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INTERVIEW/169: Quo vadis NATO? - Desaster der Mittel - Hans-Christof Graf von Sponeck im Gespräch (SB)


Interview am 26. April 2013 in Bremen



Der Diplomat und Autor Dr. Hans-Christof Graf von Sponeck war bis zum Jahr 2000 über 30 Jahre lang in verschiedenen Positionen, zuletzt als Beigeordneter UN-Generalsekretär, bei den Vereinten Nationen tätig. Im Februar 2000 trat er aus Protest gegen die verheerenden Folgen, die die vom UN-Sicherheitsrat über den Irak verhängten Sanktionen für die humanitäre Lage der Bevölkerung des Landes hatten, von seinem Amt als Leiter des UN-Hilfsprogramms in Bagdad zurück. Seitdem engagiert sich von Sponeck dafür, über die nach wie vor schlechte Lage der irakischen Bevölkerung aufzuklären und einer Friedenspolitik Vorschub zu leisten, in der die Prinzipien der Menschenrechte und der UN-Charta hochgehalten werden. Vor Beginn des Kongresses "Quo vadis NATO? - Herausforderungen für Demokratie und Recht" beantwortete von Sponeck, der zu den ersten Kriegsdienstverweigerern der Bundesrepublik gehört, dem Schattenblick einige Fragen zu seinem weltweit beachteten Rücktritt, zur heutigen Lage im Irak wie zu aktuellen Perspektiven internationaler Politik.

Im Gespräch - Foto: © 2013 by Schattenblick

Dr. Hans-Christof Graf von Sponeck
Foto: © 2013 by Schattenblick

Schattenblick : Herr von Sponeck, Sie sind im Februar 2000 als Leiter des UN-Hilfsprogramms im Irak zurückgetreten, weil Sie die damit verbundene Politik ab einem bestimmten Punkt nicht mehr mittragen wollten. Könnten Sie noch einmal erläutern, wie es zu diesem Schritt kam?

Hans-Christof Graf von Sponeck: Dieser Schritt hat sich allmählich entwickelt. Es war keine plötzliche Entscheidung, sondern basierte auf einer Erkenntnis meinerseits, daß in der Zeit, in der ich dort war, die Zusammenarbeit mit den politischen Entscheidungsträgern, sprich UN-Sicherheitsrat, trotz der Unterstützung von zumindest drei der fünf permanenten Mitglieder, die in Bagdad diplomatisch vertreten waren - nämlich Russen, Chinesen und Franzosen -, einfach nicht funktionierte. In der entscheidenden Diskussion ließ sich nicht mehr leugnen, daß sich nicht nur ein Diktator für Menschenrechtsverletzungen verantworten muß, sondern daß auch die internationale und vor allem die Sicherheitsratspolitik in immer größerem Ausmaß für das Leiden der Menschen im Irak verantwortlich war. Das war eine sehr schwere Erkenntnis für mich, insbesondere weil sie sich nicht auf positive Weise umsetzen ließ.

Ich mußte auch feststellen, daß in der UNO eine große Uneinigkeit über meine Haltung herrschte. Der damals amtierende Generalsekretär Kofi Annan war mein großer Unterstützer. Wir haben uns gut verstanden, weil wir ähnliche Ansätze hatten und eine ähnliche Politik verfolgten. Wenngleich ich auf einer niedrigeren Ebene agierte, haben wir gut zusammengespielt. Aber zwischendrin klappte es nicht mehr. Man kann über die Gründe spekulieren. War es Inkompetenz des Vorgesetzten oder ein Doppelspiel von ihm, einfach nur Verblendung oder doch eine einseitige Haltung, die mehr nach Washington und London schaute? Wie dem auch sei, Tatsache war, daß ich keine Unterstützung mehr für die Initiativen im Rahmen meines Aufgabenbereichs erhielt. So etwas hatte ich in den 32 Dienstjahren bei der UNO bis zu diesem Zeitpunkt nicht erlebt.

Als ich bei den Vereinten Nationen anfing, kam ich mit einem gewissen mentalen Gepäck dorthin. Ich wußte, was in der UN-Charta steht. Aber als ich im Irak die Charta umsetzen oder zumindest meinen Beitrag dazu leisten wollte, gelang mir das nicht. Um ein konkretes Beispiel zu geben: Es war in dieser Zeit nicht leicht, das kurdisch-arabische Gespräch im Irak zustandezubringen, aber ich habe es geschafft. Nicht durch allgemeine Gespräche, sondern indem ich beiden Seiten ganz konkret klargemacht habe, daß es im Interesse der Kurden als auch der Regierung in Bagdad lag, daß man die territoriale Integrität des Landes, die in jeder UN-Resolution bestätigt wurde, auch praktizieren mußte. Beispielsweise ging es darum, ein Elektrizitätswerk für das ganze Land und nicht nur für die Kurden zu bauen, oder um so lapidare Dinge wie daß Ambulanzen, die unter dem Öl-für-Nahrungsmittelprogramm ins Land kamen und für die Kurden bestimmt waren, nicht mit kurdischen Nummernschildern versehen wurden, weil ich darin eine schleichende Abspaltung sah.

Diese Initiativen führten dazu, daß ich einen Brief von meinem Vorgesetzten erhielt, in dem es hieß: Dein Vorgänger hat sich die Finger verbrannt, tue das nicht auch. Das ist jetzt eine sehr langwierige Erklärung, aber ich möchte damit zeigen, daß der Entschluß langsam in mir reifte. Ich merkte, daß mein Beitrag keinen Unterschied mehr machte, weil anders entschieden wurde. Man hat ja ein Gewissen, und da ging es mir plötzlich kristallklar auf, daß ich mich mitschuldig mache, wenn ich dabei bleibe. Das konnte und wollte ich nicht.

Kofi Annan wurde, da er zum Zeitpunkt meines Rücktritts in Singapur war, von der Presse gefragt: Wie bewerten Sie diesen Rücktritt? Seine Antwort war: Ich respektiere, daß jeder Mensch einen inneren Kompaß hat, und den Kompaß des Herrn von Sponeck respektiere ich. Das war eine elegante Aussage, aber natürlich läßt sich jetzt, zehn Jahre nach meinem Rücktritt, durchaus belegen, daß wir alle, auch ich, schon zu einem viel früheren Zeitpunkt mehr Mut hätten zeigen müssen. Allen war klar, daß es keineswegs um die Menschenrechte und auch nicht um das Öl ging. Wie Saddam Hussein schon sagte: Wenn ihr unser Öl wollt, dann könnt ihr es bei mir kaufen. Vielmehr ging es um Kontrolle und um die Tatsache, daß die Weltmacht USA im Mittleren Osten keine Konkurrenz dulden wollte. Europa hätte dort eine Rolle spielen können, aber statt dessen waren die Europäer nach dem 11. September 2001 nur allzu willig, dieses Project for the New American Century (PNAC) unkritisch laufen zu lassen. Sie waren nicht glücklich damit, aber sie haben es im Namen des War against Terrorism akzeptiert.

Ich würde mich heute, wäre ich nochmals in dieser Situation, sehr viel kritischer äußern. Ich wußte, daß die anderen es wußten. Es gab keine Unwissenheit im Sicherheitsrat. Unglaubliches geschah in dieser Zeit. Max van der Stoel, der ehemalige holländische Außenminister, war von 1990 bis 1999 Menschenrechtsbeauftragter. Er hatte vom Sicherheitsrat das Mandat erhalten, nur die Menschenrechtsverletzungen der irakischen Regierung zu begutachten. Sein Nachfolger Andreas Mavrommatis, ein Zypriot und ehemaliger Leiter des Außenministeriums auf der operationalen Ebene, hatte sehr schnell erkannt, daß er sein Mandat nicht im Sinne der UN erfüllen konnte. Es war das erste Mal, daß jemand in einer Entscheidungsfunktion erklärte, daß die von der Sanktionspolitik verursachten Menschenrechtsverletzungen ebenso von Belang wären. Es gehört zur Tragik dieses Landes, daß sein Vertrag 2004 - er war vor und eine kurze Zeit nach der illegalen Invasion UN-Menschenrechtsbeauftragter im Irak - nicht verlängert wurde.

Seither - das sind nunmehr neun Jahre - versuche ich immer wieder, auch mit meinem Vorgänger Denis Halliday und mit anderen Akteuren von der Nichtregierungsseite her, für die Einsetzung eines weiteren UN-Menschenrechtsbeauftragten im Irak zu argumentieren. Denis Halliday und ich haben der Hochkommissarin für Menschenrechte in Genf wie ihrer Vorgängerin mehrmals geschrieben, und die Antwort war immer dieselbe: Die UNAMI (United Nations Assistance Mission for Iraq), das gegenwärtige UNO-System am Ort, reicht aus, um das Notwendige zu tun. Wir sind nicht davon überzeugt, daß das so ist. Doch wenn es so ist, daß eine UN-Einheit in einem so komplexen und schwierigen Land wie dem Irak auch ohne einen Sonderbeauftragten auskommt, warum hat man dann plötzlich vor einem Jahr einen Menschenrechtsbeauftragten für den Iran ernannt? Da läuft doch irgend etwas quer und macht mir immer mehr Sorgen, weil dieser Doppelstandard die internationalen Beziehungen in starkem Maße beeinflußt.

SB: Ist es nicht ohnehin zu einem starken Verfall an Glaubwürdigkeit für die Vereinten Nationen gekommen, weil sie den völkerrechtswidrigen Angriff auf den Irak 2003 im Nachhinein dadurch legitimiert haben, daß der UN-Sicherheitsrat in Resolution 1511 den USA das Kommando über eine multinationale Friedenstruppe zugestand, also quasi die USA als Schutzmacht einsetzte?

GvS: Richtig, es wurde legitimiert, was zuvor illegal war. In diese Resolution wurde sogar die Forderung aufgenommen, daß die Mitgliedstaaten die Okkupationsmächte mit Ressourcen, sprich Waffen, Personen und anderen Dingen, unterstützen sollten. Das ist der eine Punkt, zu dem man sagen kann, daß sich der Sicherheitsrat illegal verhalten hat. Der zweite Punkt ist etwas schwieriger aufzudecken. Ich bin unter anderem auch zurückgetreten, weil ich der Meinung war, daß die Sanktionen nicht gerecht seien. Im Mai 2003 hat der Sicherheitsrat in Resolution 1483 entschieden, die gegen den Irak verhängten Sanktionen aufzuheben. Damit hätte ich eigentlich sehr zufrieden sein müssen, doch das konnte ich nicht sein, denn von rechtlicher Seite war es ein Fehltritt. Zuvor hätte der Sicherheitsrat nämlich Resolution 687 vom April 1991 berücksichtigen müssen. Darin ist verankert, daß die Sanktionen erst dann aufgehoben werden können, wenn bestätigt wird, daß keine Massenvernichtungswaffen mehr existieren. Das wurde jedoch 2003 in Resolution 1483 fallengelassen. Mit anderen Worten: Der Sicherheitsrat hat sich völkerrechtlich falsch verhalten. Denn er hätte zuerst zugeben müssen, daß es die unterstellten Massenvernichtungswaffen gar nicht gibt, aber das paßte den Amerikanern nicht. Sie werden heute abend hören, daß ich NATO und USA bewußt verwechsle. Die NATO ist USA, und die USA ist NATO. Im Sicherheitsrat hat sich das deutlich gezeigt.

SB: Die Sanktionen wurden seit 1991 alljährlich im Sicherheitsrat erneuert, aber in erster Linie waren es die USA und Großbritannien, die dafür sorgten, daß diese Sanktionen nicht weitgehend überprüft wurden, weil sie ansonsten vielleicht eingestellt worden wären.

GvS: Es wurde ihnen auch leichtgemacht durch das politische Werkzeug der Konsens-Resolution, wo Formulierungen benutzt werden, die jeder Beteiligte nach eigenem Interesse auslegen kann. In Resolution 687 von 1991 heißt es, Sanktionen können wieder aufgehoben werden, wenn der Irak in jeder Hinsicht kooperiert hat. Aber was heißt das konkret? Es bedeutet, daß die Russen das irakische Bemühen anders sehen können als die Amerikaner, was dann auch geschah. Nach der Schlüsselresolution 687 wurde auch in der Schlüsselresolution 1284 vom Dezember 1999, also sehr viel später, attestiert, daß Sanktionen aufgehoben werden können, wenn der Irak konstruktiv kooperiert hat. Die Russen bestätigten die Kooperation, die Amerikaner sahen das jedoch ganz anders, und so konnte man durch die Hintertür, wenn man so will, eine Politik fortführen, die sich immer schwieriger gestaltete und auch immer mehr angegriffen wurde. Es ist nicht so, daß der Sicherheitsrat stets homogen entschieden hat. Die Kunst der Amerikaner, aber vor allem der Engländer bestand darin, alle Entscheidungen, die der Bevölkerung im Irak halfen und unter dem Druck von anderen im Sicherheitsrat gefällt wurden wie zum Beispiel die Erweiterung der Liste der Waren, die ins Land eingeführt werden durften, durch eine andere Politik wieder zu neutralisieren.

Es waren nur die Regierungen der USA und Großbritanniens, die immer wieder wichtige Waren, die wir zusammen mit der irakischen Regierung bestellt hatten, um der Bevölkerung ein minimales Überleben zu garantieren, blockiert haben. So wurden im August 2002 Waren im Wert von über fünf Milliarden Dollar blockiert. Das erklärt unter anderem, warum es der irakischen Bevölkerung unter diesem ohnehin ungenügenden Öl-für-Nahrungsmittel-Programm so miserabel ging, zumal die Liste weiter eingeschränkt wurde. Da sind geheimgehaltene Geschichten über die Kompensierungskommission gelaufen, die es wert wären, daß darüber berichtet wird.

SB: Zahlt der Irak heute noch Kompensationen für die Besetzung Kuweits 1990?

GvS: Ja, mit fünf Prozent seines Öleinkommens. Wie das berechnet wird, kann ich nicht sagen, aber die Projekte, die da unterstützt werden, haben sich häufig, nicht immer, als kriminell und korrupt herausgestellt und existierten zum Teil gar nicht. Die irakische Kuh, die kaum mehr Milch gab, wurde immer weiter gemolken. Heute weiß man kaum noch, was damals wirklich gelaufen ist. Es war auch sehr schwierig, darüber zu recherchieren. Für mein Irak-Buch habe ich in Genf jemanden getroffen, der Vertrauen in meine Absichten hatte und mit der Kompensierungskommission zu tun gehabt hat. Er hat mir konkrete Beispiele geliefert, wie die ganze Sache entstand und wie unter dem Einfluß der bewußten Einfütterung von Falschinformationen Politik betrieben wurde. In den Satzungen der Kompensierungskommission wird der irakischen Regierung ein Mitspracherecht eingeräumt. Aus meiner Zeit in Bagdad weiß ich jedoch, daß zwei Wochen, bevor die Entscheidung in Genf gefällt werden mußte, eine halbe Tonne an Dokumenten in Kuriersäcken bei uns ankam, die wir der irakischen Regierung übergeben mußten. Sie hat sich dann darüber empört, daß die Dokumente in der verbleibenden Zeit gar nicht zu sichten wären. Dennoch hat die UN immer wieder den Eindruck erweckt, als würde man den Irak fair behandeln, was nicht stimmte.

SB: Wie würden Sie das Wirtschaftsembargo, das zwölfeinhalb Jahre gedauert hat und mit dem der UN-Sicherheitsrat ein ganzes Land in einem Belagerungszustand gehalten und den gesamten Außenhandel kontrolliert hat, im größeren Überblick historisch einordnen?

GvS: Man denke an die Tatsache, daß die Neokonservativen in Amerika auch vor dem 11. September 2001 und besonders in den 90er Jahre das politische Klima beherrschten. Ich gehe aber noch etwas weiter und sage, daß diese PNAC-Psyche, die im Sicherheitsrat präsent war, überparteilich existiert. Ich bin seit 48 Jahren mit einer Amerikanerin verheiratet, also nicht hundert Prozent antiamerikanisch (lacht). Es ist dieses Gefühl "Wir können alles", das die Amerikaner immer in sich getragen haben und ihren Kindern schon sehr früh einimpfen. Was bei uns oft als Gehorsam in Erscheinung tritt, wird den Kindern dort als großes, oft unbegründetes Selbstvertrauen mitgegeben, das sich dann in Entwicklungen ausdrückt, für die die Amerikaner heute viel politisches Kapital zahlen müssen.

In den 90er Jahren waren die USA die Supermacht, die man nicht angreifen konnte. Die gesellschaftlichen Bedingungen waren sowohl wirtschaftlich als auch innenpolitisch in Ordnung. Die Bürger machten auch vor dem 11. September mit. Nach dem 11. September war es in Amerika und in der NATO für die Amerikaner noch viel leichter. Ich werde Ihnen heute abend einige kurze Zitate geben, in denen diese Hybris und Arroganz der Macht stark hervortritt. Wenn zum Beispiel Rumsfeld sagt: Internationales Recht? Brauchen wir nicht, wir sind internationales Recht. Oder der US-Botschafter bei den Vereinten Nationen, John Bolton, der so viel Scherben für sein Land produziert hat, erklärt: Man muß ab und zu internationales Recht brechen, wenn es im Interesse der Stabilität ist. Selbst Obama, von dem wir immer noch Bescheidenheit erwarten, hat in der letzten Woche im Fall Syrien zu seinem Besucher aus Katar, Scheich Al Thani, gesagt: Wir müssen das Blutvergießen in Syrien vermeiden und Assad entfernen. Da ist wieder diese Psyche der Hybris, die sich überall ausdrückt. Es ist eine Fehlanalyse, wenn man annimmt, daß sie nur mit Bush und Konsorten zusammenhängt.

Hans-Christof Graf von Sponeck im Gespräch - Foto: © 2013 by Schattenblick

Prinzipien der UN-Charta im Grundsatz verteidigen
Foto: © 2013 by Schattenblick

SB: In den 90er Jahren wurde in der Bundesrepublik kaum über die UN-Sanktionen gegen den Irak berichtet, so daß nur wenigen Leuten bewußt war, daß ein ganzes Land in Armut und Not gehalten wird. Wie beurteilen Sie die Verantwortung der deutschen Politik, die zwar nicht direkt am Sanktionsregime beteiligt war, aber auch nicht aktiv dagegen votiert und es so legitimiert hat?

GvS: Vielleicht ist der Erklärungsansatz zu simpel, aber ich meine, daß der politische Minderwertigkeitskomplex, der in uns steckt, auch hier wieder zum Tragen kommt: die Angst, daß man als jemand klassifiziert werden könnte, der es anders machen und eine Sonderstellung einnehmen will. Auch jetzt werden wir in der Wirtschaftspolitik angegriffen als der Deutsche, der mit Macht seine Position zu verankern versucht. Diese Angst zeigt sich auch darin, daß ein deutscher Außenminister nach Israel fährt und nicht mit einem einzigen öffentlichen Satz auf die Palästina-Frage aufmerksam macht. Ich bin vor zehn Tagen in Doha gewesen und habe erfahren müssen, daß die Erwartungen, die der Mittlere Osten gerade an die Deutschen stellt, enttäuscht wurden, weil wir nicht den Mut haben, eine klare Aussage zu formulieren. Statt dessen bleibt alles halbfertig, wie am Beispiel Libyen deutlich wurde. Ein anderes Beispiel mit katastrophaler Wirkung auf den Mittleren Osten war die Enthaltung der Bundesregierung bei der Aufnahme Palästinas in die UNESCO. Das sind meiner Meinung nach Symptome eines übriggebliebenen Komplexes, den wir in uns tragen, um uns bloß nicht zu profilieren. Als die Franzosen in der Sanktionspolitik im Sicherheitsrat noch fest auf unserer Seite standen, war es ein wenig einfacher, aber heute ist die Gefahr akut, weil wir in der Wirtschaftspolitik sehr einsame Höhen erklommen haben. Ich glaube, das spielt alles in die Tatsache hinein, daß die Deutschen immer ein wenig hinter den anderen zurückhinkten.

SB: Könnte es nicht sein, daß die Bundesregierung ihre hegemonialen Interessen auch mit anderen Mittel sichert wie zum Beispiel im Rahmen der Wirtschaftsförderung oder der institutionellen Einbindung in internationale Organisationen?

GvS: Ja, aber da steckt eine gehörige Portion Wirtschafts-Opportunismus dahinter. Man muß anerkennen, daß Frau Merkel in den Beziehungen mit China durchaus auch auf Menschenrechtsverletzungen hinweist, was ich jedoch für einen Fehler halte. Ich bin der erste, der fordert, daß wir im Sinne der UN-Charta Menschenrechte für alle gestalten müssen, aber die Aufforderung, die Menschenrechtssituation zu verbesseren, darf nicht von jemandem kommen, der international nicht als Rollenmodell anerkannt wird. Die Amerikaner stehen da an erster Stelle, wenn sie immer wieder darauf hinweisen, aber andererseits Dinge tun, die zu den schwerwiegendsten Menschenrechtsverletzungen gehören.

Ich bin Mitglied einer Kriegskommission in Malaysia. Der ehemalige Premierminister Dr. Mahathir hat diese Kommission 2005 eingerichtet. Sie zählt sieben Mitglieder, darunter sind drei Ausländer, Denis Halliday, ich und ein Kanadier. Es ist mir unvergeßlich, wie wir Wochen damit verbracht haben, mit Folteropfern der Amerikaner aus Abu Ghraib, Bragram und Guantánamo zu sprechen. Wenn das keine Menschenrechtsverletzungen sind, dann weiß ich nicht, was das Wort bedeutet. Das ist nur ein Extrembeispiel. Der Sonderberichterstatter für den Europarat, der Schweizer Dick Marty, hat 2006 einen Bericht über die Renditions-Flüge verfaßt. Diese Regierungen sitzen dann irgendwelchen Staatsoberhäuptern gegenüber, sagen aber dem König von Saudi-Arabien oder dem Scheich von Katar nicht, daß sie gefälligst ihre Menschenrechtssituation verbessern sollen. Sie sagen es den anderen. Manchmal habe ich das Gefühl, daß Frau Merkel, die immer einen Schritt hintendran ist, genau das gleiche tut, und das wird dann in der Presse lobend erwähnt. Aber in der Beziehung mit China und mit den verbliebenen Diktatoren im Mittleren Osten wird das sicher eine zweitrangige Rolle spielen gegenüber den Wirtschaftsinteressen, die man da verfolgt.

SB: Glauben Sie, daß eine moralische Entscheidung, wie Sie sie persönlich getroffen haben, in der Politik überhaupt eine Rolle spielt, solange wirtschaftliche Interessen das zentrale Moment in den internationalen Beziehungen darstellen?

GvS: Die Antwort ist leider nein, aber ich habe trotzdem eine gewisse Ermutigung im Laufe der Jahre erfahren. Ich war ja nicht nur auf einer Liste der unerwünschten Diplomaten in Deutschland, sondern auch bei der UNO. Aber in den letzten Jahren habe ich von UN-Kollegen, die ich nie getroffen habe und gar nicht kenne, plötzlich E-Mails bekommen. Ich hatte fast schon Tränen in den Augen, weil sie mir geschrieben haben: Sie haben uns Mut gemacht, wir sind stolz auf Sie. Das ist jetzt keine Angeberei, sondern lediglich eine Darstellung dessen, was für mich wichtig war, daß mich Stimmen erreichten von ganz normalen, aber auch hohen UN-Kollegen, die gemeint haben, daß das etwas sei, was die UN sehr viel häufiger praktizieren sollten. Ich bin seit 13 Jahren fast unbemerkt von der politischen Ebene in New York in dem Ausbildungsprogramm der Vereinten Nationen in Turin tätig. Den jungen und nicht so jungen, zum Teil bis zum Rang des Beigeordneten Generalseketärs hochgestellten Personen, die dort ausgebildet werden und Zeit zum Nachdenken finden, gefällt es, daß Kollegen wie Denis Halliday und ich die UN-Charta ernst nehmen. Doch auf der tagespolitischen Ebene spielt das keine Rolle. Und Ethik ist sowieso ein Wort, das aus unseren Wörterbüchern verschwunden ist.

SB: Schon im Jugoslawienkrieg wurde von namhaften Völkerrechtlern behauptet, daß das Gewaltverbot und das Recht auf nationale Souveränität, wie sie in die UN-Charta eingeschrieben sind, nicht mehr zeitgemäß wären. Seitdem scheint die Tendenz, die internationalen Beziehungen mit einer zunehmend interventionistisch auftretenden Politik zu regulieren, immer mehr Raum einzunehmen.

GvS: Ja, da haben Sie recht. Ich sage immer, Responsibility to Protect (R2P) ist ein großartiges Konzept in falschen Händen. Nicht, daß ich all das, was die Russen und Chinesen tun, für gut befinde, das ist nicht meine Haltung. Aber die Tatsache, daß R2P in der aktuellen Krisensituation in Syrien überhaupt keine Rolle spielt, ist ein Hinweis darauf, was in Libyen gemacht wurde. Dort konnte man erleben, wie gute Dinge mißbraucht werden können bzw. der Sicherheitsrat zu einem Handwerkskasten verkommt, aus dem man sich herausnimmt, was man braucht, und wenn man es nicht findet, dann geht man seine eigenen Wege. Ein typisches Beispiel dafür ist die Invasion in den Irak am 19. März 2003. Wenn wir die Rechenschaftsverpflichtung international nicht ernster nehmen, dann können wir alle Reformdiskussionen vergessen, dann wird R2P weiterhin mißbraucht werden und viele andere Dinge, die eine Unterstützung sein könnten, werden hinfällig. Wenn man sich einen Moment besinnt, muß einem doch der große Widerspruch auffallen, daß wir hier 28 Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen haben, die zwar der NATO angehören, aber gleichwohl verpflichtet sind, sich aufgrund ihrer UN-Mitgliedschaft an das Charta-Recht zu halten. Wenn die NATO einen Beitrag für den weltweiten Frieden leisten wollte, dann sollte die NATO, jeder Politiker und General hoffentlich wissen, daß es ein Kapitel 8 der UN-Charta gibt, in dem ganz genau definiert ist, wie Regionalinstanzen sich zusammentun können, um die Charta-Politik umzusetzen.

SB: Wozu bedurfte es dann der R2P-Entscheidung in der UN-Generalversammlung, wenn Kapitel 8 schon die Möglichkeit einer solchen Regelung beinhaltet?

GvS: Die R2P gibt es erst seit 2005. Die Generalversammlung hat das Konzept seinerzeit akzeptiert. Es ist nur ein Konzept und hat nicht denselben legalen Wert wie das Charta-Recht in Kapitel 8.

SB: Gibt es in den von machtpolitischen Interessen stark bestimmten Vereinten Nationen überhaupt die Möglichkeit, Mittel der Intervention anders einzusetzen, als daß sie von den stärksten Akteuren in deren Interesse instrumentalisiert werden?

GvS: Ja, ich sehe dann eine Möglichkeit, wenn für die Politik, die zum Schluß im Rahmen des R2P-Auftrags durchgeführt wird, auch eine Rechenschaftsverpflichtung existiert. Wenn sie nicht existiert, dann ist die Gefahr, wie der Fall Libyen zeigt, groß, daß man es mißbraucht. Das gilt auch für den Fall, wenn Entscheidungsträger dem Gebot des Friedens und der Gerechtigkeit zuwiderhandeln und dann nicht zur Rechenschaft gezogen werden, wenn der Internationale Strafgerichtshof nur gegen Afrikaner verhandelt und andere ungeschoren läßt. Wenn der Doppelstandard, ein gewisser Ethno-Zentrismus und eine Hybris durchbrechen, ohne daß man zur Rechenschaft gezogen wird, dann sehe ich die große Gefahr, daß Macht vor Recht gilt.

SB: Der Kriegsbeginn im Irak hat sich vor kurzem zum zehnten Mal gejährt. Wenn man die Bilanz dieses Krieges und des Sanktionsregimes seit 1991 zieht, wie würden Sie die soziale Entwicklung der irakischen Bevölkerung in dieser langen Zeit beurteilen?

GvS: Was geschehen ist, erinnert mich an eine schöne mesopotamische Vase, die man fallengelassen hat. Diese tausend Scherben wieder zusammenzubringen, ist ungeheuer schwer und wird viele Generationen dauern. Selbst dann wird man sehen, wo sie zusammengeleimt sind. Es hat sich ein Sektierertum entwickelt, das fast jeden Aspekt des Lebens beeinflußt. Wenn schiitische Kinder in die Schule gehen, ist es für sie besser, wenn sie einen schiitischen als einen sunnitischen Lehrer haben und umgekehrt. Dieses Sektierertum ist überall anzutreffen. Es ist eine chaotische Situation entstanden, weit entfernt von dem Zustand, als ich noch im Irak gelebt habe und man außer bei bestimmten Namen nicht wußte, ob jemand Schiit oder Sunnit ist. Aber man redete nicht darüber. Abgesehen von Saddam Husseins Fehde mit dem Klerus war es kein Thema unter den normalen Bürgern im Irak, die zusammengelebt und sich vernetzt haben. Kurden und Araber, Schiiten und Sunniten haben untereinander geheiratet. Das war alles keine Idealwelt, aber es war eine Welt, die für den Normalbürger hundertmal besser war, als sie es heute ist.

Im Irak herrscht heute ein Chaos, in dem man vor allem zu überleben versucht. Es ist kein Zufall, daß Transparency International den Irak heute in seinem Korruptionsindex auf Platz 169 von 176 Staaten einstuft. Man ist auf allen Ebenen korrupt, auf der unteren, um zu überleben, auf der oberen, um sich zu bereichern. Es ist eine wirklich verheerende Situation. Ich leite ein kleines Patientenprogramm und bringe Kinder nach Deutschland, die behandelt werden müssen, und fördere nebenher auch ein Schülerprogramm. Auf diese Weise habe ich einen relativ engen Austausch über den Kreis meiner irakischen Freunde hinaus, von denen viele heute übrigens nicht mehr im Land wohnen, sondern emigriert sind. Das Gesamtbild ist das eines zerbrochenen Gebildes. Das betrifft auch die Tatsache, daß Kurden und Araber heute in einem Mißverhältnis zueinander stehen, weil die Kurden durch Investitionen - besonders aus der Türkei, aber nicht nur - einen Auftrieb bekommen haben und in der Stabilisierung ihrer Gebiete weit voraus sind. Das hat natürlich auch zu der Forderung nach mehr Autonomie geführt, vielleicht sogar durch die Entwicklung in Syrien und die Gespräche zwischen Erdogan und Öcalan.

Man muß, wenn man sich heute eine Krise anschaut, immer daran denken, daß es so etwas wie eine nicht vernetzte Krise gar nicht mehr gibt. Alles ist miteinander vernetzt, alles beeinflußt sich gegenseitig. Heute abend wird es in den Gesprächen auf der Konferenz auch darum gehen, festzustellen, daß die Osterweiterung der NATO und die Pazifik-Politik Obamas verheerende neue Ansätze für weitere Konflikte darstellen. Wir vergessen oft, weil wir so überschüttet werden mit Informationen, daß jede Krise, die sich zeigt, eine lange Vorgeschichte hat. Wenn man sich einmal anschaut, was die Amerikaner und Südkoreaner in den letzten Jahren an provokativen Dingen gemacht haben, darf man über die nordkoreanische Reaktion nicht überrascht sein. Und so ist es überall heute. Ich glaube, wir steuern auf eine Maximierung dieser Konfliktkonstellation zu, und irgendwann wird etwas geschehen, was in niemandes Interesse ist. Wann und wo das geschieht, kann ich nicht sagen, aber es gibt Anzeichen. Zentralasien, Osteuropa, der Pazifikraum, dort werden Konflikte geschürt. Als ich meine Tochter in Myanmar besuchte, sah ich auf dem Flugplatz eine Gruppe junger Männer aus dem Westen. Auf den Gepäckschildern ihrer Koffer war ganz offen zu lesen 'United States War College". Myanmar könnte sich als neuer Zankapfel erweisen, denn das Land gehört zum Einzugsgebiet der Chinesen, nicht der Amerikaner. In Aung San Suu Kyi haben sie sich vielleicht doch ein wenig verkalkuliert, denn sie ist vielleicht gar nicht so prowestlich wie immer angenommen wird. Auf jeden Fall glauben die Amerikaner, das sei jetzt die neue Tür, durch die sie gehen könnten in der Umsetzung einer größeren Politik.

SB: Wie schätzen Sie die Entwicklung in Syrien auch in bezug auf die vielen irakischen Flüchtlinge ein, die dort leben?

GvS: Ich bin kein Syrien-Spezialist, aber intuitiv sehe ich in Syrien eine Wiederholung dessen, was im Irak geschehen ist. Seit 1997 gibt es keinen Zensus mehr im Irak aus Angst, daß dabei gewisse Realitäten herauskommen könnten, an denen man nicht interessiert ist. Meine sunnitisch-irakischen Freunde schreien immer auf, wenn ich sage, die Schiiten stellen 60 Prozent und ihr - die Kurden sind hauptsächlich Sunniten, aber die lassen wir hier einmal weg - seid 20 bis 25 Prozent der Gesamtbevölkerung. Auf jeden Fall war die Konstellation so, daß eine Minorität das Land regierte. In Syrien ist es genauso. Die Herrschaft der Alewiten zusammen mit anderen kleinen Gruppen wie den Christen geht nun zu Ende. Dann wird sich im Sinne der Kultur der Rache eine Kette von schlimmen Dingen in Syrien entwickeln wie im Irak. Da sehe ich durchaus Parallelen.

Was ich nicht gut beurteilen kann, ist die Entwicklung der kurdischen Situation. Daß es zu Zusammenschlüssen zwischen den türkischen, irakischen, iranischen und syrischen Gruppen kommt, glaube ich aber nicht. Man nimmt immer an, daß es sich dabei um eine homogene Gruppe handelt, was aber nicht zutrifft. Die Rhetorik des US-Außenministers John Kerry ist für mich eine ganze Portion akzeptabler als die furchtbare Rhetorik seiner Vorgängerin Hillary Clinton. Sie hatte keine Ahnung und war der Meinung, sie könnte mit Muskeln und Machtpolitik im Sinne von George Bush weitermachen. Kerry ist entweder diplomatischer oder einfach einsichtsvoller, aber das reicht noch nicht, es muß wesentlich weiter gehen. Ich glaube, daß er auch ein bißchen Angst hat. Er widerspricht wie auch Obama der Politik von Netanjahu. Aber vieles schleicht sich ein wie bei dem Versuch, Syrien des Gebrauchs von Chemiewaffen zu bezichtigen. Ein israelischer General hat das behauptet, wie man der Jerusalem Post entnehmen kann. Seine Aussagen wurden übernommen, aber mit Vorsicht, um vielleicht etwas einzufädeln. Meiner Ansicht nach, und das sage ich seit vielen Jahren, ist die Sucht nach Tod in Israel nicht so groß, daß man den Iran angreift, auch jetzt nicht. Die Amerikaner, die Kapazitäten eingebüßt haben, sind in dieser Sache etwas vorsichtiger. Aber summa summarum wird Baschir al Assad irgendwann verschwinden. Übrig bleibt dann eine zerstrittene Gesellschaft, die offene Rechnungen begleichen wird.

SB: Herr von Sponeck, vielen Dank für das ausführliche Gespräch.


22. Mai 2013