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INTERVIEW/239: Borderline Syrien - Ankaras Begehrlichkeiten ...    Michael Knapp im Gespräch (SB)


Rojava soll leben - Angriff auf die kurdische Befreiungsbewegung

Interview am 23. September 2014 in Berlin-Kreuzberg



Michael Knapp ist Historiker und in der Kampagne Tatort Kurdistan aktiv. Anläßlich der akuten Notlage, der die mehrheitlich kurdische Enklave Rojava im Norden Syriens durch die Angriffe des Islamischen Staates (IS) ausgesetzt ist, beantwortete er dem Schattenblick einige Fragen zu den Hintergründen der brisanten Situation.

Im Gespräch - Foto: © 2014 by Schattenblick

Michael Knapp
Foto: © 2014 by Schattenblick

Schattenblick: Michael, wie ist es zu deinem schon seit 16 Jahren währenden Engagement in der Kurdenfrage gekommen?

Michael Knapp: Es begann mit der einfachen Überlegung: Wenn Deutschland Waffen in die Türkei exportiert, die dann in einem blutigen Krieg gegen die kurdische Bevölkerung eingesetzt werden, ist es unsere Verantwortung, etwas dagegen zu tun. Mit der Zeit ist mir klargeworden, welches fortschrittliche Projekt die kurdische Freiheitsbewegung in der Region verfolgt. Neben radikaldemokratischen Ansätzen gehört vor allem die Frauenbefreiung dazu. Was dort entwickelt wird, könnte durchaus ein Beispiel für gelebte Demokratie sein, die man weder in Europa noch weltweit in vergleichbarer Form findet. Die linken Bewegungen in Europa könnten davon durchaus lernen.

Innerhalb der Kampagne Tatort Kurdistan hatten wir uns schon vorher sehr intensiv mit dem basisdemokratischen System in Nordkurdistan auseinandergesetzt und über das, was dort auf türkischem Staatsgebiet realisiert wurde, verschiedene Artikel verfaßt. Wir waren auch mit einer Forschungsdelegation in der Region und konnten uns von den Strukturen, die dort aufgebaut werden, mit eigenen Augen überzeugen. Leider werden diese aufgrund der hohen Repression des türkischen Staates immer wieder zerschlagen.

An Rojava hat uns vor allem interessiert, daß dort praktisch unter Kriegsbedingungen ein befreites Gebiet geschaffen wurde, in dem ein System der demokratischen Autonomie umgesetzt wird. Dieses Projekt einer Radikaldemokratie wird von allen Seiten angegriffen. Dieser Tage schauen wir mit Sorge auf den Kanton Kobanê, gegen den sowohl die Türkei als auch ISIS Krieg führen.

SB: Gibt es deiner Kenntnis nach noch andere Formen demokratischer Selbstorganisation in dieser Region?

MK: Die Entwicklungen in Rojava sind beispiellos im Mittleren Osten. Möglicherweise ließen sich Ansätze der Zapatistas in Chiapas damit vergleichen, aber in Rojava haben wir es wirklich mit der gesellschaftlichen Institutionalisierung einer radikalen Demokratie zu tun. Dieses Rätesystem basiert auf dem Grundgedanken einer Kommune bzw. auf einem Zusammenschluß von etwa 20 Haushalten. Auf dieser Ebene werden alle Entscheidungen, die für diese zentrale Einheit relevant und möglich sind, getroffen. Die einzelnen Räte stellen, natürlich imperativ mandatiert, die nächste Stufe im Rätesystem. Jeder dieser Räte ist zu 40 Prozent geschlechterquotiert. Bevor diese Geschlechterquote nicht erreicht ist, sind die Räte nicht entscheidungsfähig. Darüber hinaus gibt es autonome Frauenstrukturen, die in der Region die revolutionäre Bewegung anführen und dadurch die Gesellschaft ganz grundsätzlich verändern.

Wir erleben gerade auf grausame Weise, daß der Mittlere Osten im Grunde eine Region darstellt, der das nationalstaatliche Konzept mit dem Sykes-Picot-Abkommen von 1916 übergestülpt worden ist, also des Exports des monistischen, unitären Nationalstaats aus Europa. So entstand die Türkei als Nation von Menschen mit türkischer Identität und Syrien als Nationalstaat mit arabischer Identität. Gerade die nationalstaatliche Arabisierungspolitik in Syrien führte immer wieder zur gesellschaftlichen Ausgrenzung dieser Nationalidentität nicht entsprechender Gruppen. Folge davon in der Türkei waren der Armenier-Genozid und die Assimilierungspolitik gegen die Kurdinnen und Kurden, während in Syrien Minderheiten durch die Politik des Arabischen Gürtels drangsaliert wurden. Die kurdische Bewegung hat sich mit ihrem Modell der Autonomen Demokratie entschieden gegen den Nationalstaat gewendet und sozusagen die Kommune und den Rat in den Mittelpunkt des politischen Lebens gestellt. Den Kurden geht es nicht darum, eine eigene Nation auszurufen, sondern um eine Konföderation von Kommunen.

SB: Wäre der demokratische Konföderalismus, den Abdullah Öcalan propagiert, demnach eine Erweiterung des antinationalen Paradigmas?

MK: Richtig. Grenzen werden nicht akzeptiert. Man schaue sich einmal die Grenzstadt Qamishlo im Kanton Cizire an. Mitten durch die Stadt führt eine Grenzmauer, deren Verlauf im Sykes-Picot-Abkommen so entschieden und mit dem Vertrag von Lausanne umgesetzt wurde. Die Mauer trennt Familien auf beiden Seiten der Grenze. So gesehen ist der Konföderalismus wirklich ein antinationales Paradigma, das den Staat als Träger einer Nation ablehnt.

SB: In Rojava leben auch Menschen arabischer Herkunft. Kannst du aufgrund deiner persönlichen Erfahrungen bestätigen, daß die Rätestrukturen in Rojava auch für arabische Kulturen Anknüpfungspunkte bieten und damit kulturunspezifisch ausgerichtet sind?

MK: Das kann ich bestätigen. Wir waren den ganzen Mai in Rojava, und ich war bereits letztes Jahr im Oktober dort gewesen. Wir haben gerade zu diesem Thema mehrere Untersuchungen durchgeführt und dabei festgestellt, daß es ein multiethnisches, gewissermaßen ein multidentitäres Modell ist. Jeder ist, ob seine Identität nun religiös oder kulturell bedingt ist, darin quotiert und wird durch die Räte repräsentiert. Man könnte fast von einer positiven Diskriminierung sprechen, denn jede gesellschaftliche Gruppe erhält Pflichtsitze, unabhängig vom Anteil an der Gesamtbevölkerung.

Die Region in der Nähe von Schengal, aber auf syrischer Seite, wird vor allem von arabischen Stämmen bewohnt. Sie wurde von der Al-Qaida-Splittergruppe Al Nusra und später vom ISIS (Islamischer Staat im Irak und Syrien) kontrolliert, die unter den arabischen Stämmen dort ziemlich gewütet haben. Daraufhin haben die Stämme die YPG (Yekîneyên Parastina Gel - Volksverteidigungseinheiten) gebeten, sie zu befreien, was dann auch geschah. Und jetzt gibt es plötzlich auch arabische Fraueneinheiten, die sich der YPG dort angeschlossen haben. Es kommt zu einem regelrechten Zustrom. Durch den pluralistischen Grundgedanken und die enge Zusammenarbeit und Repräsentanz von allen Gruppen in den Räten finden sich nun auch die arabischen Menschen in der Region wieder. Diese verwirklichte Utopie könnte ein Lösungsmodell für viele Probleme des Mittleren Ostens sein, der im Grunde auf dem Aufeinanderhetzen unterschiedlicher religiöser oder ethnischer Identitäten aufgebaut ist.

SB: Die Angriffe des IS stellen eine nie dagewesene Herausforderung in Rojava dar. Es ist allgemein bekannt, daß die dschihadistischen Kämpfer hauptsächlich über die Türkei nach Syrien einreisen. Wie bewertest du, daß die Türkei als NATO-Mitglied angeblich an der Seite der USA gegen den IS vorgeht, aber ganz offensichtlich auch eigene Interessen verfolgt?

MK: Als NATO-Staat handelt die Türkei natürlich nicht unabhängig. Das kann man auch an der Geschichte des Konflikts in Syrien und am Verhalten der Türkei darin deutlich erkennen. Wenn wir uns die Rezeption des IS in den deutschen Medien anschauen, dann taucht die Bezeichnung "IS" für die verschiedenen Dschihad-Kämpfer erst in dem Moment auf, als sie in Mossul einmarschieren. Wir dagegen haben uns bereits zwei oder drei Jahren vorher ganz intensiv mit den Massakern des IS bzw. von Al Nusra auseinandergesetzt. Damals galten diese Gruppen aber offiziell noch als Teil der syrischen Opposition, die unterstützungswert seien und indirekt natürlich auch mit Waffen beliefert wurden. Da hat man die Politik der Türkei mit der ganz massiven Unterstützung dieser Gruppen billigend in Kauf genommen.

Ein Beispiel dazu: Im November 2012 haben Tausende IS- und Al Nusra-Kämpfer bei Ceylanpinar die Grenze überquert, was man sich im Netz sogar auf Videos anschauen kann, und Ras el Ain und Ceylanpinar besetzt und dort ein grausames Terrorregime errichtet. Daneben gab es auch einen Angriff bei dem Dorf Elok östlich von Serekaniye. Da sind mehrere tausend Dschihadisten mit Panzern über die türkische Grenze gegangen. Man muß dabei bedenken, daß 50 Kilometer davon entfernt deutsche Soldaten der Bundeswehr stationiert waren. Daß man das nicht registrieren wollte, ist ganz klar. Ras al Ain hat sich dann mit Hilfe der YPG Schritt für Schritt selbst befreit. Wir waren dort und haben uns angeschaut, was diese Gruppen dort angerichtet haben. An einer Wand stand mit Blut geschrieben: "Wir sind gekommen, um zu schlachten."

Die Türkei hat sich eine Zeitlang auf den Standpunkt gestellt, nur Al Nusra unterstützt zu haben, als ob diese Al Qaida-Fraktion liberaler gewesen sei. Wir waren in Ras al Ain im ehemaligen Gerichtszentrum, das kurz vorher befreit worden war. Da lagen noch Akten und Haftbefehle herum, die von ISIS und Al Nusra gemeinsam gestempelt waren. Das sind deutliche Belege. Ich kann noch eine andere Beobachtung anführen. Im Mai gab es, kurz bevor wir dort eintrafen, zwei Autobombenanschläge in Serekaniye. Daraufhin hat die YPG einen Stützpunkt des IS dort gestürmt. Nach der Räumung konnte wir uns den Stützpunkt anschauen. Dort stießen wir auf eine Bombenwerkstatt von IS. Wir fanden Autobomben mit Detonatoren und daneben lagen stapelweise Kisten, wahrscheinlich voller Nahrungsmittel, mit der Aufschrift: "Saudi-Arabien und Türkei Hand in Hand".

Kurioserweise hat die Türkei den Grenzübergang bei Serekaniye inzwischen durch eine Mauer verstärkt, obwohl die Lage dort stabil ist. Aber zum Gebiet hin, das von ISIS kontrolliert wird, gibt es nur einen Zaun, der zum Großteil niedergetreten ist, und dort finden nach Augenzeugenberichten regelmäßig Kontakte zwischen türkischen Vertretern und Unterhändlern der ISIS statt. In einem Ort auf der türkischen Seite hat ISIS sogar einen Schwarzmarkt, auf dem alle möglichen geplünderten Sachen wie zum Beispiel Wasserhähne verkauft werden. Ferner haben uns Augenzeugen berichtet, daß neuerdings Züge oder Lastwagen mit Waffen über die Grenze fahren. Andere Dorfbewohner aus der Region erzählten uns, daß Busse mit Dschihadisten von der Türkei an die Grenze transportiert worden sein sollen. Möglicherweise hängt das mit der sogenannten Befreiung der 49 türkischen Geiseln zusammen.

Ich persönlich würde noch einen Schritt weitergehen, denn die Türkei hatte ISIS schon vor der Geiselnahme unterstützt und damit auch danach nicht aufgehört. Hinter den wiederholten Transporten von Waffen und Kämpfern steckt ein politisches Interesse. Der Türkei ist das basisdemokratische Projekt in Rojava ein Dorn im Auge, weil es sich dem türkischen Hegemonialanspruch über diese Region anders als der Vasallenstaat in Südkurdistan, der vom türkischen Kapital weitgehend abhängig ist, in keinster Weise unterwirft. Das Projekt weckt unglaublich viel Hoffnung auch für die kurdische Bevölkerung in der Türkei. Auch die Kurden auf türkischer Seite versuchen ein Projekt dieser Art zu verwirklichen, aber sie sind mit Repression konfrontiert. Nicht nur für die Türkei ist Rojava ein Ärgernis. Letzten Endes gilt das auch für den Westen, der darüber besorgt ist, daß an der Peripherie der EU eine Alternative zur kapitalistischen Moderne aufgebaut wird. Nachdem Fukuyama vom Ende der Utopien gesprochen hat, will sich der Westen natürlich alternativlos darstellen. Ich denke, das hat auch mit dem PKK-Verbot hierzulande zu tun.

SB: Das Verhältnis zwischen dem kurdischen Autonomiegebiet im Nordirak mit Masud Barzani an der Spitze und dem konföderalen System in Rojava scheint mindestens ambivalent zu sein. Steht der Traum von einem eigenen kurdischen Staat einer Annäherung im Wege?

MK: In Südkurdistan wird gerade eine Form des Nationalstaats realisiert. De facto existiert er schon seit Jahren. An diesem Beispiel kann man eben auch die negativen Dimensionen des nationalstaatlichen Modells studieren. Denn über 70 Prozent des Kapitals in Südkurdistan kommt aus der Türkei, was eine nahezu vollständige politische Abhängigkeit zur Folge hat. So ist es nicht überraschend, daß die Kurden im Nordirak 1992 gemeinsam mit der türkischen Armee gegen die PKK vorgegangen sind. Ähnliches zeigt sich jetzt in der Politik des über die Region Rojava verhängten Embargos.

Man muß sich einmal vorstellen, daß sogar ein Graben entlang der Grenze errichtet wurde, damit keine Hilfsgüter herüberkommen. Wir haben uns dort davon überzeugen können, daß vierzehn Tonnen Medikamente sowie notwendige Generatoren an der Grenze zurückgehalten werden. Die Gegnerschaft zu Rojava hat damit zu tun, daß Barzanis Herrschaft auf einer Clanstruktur basiert. Südkurdistan verfügt zudem über keinen öffentlichen Haushalt und hat bis zu den Auseinandersetzungen im wesentlichen davon gelebt, daß 17 Prozent der Petrodollars, die der Irak eingenommen hat, an die nordirakische Regierung gingen, die praktisch vom Barzani-Clan gestellt wurde, die das Geld dann weiter an ihr Klientel verteilt hatte.

Südkurdistan ist ein korruptes Feudalsystem. Es nennt sich Nation, aber für die armen Menschen dort fällt nichts ab. Alternativ dazu hat man in Rojava ein Modell, das die Menschen von der Basis her repräsentiert. Für jemanden wie Barzani ist das natürlich Gift, weil er es nicht unter Kontrolle bringen kann. Deswegen hat er ein großes Interesse daran, dieses Projekt zu kippen und Parteien wie die KDP Syrien (Kurdistan Democratic Party of Syria) zu installieren, die auf seinem Kurs stehen. Wir haben mit einem Mann geredet, der in Tirbespi, einer Stadt in Rojava im Kanton Cizire, festgenommen wurde, als sein Freund gerade eine Bombe gebaut hat. Er war Kader der KDP Syrien. Drei Stunden hat er aufs detaillierteste darüber berichtet, wie er von Barzanis Geheimdienstchef darin ausgebildet wurde, in Rojava Terror zu verbreiten, also Bomben gegen die arabische Bevölkerung und die YPG zu legen. Der ethnische Haß sollte aufgestachelt werden, um die Kräfte gegeneinander auszuspielen, damit Barzani dann mit seinen Peschmerga als lachender Dritter kommen konnte.

Mit diesem Problem haben wir es auch in Schengal zu tun gehabt, als sich die KDP (Kurdistan Democratic Party) einfach zurückgezogen und die Bevölkerung praktisch dem Völkermord überlassen hat. Und bezeichnend an dieser furchtbaren Politik ist natürlich, daß die KDP jetzt mit Waffen beliefert wird. Barzani ist letzten Endes eine Strohpuppe für die Türkei, den Westen und die USA, und deshalb wird er auch mit Waffen versorgt. Aber die Kräfte, die wirklich für eine Emanzipation stehen, bleiben außen vor, unabhängig davon, was man im einzelnen von Waffenexporten halten mag.

Michael Knapp im Gespräch - Foto: © 2014 by Schattenblick

Solidarität ohne nationale Grenzen
Foto: © 2014 by Schattenblick

SB: Es heißt, daß der IS mit deutschen Milan-Raketen schießen würde. Gibt es Belege dafür, daß die Dschihadisten deutsche Waffen einsetzen?

MK: Es gibt Belege für den Einsatz deutscher Waffen, die nach Syrien exportiert wurden, bevor man Assad zum Bad Guy gestempelt hatte. Übrigens hat man noch kurz vor Ausbruch des Krieges ein Abschiebeabkommen mit Syrien als sicheres Heimatland geschlossen. Das ist auch ein interessantes Faktum. Aus dieser Zeit stammen die Milan-Raketen, die dann in die Hände des IS gefallen sein können. Vor allem ist jedoch davon auszugehen, daß deutsches Kriegsgerät über die Waffenlieferungen der Türkei an die Dschihadisten gelangt ist. Ich kann allerdings nicht genau sagen, welche Waffentypen aus deutscher Produktion im einzelnen beim IS gefunden wurden, aber die Türkei ist nun einmal einer der größten Abnehmer deutscher Waffen. So hat man der Türkei die ganze NVA-Ausrüstung für ihren Krieg gegen die Kurden praktisch geschenkt. Daß diese Waffen jetzt vom IS eingesetzt werden, ist also nicht verwunderlich. Daran kann man erkennen, welche Dimension Waffenlieferungen haben.

SB: Wer trifft die außenpolitischen Entscheidungen in Rojava, die PYD oder ein Ratsgremium?

MK: Es gibt im Moment einen Hohen Kurdischen Rat, in dem auch die Parteien, die nicht in der Räteverwaltung organisiert sind, eine Repräsentanz haben. Er ist das höchste Entscheidungsgremium aller Räte. Das ist natürlich eine problematische, schwierige Struktur, weil eine außenpolitische Vertretung dringend notwendig ist, um mit anderen Staaten Verhandlungen führen zu können, was mit einem Rätesystem schwer zu leisten ist.

SB: Gibt es in Rojava neben dem Wunsch nach humanitärer Hilfe auch ein Interesse an Waffenlieferungen aus dem Westen?

MK: Selbstverständlich, denn die Leute sind aktuell von ISIS bedroht. Sie brauchen jede Form der Unterstützung, die sie bekommen können. Natürlich wollen sie auch Waffen haben, auch wenn die kurdische Freiheitsbewegung sich in ihrer Politik immer grundsätzlich gegen Waffenlieferungen bzw. eine Unterstützung von außen ausgesprochen hat. So gab es zum Beispiel in Ostkurdistan die Situation, als die USA an die dortige kurdische Freiheitsbewegung PJAK, die praktisch mit der PKK assoziiert ist, Waffen liefern wollte als Kontereinheit gegen den Iran. Die PJAK hat das Angebot abgelehnt. Aber in Kobanê haben wir jetzt natürlich eine Situation, die ich durchaus mit dem Spanischen Bürgerkrieg vergleichen würde. Hier steht oder fällt ein fortschrittliches Projekt, und jede Hilfe ist notwendig. Woher die Waffen kommen, ist im Moment für die Menschen dort unerheblich. Die politischen Fragen, die sich daraus ergeben, müssen später irgendwann gestellt werden, im Moment sind sie für die Leute dort insofern nicht relevant.

SB: Die USA verfolgen eine ganze Reihe verschiedener Interessen in der Region. Dennoch muß man sich die Frage stellen, warum die US-Regierung wie auch die Bundesregierung nicht mehr Druck auf die Türkei ausüben, wenn sie es denn ernst meinen mit der Bekämpfung des IS? So könnte der Eindruck entstehen, daß die Dschihadisten durch die USA instrumentalisiert werden, um letztlich einen Regimewechsel in Syrien zu erzwingen.

MK: Es gibt auf jeden Fall ein gespaltenes Verhältnis zum IS. Man kann davon ausgehen, daß die Türkei nicht unabhängig von den NATO-Partnern agiert, auch wenn man in Ankara die Losung ausgibt, wir lassen nicht zu, daß der IS von der Türkei aus bombardiert wird. Da finden eine Menge Scheingefechte statt. Aber letzten Endes haben wir doch die Situation, daß der IS jahrelang durch die Türkei frei unterstützt werden konnte und damit eben auch durch den Westen.

Was steckt dahinter? Zum einen die Bekämpfung des Assad-Regimes und damit die Durchsetzung eines Regimewechsels in Syrien mit allen Mitteln, aber zum anderen auch die Vernichtung des fortschrittlichen Projekts in Rojava. Gerade dieser Punkt zeichnet sich an der Haltung der Bundesregierung zu dem ganzen Konflikt im besonderen ab, weil Rojava auch als Bedrohung für das Greater Middle East Projekt der USA angesehen wird. Denn eine Demokratisierung der Region schafft keine abhängigen Mächte, sondern einen wirklich selbständigen, selbstbewußten und starken Mittleren Osten. Im Januar letzten Jahres gab es eine Anfrage bei der Bundesregierung von seiten der Linkspartei zu den dschihadistischen Verbrechen in Rojava. Darauf hat die Bundesregierung geantwortet: Wir wissen nichts von Verbrechen des IS oder von dschihadistischen Gruppen in Syrien, wir sind aber sehr besorgt über die "Diktatur" der PYD in Rojava. Über die Selbstverwaltung war sie besorgt, nicht aber über die Verbrechen des IS.

Erst als ihre eigenen vitalen Interessen in der Region betroffen wurden, haben die USA damit begonnen, gegen den IS vorzugehen, nämlich als die Dschihadisten 40 Kilometer vor Mossul standen. Daß sich Obama jetzt hinstellt und die Rettung von Schengal ans Revier heftet, kann man durchaus als schäbig bezeichnen, denn die Hauptlast an der Rettung der jezidischen Bevölkerung - das bestätigt auch jeder Jeside, mit dem man in den Flüchtlingslagern dort redet - haben die YPG und die HPG (Hêzên Parastina Gel - Volksverteidigungskräfte), die Guerilla der PKK, getragen.

SB: Könnte man die Luftangriffe im Norden des Irak als Entlastung für Rojava bezeichnen oder verhält es sich eher so, daß der IS dadurch nach Syrien abgedrängt wird?

MK: Es gab auf jeden Fall eine Ausweichbewegung des IS nach Rojava. Die Belagerung von Kobanê erfolgte nach dem Zurückdrängen des IS aus dem Irak. Deswegen wurden so viele IS-Kräfte nach Nordsyrien verlagert. Tatsache ist jedoch auch, daß der IS ohnehin stark auf die Vernichtung des Projekts in Rojava fokussiert ist. Nach der Einnahme von Mossul gab es eine Riesenparade des IS in Rakka mit den erbeuteten US-Waffen. Kurz darauf ging die erste Offensivwelle gegen Kobanê los. In den Augen des IS ist das Projekt in Rojava verabscheuungswürdig und muß daher vernichtet werden. Ich denke, dahinter steckt das Kalkül, so eine Art Gleichgewicht in der Region zu halten. Während die Türkei die vollständige Vernichtung des Projekts forcieren möchte, haben der syrische Staat, aber auch die USA das Interesse, diese Kräfte ein Stück weit auszukontern. Es hat auch Eingriffe des syrischen Staats auf die Region Rojava gegeben, auch wenn sie keine großen Ausmaße hatten. Aber es gab durchaus Allianzen mit dem IS. Jeder paktiert irgendwie mit dem IS und versucht, ihn zu instrumentalisieren.

In dem Zusammenhang muß man jedoch auch berücksichtigen, daß in der Türkei eigentlich ein Friedensprozeß läuft. Die Vernichtung des Projekts Rojava zielt natürlich auf eine Schwächung der kurdischen Bewegung ab. Ich habe heute ein Interview mit dem KCK-Exekutivratsvorsitzenden Murat Karayilan gelesen. Darin brachte er die Sorge zum Ausdruck, daß die Türkei den Friedensprozeß möglicherweise für beendet erklärt hat. Einmal abgesehen von den schweren Übergriffen auf Demonstranten hat es in letzter Zeit kaum noch Gefechte in der Türkei gegeben. Im Gegenzug hat die Türkei ihre antikurdische Politik und den Krieg gegen die kurdische Freiheitsbewegung auf den IS verlagert, der die Bewegung in Rojava angreift. Um dieses Ziel zu erreichen, hat die Türkei sogar ihre Turkmenen, mit denen sie sonst Politik macht, in Mossul, so muß man es sagen, praktisch geopfert.

SB: Innerhalb der türkischen Linken wurde behauptet, daß die kurdische Bewegung sich während der Aufstände im Gezi-Park und auf dem Taksim-Platz zurückgehalten habe, weil Aussicht auf eine Einigung mit Erdogan bestanden hätte. Würdest du den Vorwurf aus deiner Sicht bestätigen?

MK: Erst einmal muß man die Situation so wahrnehmen, daß es lange Zeit einen Bruch zwischen der Linken in der Türkei und der kurdischen Freiheitsbewegung aus verschiedenen Gründen gegeben hat. Aber als die Gezi-Park-Bewegung losging, hat sich die kurdische Bewegung auch daran beteiligt. Mit der Zeit ist der gemeinsame Widerstand immer mehr angewachsen. Ich möchte in diesem Zusammenhang an die Bilder erinnern, als Kemalisten mit einer Türkeifahne und Kurdinnen und Kurden mit einer Öcalan-Fahne Seite an Seite gegen die Wasserwerfer gekämpft haben. Das war der Ausdruck einer positiven Entwicklung. Inzwischen wurde die Partei HDP (Halklarin Demokratik Partisi) gegründet, die im Grunde ein vielseitiges zivilgesellschaftliches Bündnis ist. Das war auch ein Resultat aus der Gezi-Bewegung.

Natürlich war die Wahrnehmung in der Region Kurdistan für den Gezi-Aufstand anfangs nicht so ausgeprägt, weil man gerade Baustellen von Kasernen besetzt hatte, wo Kurden erschossen wurden. Doch als die Demonstranten im Gezi-Park dagegen protestierten, haben sich die Kurden mit dem Aufstand solidarisiert. Seitdem gibt es eine starke Tendenz zum Zusammenwachsen des Widerstands, abgesehen von chauvinistischen Elementen, die nach wie vor eine antikurdische Haltung vertreten. Die kurdische Bewegung hat auch einen starken zivilgesellschaftlichen Ansatz und versucht die Konflikte möglichst auf einer friedlichen Ebene und nicht mehr auf militärischem Wege zu lösen. Gewalt ist für sie das letzte Mittel und soll nur zur Selbstverteidigung eingesetzt werden. Das führt zu einer viel stärkeren zivilgesellschaftlichen Aktivität in der kurdischen Bevölkerung und begünstigt so das Zusammengehen mit anderen Kräften. Ich sehe die Entwicklung der letzten Jahre in dem Rahmen durchaus positiv.

SB: Gibt es auch Proteste gegen die Angriffe auf Rojava in der Türkei, die nicht aus der kurdischen Bevölkerung hervorgehen?

MK: Mittlerweile gibt es auch als ein Resultat der Gezi-Park-Bewegung Demonstrationen in Istanbul und anderen Städten von Gruppen, die zur HDP, aber auch zur türkischen Linken gehören und jetzt für Rojava auf die Straße gehen. Es gibt aber auch Fraktionen, die in der PYD oder der Selbstverwaltung Rojavas ein imperialistisches Projekt sehen und sehr stark die Linie des Assad-Regimes vertreten. Diese Problematiken gibt es natürlich auch, aber generell herrscht eine wirklich positive Tendenz vor. Das Projekt in Rojava strahlt in die ganze Region, sogar bis in den Westen der Türkei aus.

SB: Die deutsche Regierung liefert zwar Waffen an die KDP, zeigt sich aber ansonsten taub gegenüber Forderungen der Linken im Bundestag, das PKK-Verbot aufzuheben und den Kampf in Rojava gegen den IS tatkräftig zu unterstützen. Wiegt die alte Waffenbruderschaft mit der Türkei mehr als das Gebot der humanitären Hilfe für Rojava?

MK: Das ist auf jeden Fall so und umso bedauerlicher, als der Gradmesser der Aufrichtigkeit in der Politik der Bundesregierung daran abzumessen ist, wen sie in der Region unterstützt. Die KDP bekommt Waffen, weil man darüber Einfluß nehmen kann auf das Entwicklungsmodell für den Mittleren Osten, das den deutschen Interessen dort am dienlichsten ist. Mit einer Demokratisierung der Region hat das nichts zu tun.

SB: Trifft es zu, daß Teile der gegen Assad gerichteten Opposition Rojava gegen den IS mitverteidigen?

MK: In Kobanê gilt das zum Teil, aber das Problematische an diesen Gruppen ist, daß sie inzwischen praktisch aufgerieben worden sind. Ich habe erst neulich mit einem assyrischen Vertreter geredet, der lange im Syrischen Nationalrat SNC als assyrischer Vertreter politisch aktiv war und über Jahre im Menschenrechtsverein gearbeitet hat. Er meinte, sie wollten am Anfang die Revolution, aber durch äußere Kräfte wie Saudi-Arabien, Katar und die Türkei habe allmählich eine Islamisierung des ganzen Prozesses stattgefunden, so daß die säkulare Opposition inzwischen mit dem Rücken zur Wand steht.

SB: In der deutschen Linken gibt es seit längerem eine kontinuierliche Solidaritätsbewegung für Kurdistan, die sich auch vom PKK-Verbot nicht beeindrucken ließ. Wie erklärst du dir die Verbundenheit der insgesamt stark geschrumpften deutschen Linken mit der kurdischen Befreiungsbewegung?

MK: Anfang der 90er Jahre, als die linken revolutionären Bewegungen in Deutschland ziemlich am Boden lagen, konnte man die kurdische Bewegung als eine der stärksten linken Organisationen in Deutschland wahrnehmen. Natürlich hat man sich an der kurdischen Bewegung gerieben und sich mit ihr auseinandergesetzt. Es kam zu vielen Projektionen auf die kurdische Bewegung, die häufig auch überfrachtet waren. Daraus erklärt sich auch, daß sich viele Menschen mit einer gewissen Enttäuschung aus dem politischen Leben zurückgezogen haben.

Aber gerade nach dem Paradigmenwechsel hin zu diesem radikaldemokratischen Ansatz, der wirklich etwas Utopisches hat, ist das Interesse an der kurdischen Bewegung in den letzten Jahren wieder aufgeblüht. Denn in dem Modell des Kommunalismus mit seinen basisdemokratischen Strukturen in den Vierteln und der Entwicklung alternativer Ökonomien wird Schritt für Schritt ein Gegenentwurf zur kapitalistischen Moderne aufgebaut und gelebt. Wir haben in den 90er Jahren auch eine starke Fixierung auf Chiapas gehabt, wo ein ähnliches Projekt in Angriff genommen wurde. Daraus resultierte die absurde Situation, daß die PKK, die die gleichen Ziele hatte, nicht wahrgenommen wurde. Teilweise kam es sogar zu antikurdischen Ressentiments in der Linken.

SB: Vielleicht in dem Sinne, daß man keine Nationalbewegung unterstützen wollte?

MK: Richtig, aber das war natürlich nur ein vorgeschobenes Argument. Wie es schon im Namen EZLN (Ejército Zapatista de Liberación Nacional) anklingt, handelte es sich dabei um ein nationales Befreiungsheer. Dabei hat sich die PKK ähnlich wie die EZLN nicht wirklich zu einem nationalstaatlichen Modell bekannt, sondern zu einem Modell jenseits des Nationalstaats, in dem die Unabhängigkeit Kurdistans nicht mehr so in den Mittelpunkt gerückt wurde. Die PKK vertrat vielmehr den Standpunkt, daß die Gründung eines Staates nicht automatisch etwas mit Befreiung zu tun hat, sondern daß es vorrangig um die Befreiung des Menschen geht.

Ich denke, daß diese Projekte jetzt im Vordergrund stehen, macht die Attraktivität der kurdischen Bewegung aus, ganz zu schweigen von der kurdischen Frauenbewegung. Weil jetzt viele Menschen nach Kurdistan reisen, nimmt man viel stärker, als man es von hier aus könnte, die Stärke der Frauenbewegung dort vor Ort wahr, die unter wirklich furchtbaren Bedingungen gegen das System der Mehr- und Zwangsehe, gegen Ehrenmorde und überhaupt patriarchale Gewalt erkämpft wurde. Dort sind ganz entscheidende Werte geschaffen worden, was sehr bedeutsam ist. Und die Perspektive ist revolutionär, weil sie den Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit, der allen gesellschaftlichen Machtstrukturen zugrunde liegt, als vom Patriarchat ausgehend begreift. Für viele Leute ist das ein sehr interessanter Ansatzpunkt.

SB: Nicht erst seit dem letzten israelischen Angriff auf Gaza fällt auf, daß das Schicksal der Palästinenser hierzulande viel stärker wahrgenommen wird als die Unterdrückung der Kurden. Warum existieren angesichts der vergleichbaren postkolonialen Situation zwischen Kurden und Palästinensern nicht mehr Gemeinsamkeiten?

MK: Es gibt gemeinsame Aktionen und Demonstrationen unter den jeweils fortschrittlichen linken Kräften. Weil die kurdische Bewegung eine säkulare revolutionäre Bewegung darstellt, ist eine Annäherung zu radikalen sunnitischen Kräften erst einmal nicht möglich. Da besteht ein grundsätzlicher Widerspruch. Trotzdem ist man auf kurdischer Seite mit den Palästinensern solidarisch. Und die Solidarität drückt sich in der gemeinsamen Teilnahme an Demonstrationen aus. Knackpunkt des Ganzen ist jedoch, daß die türkische Außenpolitik sehr stark auf Gaza bezogen ist. Wenn man in Deutschland mit einer kurdischen Fahne auf eine Gaza-Demo geht, wird man höchstwahrscheinlich mit türkischen Nationalisten Schwierigkeiten kriegen, unter denen viele Graue Wölfe sind. Dieser Faktor treibt natürlich einen Keil zwischen Kurden und Palästinenser. Hinzu kommt, daß viele rechte oder konservative Kräfte, die zu Gaza oder aus Gaza arbeiten, das Bündnis mit den türkischen Nationalisten oder mit der AKP nicht brechen wollen und ihnen deswegen die Solidarität mit den Kurden nicht so wichtig ist. Hauptsache, sie werden von der Türkei unterstützt. Diese außenpolitische Dimension spielt da mit hinein.

SB: Michael, vielen Dank für das lange Gespräch.

Diren Kobani - Grafik: Rojava-Solidarität

Grafik: Rojava-Solidarität

29. September 2014