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INTERVIEW/215: Karawane der Richtigstellung - Verschiedene Herkunft, gemeinsame Fronten ... Gespräch mit Wolfgang Lettow (SB)


Schulterschluß gegen die Repression in Deutschland und der Türkei

Interview am 21. März 2014 in Hamburg-St. Pauli



Wolfgang Lettow arbeitet seit 1991 in der Redaktion der Zeitschrift "Gefangenen Info" und moderiert bei Radio Flora in Hannover die Sendung "Wieviel sind hinter Gittern ...". Das "Gefangenen Info" ist aus dem "Angehörigen Info" hervorgegangen, das im Hungerstreik der Gefangenen aus der RAF und des Widerstands 1989 als "Hungerstreik Info" entstand. 2009 wurde die Redaktion vom "Netzwerk Freiheit für alle politischen Gefangenen" übernommen. Damals wie heute hat die Publikation das Ziel, eine effektive Öffentlichkeitsarbeit gegenüber der Repression und der Desinformation zu leisten wie auch den politischen und allen kämpfenden Gefangenen eine Plattform zu bieten, um die Isolation zu durchbrechen. [1]

Als die Karawane "Freiheit für alle politischen Gefangenen" der Anatolischen Föderation am 21. März in Hamburg Station machte, gehörte Wolfgang Lettow zu den Organisatoren vor Ort. Er moderierte die abendliche Abschlußveranstaltung im Internationalen Zentrum B5 und beantwortete im Anschluß daran dem Schattenblick einige Fragen.

Projektion 'Hunderttausend Mal nein zur Isolation! Freiheit für die politischen Gefangenen!' - Foto: 2014 by Schattenblick

Foto: 2014 by Schattenblick

Schattenblick: Wolfgang, wann und unter welchen Umständen hast du Kontakt mit den Leuten aus der Karawane bekommen?

Wolfgang Lettow: Mit den Türken, die heute in der Anatolischen Föderation organisiert sind, hatte ich zum ersten Mal im Sommer 1999 Kontakt. Damals bin ich gefragt worden, ob ich eine Demonstration für türkische Gefangene anmelden könnte, was ich dann auch gemacht habe. Wir haben viel über Politik diskutiert, und darüber habe ich noch weitere türkische Aktivisten kennengelernt.

SB: Über welche Fragen habt ihr seinerzeit im einzelnen diskutiert?

WL: Man muß sich dazu die Zeit vergegenwärtigen. Damals waren in der Türkei die Isolationszellen eingeführt worden, und es gab auch schon Hungerstreiks von Gefangenen. Wir haben daher viel über die Isolationshaft in Deutschland gesprochen. Und da ich beim "Gefangenen Info" mitarbeite und früher viel Kontakt zu den RAF-Gefangenen hatte, konnten wir uns sehr gut austauschen. Ich habe ihnen Bücher und Literatur zum Thema gegeben. Konkret wollten sie erfahren, welche Auswirkung die Isolationshaft auf die Gefangenen hat und was ich über die Todesnacht in Stammheim wußte.

Ein weiterer Diskussionspunkt drehte sich um die Rolle und Bedeutung Deutschlands vor allem nach der Annexion der DDR, wodurch die BRD zur stärksten europäischen Macht aufstieg, für das türkische Regime. Beide Staaten unterhielten enge Kontakte, was zur Folge hatte, daß türkische und kurdische Aktivisten hier in Deutschland intensiv verfolgt wurden. Schließlich waren die PKK 1993 und die DHKP-C 1998 verboten worden. Die Diskussion hatte für mich auch praktische Folgen. Ich war zweimal während des Todesfastens in der Türkei und habe auch hier in Deutschland inhaftierte türkische Aktivisten besucht. Im Unterschied zum Hungerstreik wird das Todesfasten bis zu einem Resultat durchgeführt.

SB: Welche Rolle spielen die türkischen Gefangenen im Kontext der gesamten Gefangenenhilfe?

WL: Ich bin auch Mitglied des Netzwerks "Freiheit für alle politischen Gefangenen". Wir betreuen zwölf politische Gefangene, von denen neun der Anatolischen Föderation nahestehen. Es sind Kommunisten, die klassenkämpferische Positionen hier in Deutschland vertreten. Von daher ist es unerläßlich, sich mit ihnen auseinanderzusetzen und zu lernen, wie sie den Kampf in der Türkei, aber auch hier in Deutschland führen. Im Referat hier in der B5 hat der türkische Redner bezweifelt, daß Deutschland eine Demokratie ist; sie ist es zwar formell, aber nicht real. Ich kann mich dieser Position nur anschließen. Mir war es dabei wichtig, die repressive Rolle Deutschlands zu betonen.

SB: Hat sich die Repression hier in Deutschland deiner Ansicht nach in den letzten Jahren verschärft?

WL: Insgesamt gesehen, ja. Natürlich ist es schwierig, Vergleiche zu ziehen, aber ich kann zumindest sagen, daß im Fall der türkischen Mitglieder der Anatolischen Föderation auf jeden Fall verschärft repressive Mittel zur Anwendung gekommen sind. Es gab 50 Verfahren. Der Paragraph 129b ist im Gegensatz zum 129 kein Ermittlungs-, sondern ein Festnahme- und Abschreckungsparagraph. Das heißt, die Verurteilung fällt viel intensiver als beim Paragraphen 129 aus. Eine Untersuchung zum 129 hat gezeigt, daß in 95 Prozent der Fälle Ermittlungen vorgenommen wurden, die zur Durchleuchtung bestimmter politischer Zusammenhänge führten, während es beim Paragraphen 129b vor allem darum geht, Aktivisten mundtot zu machen.

Foto von Karawane mit Transparent 'Freiheit für die § 129b-Gefangenen!' - Foto: 2014 by Schattenblick

Foto: 2014 by Schattenblick

SB: Das heißt, Verfahren nach Paragraph 129b sollen in erster Linie eine einschüchternde Wirkung haben.

WL: Genau. Den migrantischen Aktivisten soll, vor allem wenn sie keinen gesicherten Status haben, demonstriert werden, daß sie leicht abgeschoben werden können. Deswegen sah ich mich verpflichtet, auch türkische Gefangenenorganisationen, die hier in Deutschland ihren Sitz haben, zu unterstützen. Im Klartext heißt das, ich bin formell in den Vorstand getreten, weil türkische Menschen oftmals selbst bei so etwas Läppischem wie einem eingetragenen Verein von den deutschen Behörden mit Repressalien überzogen werden und ihr Status dadurch gefährdet ist.

SB: Wie bewertest du persönlich das Verhältnis zwischen der Bundesrepublik und der Türkei? Vordergründig werden gerne Ressentiments gegen die Türkei aufgefahren, so sei ihr EU-Beitritt problematisch, andererseits arbeiten die Sicherheitsbehörden und Regierungsetagen eng zusammen.

WL: Ich denke, letzteres spielt eine ganz immense Rolle, gerade wenn man sich die geopolitische Funktion der Türkei vor Augen führt. Auch strategisch ist sie als zweitgrößte NATO-Armee enorm wichtig für das Militärbündnis. Nicht zufällig gehen viele deutsche Waffen an die Türkei. Allerdings wäre das türkische Repressions- und Folterregime ohne die Unterstützung der USA wie auch der Bundesrepublik Deutschland in dieser Form nicht überlebensfähig. Daß es hin und wieder zu Widersprüchlichkeiten zwischen imperialistischen Staaten kommt, siehe EU-Kandidatur, ist dabei unerheblich. Deutschland und die Türkei sind Teil der NATO und in diesem Sinne läuft die Zusammenarbeit reibungslos.

SB: Wie würdest du die Entwicklung der Türkei in den letzten Jahren unter der AKP-Regierung bewerten?

WL: Die politische Lage hat sich wesentlich verschärft. Türkische Freunde haben mir berichtet, daß Leute, nur weil sie an Demonstrationen teilgenommen haben, für zehn Jahre in den Knast gingen. Das heißt, das System ist noch repressiver geworden. Im Augenblick ist zwar viel vom Sumpf der Korruption in der Türkei die Rede, aber bevor der jetzige Ministerpräsident und auch der Präsident an die Regierung kamen, waren sie gerngesehene Gäste hier in Deutschland bei Tagungen der herrschenden Klasse.

SB: Du arbeitest seit vielen Jahren in der Gefangenenhilfe. Hat sich die Resonanz in der Linken hinsichtlich der türkischen Gefangenen im Lauf der Jahre verändert?

WL: Es hat sehr viele Festnahmen gegeben. Wie schon erwähnt sitzen neun Aktivisten der Anatolischen Föderation im Knast. Der Gefangene Faruk Ereren wurde inzwischen zum Glück wieder entlassen. Er hat jetzt vor kurzem eine Grußadresse an die Rote Flora geschickt, als diese im Brennpunkt der Repression stand. Dennoch ist das Verhältnis zwischen türkischen und deutschen Linken schwierig, zum einen wegen der sprachlichen und kulturellen Unterschiede. Zum anderen sind die türkischen Linken generell eher marxistisch orientiert, während die deutschen eher autonom, libertär oder anarchistisch sind. Aber immerhin gibt es an gewissen Punkten so etwas wie eine Annäherung. Eine echte Solidarität wird zukünftig nur möglich sein, wenn alle Kräfte, die von Repression betroffen sind, an einem Strang ziehen.

SB: Was ist deiner Ansicht nach an Solidarität wichtig und was könnte und sollte man konkret unternehmen, um sie zu stärken?

WL: Das ist eher eine Frage an die deutsche Linke. Wichtig ist vor allem, Kontakt zu den türkischen Linken aufzunehmen. Dazu gehört auch, Briefe an die türkischen Gefangenen zu schreiben, weil viele von ihnen Deutsch sprechen, wenn auch etwas holperig. Briefe auf Türkisch brauchen länger, bis sie durch die Zensur kommen. Solidarität ist schon deshalb unverzichtbar, weil Türken, die hier leben, immer einer viel stärkeren Repression ausgesetzt sind. Mit ihnen zu diskutieren und zu arbeiten, würde helfen, gewisse Unterschiede, die real vorhanden sind, aufzuheben. Das geht nur in einem Austauschprozeß.

SB: Wolfgang, vielen Dank für dieses Gespräch.


Fußnote:

[1] http://www.radioflora.de/contao/index.php/Beitrag/items/id-25-jahre-gefangenen-info-interview-mit-rolf-becker-und-wolfgang-lettow.html


Bisherige Beiträge zur Karawane "Freiheit für alle politischen Gefangenen" im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → POLITIK → REPORT:

BERICHT/178: Karawane der Richtigstellung - Der Staat ist gekommen, Paragraphen schlagen aus ... (SB)
INTERVIEW/212: Karawane der Richtigstellung - Enttäuscht, vertrieben und verfolgt, Gespräch mit Dila Eroglu-Sahin (SB)
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14. April 2014