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INTERVIEW/232: Aufbruch Türkei - Schulterschluß der Unterdrückten ..., Nick Brauns im Gespräch (SB)


Kurdistan-Solidarität und sozialer Fortschritt

Interview am 9. Juli 2014 in Berlin



Der Historiker, Journalist und Autor Dr. Nikolaus Brauns kann auf eine langjährige Tätigkeit als Korrespondent und Publizist mit den Schwerpunkten Türkei/Kurdistan, Geschichte der Arbeiterbewegung sowie deutsche Innenpolitik zurückblicken. Seit Januar 2007 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter der innenpolitischen Sprecherin der Linksfraktion im Deutschen Bundestag, Ulla Jelpke. Zudem ist er Vorsitzender des Hans-Litten-Archivs, engagiert sich im Kurdistan-Solidaritätskomitee Berlin und unternimmt regelmäßige politische Studienreisen in den Nahen Osten.

Am 9. Juli nahm der Schattenblick am Rande einer Veranstaltung in der Berliner Ladengalerie der jungen Welt die Gelegenheit wahr, Nick Brauns einige Fragen zur Rolle der Aleviten bei der Anti-Erdogan-Demonstration in Köln, der Bedeutung der Musikformation Grup Yorum und der aktuellen Lage der Kurden zu stellen.

Im Gespräch - Foto: © 2014 by Schattenblick

Nick Brauns
Foto: © 2014 by Schattenblick

Schattenblick: Die Schwäche der deutschen Linken ist ein altbekanntes Dilemma. Nun fand vor einigen Wochen in Köln eine große Anti-Erdogan-Demonstration statt, wo nach Schätzungen 70.000 bis 80.000 Menschen auf die Straße gegangen sind. Eine solche Massenmobilisierung hat die deutsche Linke seit ewigen Zeiten in dieser Form nicht mehr auf die Beine gestellt. Wie kann man sich die enorme Resonanz auf den Aufruf gegen Erdogan erklären?

Nick Brauns: Die Demonstration war ein Bündnis der Alevitischen Gemeinde Deutschland (AABF) mit verschiedenen kurdischen und linksradikalen Organisationen. Man muß ehrlicherweise sagen, daß die große Masse der Teilnehmer aus der alevitischen Gemeinde Deutschland kam. Das ist eine sehr gut organisierte Community, die große Wut, aber aus gutem Grund auch Angst vor Erdogan hat. Denn unter Erdogan wurde die Politik der sunnitischen Dominanz immer weiter ausgebaut. Nicht von ungefähr soll die dritte Istanbuler Brücke nach Yavuz Sultan Selim, einem berüchtigten Alevitenschlächter im 16. Jahrhundert, benannt werden. Auffallend ist auch, daß die von der Polizei erschossenen Gezi-Park-Demonstranten fast ausschließlich Aleviten waren.

Meines Erachtens wurde weit über die Hälfte der Demonstranten in Köln von der AABF mobilisiert. Hinzu kommt, daß sie ein Bündnis mit dem Europäischen Friedensrat und der Partei der Demokratischen Union eingegangen ist. In diesem Bündnis waren so ziemlich alle linken und fortschrittlichen Organisationen aus der Türkei vertreten. Die kurdische Föderation YEK-KOM konnte dann noch einmal einige tausend Leute beisteuern. Wegen des stockenden Friedensprozesses machen sich viele Kurden große Sorgen um die Zukunft der Türkei. Zu dem Zeitpunkt, als Erdogan hier in Deutschland war, gab es überhaupt keinen Fortschritt mehr. Die PKK hält seit anderthalb Jahren den Waffenstillstand, aber Erdogan war nicht bereit, irgendeine Gesetzesänderung einzuleiten. Inzwischen ist man einen Schritt vorangekommen. Dem Parlament liegt jetzt ein entsprechendes Gesetz vor. Im Hintergrund steht sicherlich, daß Erdogan Präsident werden will, und dafür braucht er kurdische Stimmen. Deswegen beteiligten sich die Kurden an der Demonstration gegen Erdogan in Köln, um Druck auf die türkische Regierung auszuüben.

SB: Die Aleviten hatten bei der breiten Allianz gegen Erdogan großen Wert auf die Bündnisfähigkeit gelegt und, mit wenigen Ausnahmen, jeden, unabhängig von der gesellschaftspolitischen Position, die er vertritt, aufgenommen. Ist dieses weit gefaßte Bündnis überhaupt tragfähig?

NB: Man muß allerdings hinzufügen, daß die AABF ihren Aufruf mit dem Hinweis vermerkt hat: Wir laden alle verfassungstreuen Bürger ein. Das stößt unangenehm auf, denn in Deutschland maßt sich immer noch der Verfassungsschutz, also ein demokratisch völlig unkontrollierbarer Geheimdienst, an, darüber zu bestimmen, wer verfassungstreu ist und wer nicht. Man muß wissen, daß ein Großteil der Bündnispartner der AABF aus Sicht des Verfassungsschutzes eben nicht verfassungstreu ist. Die kurdische Föderation YEK-KOM vertritt zwar die Mehrzahl der Kurden in Deutschland, gilt aber als PKK-Frontorganisation und ist damit nicht verfassungstreu. Auch die türkischen kommunistischen Organisationen gelten als nicht verfassungstreu. Wenn in den Aufruf so etwas hineingeschrieben wird, ist die Gefahr einer Ausgrenzung zumindest latent gegeben. Warum schreibt die AABF nicht, wir laden alle demokratischen und humanistisch gesinnten Organisationen ein?

Man muß allerdings auch anerkennen, daß die AABF in ihrer Praxis keine Gruppierung ausgrenzt. Bei der Demonstration in Köln waren sogar Gruppen dabei wie die Türkische Jugendunion (TGB). Das ist ein radikal kemalistischer Verband, dessen Mitglieder tatsächlich Kurden angreifen, sobald diese Öcalan-Fahnen tragen. Auf der Demonstration kam es dann auch zu Zwischenfällen mit diesen extrem nationalistischen Vertretern. Probleme gab es auch zwischen arabischen Alaviten, die Assad-Fahnen schwenkten und gegen Erdogan demonstrierten, weil er den Krieg gegen Syrien forciert, und Öcalan-Fahnen tragenden Kurden. All das wäre vermeidbar gewesen, wenn die jeweiligen Gruppen im Demonstrationszug räumlich voneinander getrennt gelaufen wären.

SB: Die Aleviten sind ein Teil dieses Widerstandsspektrums, ein anderer ist Grup Yorum. Vor wenigen Tagen hat die türkische Musikband in Oberhausen ein Konzert mit über 10.000 Besuchern gegeben. Doch während die Anti-Erdogan-Demo von deutschen Medien in starkem Maße wahrgenommen wurde, weil man im Vorwege wohl Krawalle befürchtet hatte, wurde Grup Yorum von der bürgerlichen Presse und selbst von den deutschen Linken weitgehend ausgeblendet. Viele Leute wissen gar nicht, wer das ist und welche enorme Bedeutung die Band für die Menschen hat, die zu ihren Auftritten kommen.

NB: Ja, sogar eine viel größere Bedeutung als die politische Strömung, die sie eigentlich repräsentiert. Grup Yorum steht einer radikalen linken Bewegung durchaus nahe, die in der Türkei als auch in Deutschland verfolgt wird und nie die Hallen so füllen könnte wie diese Musikformation. Grup Yorum ist die bekannteste linksradikale Band der Türkei. In der bürgerlichen Presse wird sie hierzulande mit absoluter Ignoranz bedacht. In der deutschen Linken ist es nicht mehr so. Grup Yorum gefällt auch Leuten, die wegen der dahinterstehenden politischen Ausrichtung sonst Bauchschmerzen hätten. Die Band schafft es einfach, die Gefühle der Leute in Worte zu fassen und in verschiedenen Sprachen darzustellen. Das Grup-Yorum-Konzert hier in Deutschland war kein Anti-Erdogan-Konzert, sondern den Opfern des NSU-Terrors gewidmet. Für Grup Yorum sind das keine Opfer des deutschen Naziterrors, sondern letztendlich des Komplotts deutscher Geheimdienste mit deutschen Neonazis. So etwas wird natürlich nicht gern gehört. Das Erdogan-Bashing ist inzwischen in den bürgerlichen deutschen Medien angekommen.

Als Kommunist und Aktivist der Kurdistan-Solidarität bin ich selbstverständlich jemand, der gegen Erdogan kämpft, aber ich muß mich trotzdem fragen, was passiert ist, wenn plötzlich in der Springerpresse ähnliche Vorwürfe gegen Erdogan erhoben werden wie in meinen Artikeln in der jungen Welt. Nach der großen Demonstration in Köln hatte ich in einem Kommentar in der jungen Welt geschrieben, daß sowohl die EU-Regierung als auch die USA Erdogan heute gerne loswerden wollen. Erdogan war ihnen lange Zeit ein willkommener Bündnispartner im Nahen Osten gewesen. Die USA hatten die Linie ausgegeben, daß sie sich nicht nur auf Israel stützen könnten, da Israel mit allen Nachbarstaaten verfeindet ist und als Fremdkörper in der Region wahrgenommen wird. Daher brauchten sie einen Bündnispartner, der besser in der Region verankert ist. Das sollte der neoliberale Islam sein. Als dessen Führungsmacht wurde die Türkei unter der AKP ausersehen. Erdogan spielte die Rolle als Führer der internationalen Moslem-Bruderschaft im Nahen Osten auch sehr gut. Erdogans Türkei sollte das Trojanische Pferd der NATO in der islamischen Welt sein.

Nun ist im letzten Jahr einiges passiert, was den geopolitischen Wert Erdogans radikal sinken ließ. Die ägyptischen Moslembrüder wurden mit grünem Licht aus Washington weggeputscht. Erdogan hat sich dem widersetzt, und das gefiel Washington gar nicht. In Syrien ist es den dortigen Moslembrüdern trotz fast dreijährigen Bürgerkrieges nicht gelungen, an die Macht zu kommen. Gleichzeitig hat Erdogan in Syrien nicht den gemäßigten prowestlichen und liberalen Islam gefördert, sondern vor allem die Al-Kaida-Kämpfer, zumal sie sich eher gegen die Kurden dort aufhetzen lassen und weniger gegen Assad Krieg führen. Das wiederum ist nicht unbedingt im Interesse des Westens. Gerade Israel sieht mit Bauchschmerzen, daß sich an seiner Haustür statt des vergleichsweise noch gut einzuschätzenden Assad jetzt plötzlich ein Al-Kaida-Staat zu etablieren beginnt. Eine andere rote Linie, die Erdogan überschritt, waren die Goldgeschäfte, die staatliche türkische Banken mit dem Iran abwickelten.

Wenig beachtet wird, daß die Türkei noch relativ gute Beziehungen zu Rußland unterhält, jedenfalls bessere, als sie vom Westen gutgeheißen werden. Ich hatte kürzlich die Gelegenheit, mit dem russischen Generalkonsul darüber zu sprechen. Er bestätigte mir gegenüber, daß die bilateralen Verhältnisse zwischen Rußland und der Türkei ausgezeichnet seien. Einerseits hängt die Türkei energiepolitisch von Rußland ab und würde dies gerne verändern, aber andererseits pflegt Ankara weiterhin gute Kontakte zu Moskau. Wenn wir einen Blick auf die heutige geopolitische Lage werfen, könnten diese Beziehungen vielleicht etwas zu gut sein für die Herren in Washington oder auch hier in Berlin.

Bezeichnend in diesem Sinne waren die Gezi-Proteste im letzten Jahr, als plötzlich scharfe Kritik aus Washington, Berlin und Brüssel an die Adresse Erdogans geäußert wurde. Das Vorgehen der Polizei war sicherlich brutal, aber die Polizei hat in den Jahren davor in den kurdischen Gebieten noch viel massiver durchgegriffen. Im Gezi-Park wurden massenhaft Gasgranaten und Wasserwerfer eingesetzt. Es gab Tote. Aber in Kurdistan wird scharf geschossen. Der Westen hat darüber geschwiegen, weil es der Antiterrorbekämpfung entspricht, die er mitgetragen hat. Als die Proteste im Gezi-Park losgingen, hat dies vor allem die arabische Welt aufmerken lassen, der man die Türkei als Vorbild für eine muslimische Demokratie verkaufen wollte. Es bestand aus Sicht des Westens die Angst, daß die Türkei durch die Politik Erdogans immer weiter gespalten und instabiler wird. Die Türkei spielt eine wichtige Rolle nicht nur als Energiedurchgangsland für bestehende und geplante Gas- und Ölpipelines, sondern auch als NATO-Partner. Eine Instabilität kann sich die NATO dort nicht leisten. Zudem entpuppt sich Erdogan immer mehr als eine Art anatolischer Berlusconi.

Deswegen würde ihn der Westen lieber heute als morgen loswerden, nicht zugunsten eines Alt-Kemalisten, aber vielleicht zugunsten des gemeinsamen Kandidaten der kemalistischen und faschistischen Opposition Ekmeleddin Ihsanoglu. Eigentlich ist er der Wunschkandidat der USA und ein herausragender Vertreter der türkisch-islamischen Synthese, der an der Spitze der Organisation für Islamische Zusammenarbeit den Putsch gegen die Moslembrüder abgenickt hat und auch schwieg, als mit Libyen ein islamischer Staat bombardiert wurde. So einen hätte der Westen gerne und viel lieber als den unberechenbaren Erdogan, der eine zu starke nationalistische Politik verfolgt und eben nicht mehr das willfährige Werkzeug der NATO ist.

SB: Wie bewertest du die Situation der Kurden in den Kämpfen und Zerwürfnissen im Moment?

NB: Die Kurden sind momentan in einer recht starken Position. Seit eineinhalb Jahren gibt es den Friedensprozeß, der im Grunde von kurdischer Seite eingeleitet wurde. Die PKK hatte im Jahr 2012 die größte Guerillaoffensive seit den 90er Jahren begonnen, um erst einmal zu zeigen, daß sie militärisch nicht zu schlagen sind. Danach kam es zum Hungerstreik von 10.000 politischen Gefangenen mit der Forderung, Abdullah Öcalan als kurdischen Verhandlungsführer einzusetzen. In dieser Situation hat die Regierung von Erdogan dann tatsächlich angefangen, Verhandlungen aufzunehmen. Man kann mit Sicherheit davon ausgehen, daß die türkische Regierung und die PKK ganz unterschiedliche Vorstellungen davon haben, was dabei herauskommen soll. Erdogan will die PKK entwaffnen und die Kurden gerne als Wähler gewinnen, um Präsident zu werden. Da die Kurden mehrheitlich Muslime sind, könnte er sie im Namen des Islam an den türkischen Staat binden.

Die kurdische Seite wiederum will endlich einen eigenständigen Status zuerkannt bekommen, damit in der Türkei nicht mehr allein das Türkentum betont wird. Und natürlich will sie ihr Projekt der demokratischen Autonomie und Selbstverwaltung im Rahmen der türkischen Staatsgrenzen durchführen. Die Hauptforderung der Kurden an Erdogan lautet im Grunde genommen: Erkenne an, daß wir unsere Basisdemokratie aufbauen. Dort, wo unsere Leute zu Bürgermeistern gewählt wurden, wollen wir selber die Kommunen kontrollieren und unsere Vorstellungen umsetzen. Das Ganze geht natürlich weiter. Die kurdische Seite, und damit die PKK wie auch die legalen Parteien wie BDP und die HDP, streben keine einseitig nationalistische Lösung an. Ansonsten könnten sie jetzt mit Erdogan einen Deal machen: Wir wählen dich zum Präsidenten, und du läßt uns danach in Ruhe, damit wir unsere politischen Ziele verwirklichen können.

Die Position der Kurden in diesem Konflikt ist von der Gründungsgeschichte der PKK her jedoch eine andere. Man muß wissen, daß die PKK aus der türkischen Linken heraus gegründet wurde, weil die Linke in der Türkei aus Sicht Öcalans damals nicht bereit war, die kurdische Frage zu lösen. Dennoch hat die PKK von Anfang an gesagt, unser Ziel ist nicht nur ein freies Kurdistan, sondern eine demokratische Türkei und ein freier Mittlerer Osten. Die Befreiung der Türkei muß über die Befreiung der Kurden gehen. Die Mitbegründer der PKK kamen damals aus der Tradition der Dev Genc, der revolutionären Jugend, einer im Grunde türkischen antiimperialistischen Bewegung. Und in dieser Tradition sieht sie sich heute noch. So ist es auch zu verstehen, daß die PKK nicht die Separation eines autonomen Kurdistan, sondern tatsächlich das Ziel einer neuen und demokratischen Türkei verfolgt. Deswegen hat sie auch angefangen, in Kurdistan selber demokratische Strukturen aufzubauen, aber man muß das eingebettet sehen in das Projekt einer gesamttürkischen linken Partei. Dafür steht die HDP, die Demokratische Partei der Völker, die im Grunde ein Bündnis der kurdischen BDP mit radikalen türkischen Linken und marxistischen Organisationen, aber auch mit Feministinnen, Homosexuellenverbänden, Ökologen und Gruppierungen der nationalen und religiösen Minderheiten ist und in den kurdischen Gebieten bereits über 100 Kommunen kontrolliert. Die gesamte Fraktion der kurdischen BDP im Parlament, der nur drei türkische Linke angehören, ist geschlossen in die HDP übergetreten, verstanden als symbolischer Akt dafür, daß sie nicht bereit ist, die Westtürkei unter der Knute von Erdogan zu belassen. Es ist ein Zeichen dafür, daß der Kampf für demokratische Alternativen und für eine neue Türkei aufgenommen wurde.

Doch wo stehen die Kurden jetzt? Einerseits heißt es, die Kurden seien die Königsmacher bei der Präsidentschaftswahl, aber andererseits kandidieren die kurdischen Parteien mit ihrem Vorsitzenden Selahattin Demirtas selber um das höchste Staatsamt. Sie hoffen wohl darauf, in der ersten Runde der Wahl genug Stimmen zu kriegen, um es Erdogan schwerzumachen. Es ist noch nicht klar, wie sie sich in der zweiten Runde der Wahl entscheiden werden. Die kurdische Seite sagt indes ganz klar: Wir werden uns auf keinen Kuhhandel mit Erdogan einlassen. Es ist kein Frieden zu erzielen, wenn wir ihn wählen und er uns im Gegenzug verspricht, keine Militäroffensive gegen uns zu starten. Es geht nicht darum, wer Präsident wird, sondern um den Aufbau eines ganz neuen Systems. Die neue Türkei soll nicht nur einen neuen Präsidenten haben, vielmehr geht es darum, eine demokratische Ordnung von unten her zu schaffen, so wie es in Kurdistan jetzt schon der Fall ist.

Daher denke ich, daß die kurdische Seite im Augenblick ziemlich stark ist. Vor ein paar Jahren war von Kurden nicht einmal die Rede, da lief noch die Verleugnungspolitik. Jetzt müssen alle um die Kurden werben. Möglicherweise hat sich die türkische Regierung auf diesen Friedensprozeß nur eingelassen, um Zeit zu gewinnen und die Kurden hinzuhalten. Wie vor jeder Wahl wird den Kurden vieles versprochen. Aber inzwischen ist die PKK tatsächlich die treibende Kraft im Friedensprozeß. In dieser zivilen Bewegung geben Abdullah Öcalan und die PKK vor, in welcher Richtung gelaufen werden muß. Vor diesem Hintergrund hat Erdogan jetzt ein sehr weitreichendes Gesetz eingebracht, das für sich gesehen als Fortschritt im Friedensprozeß zu werten ist. Wir müssen jetzt sehen, was in der Praxis folgt und ob es eine Veränderung von unten her sein wird. Es hängt nicht so sehr davon ab, was der türkische Staat macht. Abdullah Öcalan sagt nicht zufällig zu den Kurden in der Türkei: Schaut nach Syrien, schaut nach Rojava, wie dort mitten im Krieg eine Alternative geschaffen wird. Hier in der Türkei habt ihr trotz der vielen politischen Gefangenen und der Repression eine viel bessere Ausgangsposition. Fangt an, eure Ideen selber umzusetzen, wartet nicht darauf, bis Erdogan es euch erlaubt. Es wird nicht über die demokratische Autonomie verhandelt, sondern darüber, daß die Kurden einen Status bekommen. Es geht dabei natürlich nicht nur um die Kurden, das ist kein nationales Projekt, sondern um alle Völker in der Region und in der Türkei: Assyrer, Aramäer, Armenier und Türkmenen sind genauso dabei wie Türken und Kurden. Von daher begreift sich die HDP als eine sozialistische und eben nicht als eine prokurdische Partei.

SB: Nick, vielen Dank für dieses aufschlußreiche Gespräch.

Nick Brauns mit SB-Redakteur - Foto: © 2014 by Schattenblick

Befreiung der Türkei als sozialistische Perspektive
Foto: © 2014 by Schattenblick

29. Juli 2014