein durch ihre ausgesprochen geringe Assimilationsbereitschaft nicht gerade Begeisterungsstürme bei den Einheimischen hervorrufen, ist auch klar. Aber will man es ihnen ernsthaft vorwerfen? Wenn ich aus Ghana wäre, wäre mir ein zurückhaltender Chinese allemal lieber als ein scheinbar menschenfreundlicher Fremdenlegionär, der dann auch noch eine Einheimische heiratet. Das nützt den Leuten überhaupt nichts.

SB: Vielen Dank, Dr. Geffken für das Interview.

Fußnoten:
1. BERICHT/117: Rolf Geffken vergleicht China und Indien (SB) http://schattenblick.de/infopool/politik/report/prbe0117.html

2. BERICHT/118: Arbeitswelt in China vom Klassenkampf bestimmt (SB) http://schattenblick.de/infopool/politik/report/prbe0118.html

Referenten und Publikum im Sitzungsraum - Foto: © 2012 by Schattenblick

Diskussion nach Rolf Geffkens Vortrag im DGB-Haus
Foto: © 2012 by Schattenblick

30. August 2012