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INTERVIEW/247: Ein gälisches Herz sucht Wege ...    Ian Malcolm im Gespräch (SB)


Ein Unionist aus Ulster setzt sich für die gälische Sprache ein

Interview mit Dr. Ian Malcolm am 7. Januar 2015 in Belfast



93 Jahre nach der Loslösung des größten Teils Irlands vom Vereinigten Königreich mit Großbritannien stellt sich die Lage für die gälische Sprache alles andere als rosig dar. Zwar gilt sie laut Verfassung der Republik Irland als erste Amtssprache vor dem Englischen, doch die Wirklichkeit sieht anders aus. Die allermeisten Iren kommunizieren nur noch auf Englisch. Viele geben laut amtlicher Volksbefragung an, gälisch sprechen zu können - schließlich ist es Pflichtfach in der Schule -, tun es aber nicht. Es gibt eine kleine Minderheit von bestenfalls hunderttausend Menschen, die Gälisch pflegt, Bücher schreibt und ihre eigenen Medien wie Radio, Fernsehen, Zeitungen und Zeitschriften betreibt, doch ihr schlägt in der Öffentlichkeit eine breite Welle der Antipathie entgegen.

In Nordirland liegen die Dinge etwas anders. Dort kämpfen die katholischen Nationalisten um die Gleichstellung der gälischen Sprache im öffentlichen Raum. Die Kampagne wird seit Jahren von der politischen Führung der protestantischen Unionisten erbittert bekämpft. Für die Nachfahren der Ansiedler aus England und Schottland des 17. Jahrhunderts ist das Gälische die Sprache des Feindes, des Gegners alles Britischen. Und das ungeachtet der Tatsache, daß Ihre Majestät Königin Elizabeth II. selbst der gälischen Sprache - des schottischen Dialekts jedenfalls - mächtig ist. Am 7. Januar sprach der Schattenblick in Belfast mit Dr. Ian Malcolm über diese Problematik. Der politische Kommentator gehört zu den wenigen Protestanten in Nordirland, die sich die gälische Sprache angeeignet haben. In seinem 2009 erschienenen, aufschlußreichen Buch "Towards Inclusion - Protestants and the Irish Language" weist er nach, daß die gälische Sprache das kulturelle Erbe nicht nur aller Katholiken, sondern auch aller Protestanten in Nordirland ist, und fordert letztere dazu auf, es endlich anzunehmen. Das Interview fand in den Studios des gälischsprachigen Senders Raidió Fáilte statt, für den Malcolm eine eigene Sendung "Ceol is Comhrá" ("Musik und Gespräch") moderiert und der an der Ecke Falls Road/Northumberland Street in West Belfast, einst Hochburg der Irisch-Republikanischen Armee (IRA), liegt.

Ian Malcolm hält sein Buch 'Towards Inclusion' in die Kamera - Foto: © 2015 by Schattenblick

Dr. Ian Malcolm
Foto: © 2015 by Schattenblick

Schattenblick: Dr. Malcolm, erzählen Sie uns bitte etwas über Ihren persönlichen Hintergrund, woher Ihr Interesse an der gälischen Sprache rührt und welche Erfahrungen Sie als Gälischsprechender unter Protestanten und Katholiken in Nordirland gemacht haben bzw. heute noch machen.

Ian Malcolm: Ich bin in Lurgan, das etwas südlich von Belfast liegt, aufgewachsen. Ich bin dort mit jungen Jahren mit der gälischen Sprache in Kontakt gekommen, nicht weil es Familientradition war, sondern weil sich mein Vater fürs Gälische interessierte. Als ich klein war und er mit mich nachts ins Bett brachte, sagte er mir gelegentlich "Oíche mhaith" ("Gute Nacht") oder "Codlath sámh" ("Schlafe gut"). Das waren für mich erste Hinweise, daß es überhaupt eine andere Sprache neben Englisch gab. Als Kind ist mir zudem irgendwann einmal aufgefallen, daß die Ortsnamen in meiner Umgebung wie Lurgan, Dungannon, Moira und Armagh ganz anders als London, Manchester, Birmingham oder Sheffield klangen und sich auch orthographisch von ihnen unterschieden. Ich habe zwar erst viel später die Gelegenheit erhalten, mich intensiv mit der gälischen Sprache zu beschäftigen, aber ich denke, daß mein Vater bereits früh bei mir die Samen der Neugier gesät hat.

Seine eigenen Erfahrungen mit dem Gälischen sind erwähnenswert. Damals wie heute war Lurgan praktisch eine geteilte Stadt. Man kann eine Linie durch die Stadt ziehen; auf der einen Seite leben die Protestanten und auf der anderen die Katholiken. Mitte der fünfziger Jahre entschied sich mein Vater, Gälisch zu lernen und fing an, die Abendkurse der örtlichen Dependence von Conradh na Gaeilge ("The Gaelic League", "Liga des Irischen"), die im katholischen Teil von Lurgan lag, zu besuchen. 1956 begann jedoch die IRA mit der sogenannten Border Campaign, auch Operation Harvest genannt, die bis 1962 andauern sollte und schließlich wegen Erfolglosigkeit eingestellt wurde. Wegen der gestiegenen Spannungen zwischen den Konfessionen traute sich mein Vater als Protestant nicht mehr, sich abends in den katholischen Teil zu begeben und ließ deshalb den Gälischunterricht fallen. Für mich ist es eine Ironie der Geschichte, daß eine Kampagne der IRA einen Protestanten am Erwerb der gälischen Sprache hinderte.

SB: In Ihrem Buch "Towards Inclusion" haben Sie die unterschiedlichen Positionen der verschiedenen protestantischen Glaubensgemeinden zum Gälischen eingehend erläutert. Zu welcher der drei - der anglikanischen, der presbyterianischen oder der methodistischen - gehören Sie?

IM: Ich und meine Familie gehören der Church of Ireland, also der anglikanischen Kirche an, deren Oberhaupt die Königin von England ist. Mein Vater war in der irischen Geschichte sehr bewandert und hat mir von frühen Kindesjahren an von den elizabethanischen Kriegen, der Flucht der beiden letzten großen Häuptlinge des Nordens, Hugh O'Neill und Hugh O'Donnell, was den Niedergang des gälischen Klanwesens besiegelte und die Besiedelung Ulsters mit protestantischen Einwandern aus England und Schottland ermöglichte, et cetera erzählt. Die Liebe zur irischen Geschichte ist mir mit jungen Jahren sozusagen anerzogen worden. Später habe ich sie durch meine Beschäftigung mit der gälischen Sprache weiter vertieft.

Die Schulen in Nordirland sind von jeher in katholische und protestantische geteilt. Die beiden konfessionellen Schulsysteme werden aber staatlich finanziert. Als ich in die protestantische Schule ging, haben wir im Geschichtsunterricht nichts von den wichtigsten Ereignissen in Irland wie der Kartoffelplage im 19. Jahrhundert oder der Home-Rule-Krise am Vorabend des Ersten Weltkrieges erfahren, sondern wurden über Entwicklungen wie die Tudor-Monarchie Englands im 16. und 17. Jahrhundert oder die Weimarer-Republik Deutschlands aufgeklärt. Irische Geschichte wurde total vernachlässigt. Zum Glück hatte ich einiges darüber von meinem Vater mitbekommen.

Riesige Wandmalerei veranschaulicht die Ziele und Aktivitäten von Pobal - Foto: © 2015 by Schattenblick

Belfaster Wandmalerei an der Falls Road zugunsten von Pobal, der Interessenvereinigung Gälischsprechender Nordirlands
Foto: © 2015 by Schattenblick

SB: Um auf den zweiten Teil der Eingangsfrage zurückzukommen, wie haben die Menschen in Ihrer Umgebung, von denen ich annehme, daß die meisten Protestanten waren, darauf reagiert, als Sie sich zum Gälischsprecher entwickelten? Und wie reagierten katholische Anhänger des Gälischen, sobald sie feststellten, daß sie es bei Ihnen mit einem Befürworter der Beibehaltung der Union zwischen Nordirland und Großbritannien zu tun hatten?

IM: Ihre Frage bezieht sich zunächst auf die Phase, als ich mich ernsthaft mit der gälischen Sprache zu befassen begann. Ich verwende diese Formulierung deshalb, weil nach meinem Dafürhalten jeder, der in Nordirland geboren wurde und lebt, die ganze Zeit von der gälischen Sprache umgeben ist, unabhängig davon, ob er sie als solche wahrnimmt oder nicht. Die allermeisten Menschen in Nordirland - das gilt auch für die Politiker, unionistische genauso wie nationalistische - tragen Nachnamen, die gälischen Ursprungs sind. Das gilt auch für die Nachfahren der schottischen, protestantischen Einwanderer. Schließlich hatten viele von ihnen den schottische Dialekt des Gälischen als Muttersprache.

Die Reaktionen im meinem Umfeld waren und sind bis heute unterschiedlich. Die meisten Protestanten halten die gälische Sprache für ziemlich wertlos und fast ausgestorben. Viele Menschen aus meinem Bekanntenkreis haben mich gefragt, ob ich nicht besser beraten wäre, eine Weltsprache wie Französisch oder Spanisch zu lernen. Andere haben Witze gerissen und prognostiziert, ich würde als katholischer Priester enden. Solche Entgegnungen würde ich als harmlos bis gutmütig bezeichnen. Doch es gab auch andere, die unfreundlich und aggressiv waren. Einige Bekannte und Arbeitskollegen haben, sobald sie erfuhren, daß ich Gälischsprecher war, mich ganz anderes behandelt und zwar feindlich. Sie wollten mit mir praktisch nichts mehr bzw. so wenig wie möglich zu tun haben. Ich bin zu keinem Zeitpunkt körperlich bedroht worden, aber es hat einige sehr unschöne Szenen gegeben.

Die Menschen, die sehr stark negativ darauf reagierten, taten dies meines Erachtens aus der Vorstellung, daß ich durch den Erwerb der gälischen Sprache zum Verräter an der protestantischen Sache und der Union mit Großbritannien geworden war. Einmal, nachdem ich bei der Arbeit einen Anruf auf gälisch angenommen hatte, hat ein Kollege mich wüst beschimpft und erklärt, wenn ich eine fremde Sprache im Büro benutzen wolle, sollte ich gefälligst nach Dublin umziehen. Nach rund einer Woche hat derselbe Kollege immerhin sein Verhalten bereut und sich bei mir für den Wutanfall entschuldigt. Bei der Aussprache hat er mir gebeichtet, daß sein eigener Großvater gälisch gesprochen hatte. Ich könnte Ihnen von zahlreichen solchen Beispielen berichten.

SB: Und wie sah, sieht die Reaktion bei katholischen Freunden, Bekannten und Arbeitskollegen aus?

IM: Heute ist ein gälisch-sprechender protestantischer Unionist nicht ganz so ungewöhnlich. Doch damals, als ich die gälische Sprache richtig zu lernen begann, lagen die Dinge ganz anders. Wir reden hier von Anfang der neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts. Der Bürgerkrieg in Nordirland, die sogenannten Troubles, war bzw. waren noch voll im Gange und der Friedensprozeß bestenfalls ein Fernziel am Horizont. Also war für Katholiken die Begegnung mit einem protestantischen Gälischsprecher, der nicht zum Anhänger des irischen Nationalismus geworden war, sondern statt dessen dem Vereinigten Königreich die Treue hielt und dessen Institutionen und Traditionen hoch schätzte, verstörend, um es milde auszudrücken. Viele von ihnen haben sich über meine Motive, die Sprache zu lernen, gewundert und sich vermutlich gefragt, ob ich nicht vielleicht ein Spitzel des britischen Inlandsgeheimdienstes MI5 bin.

Ich kann mich an einen Vorfall erinnern, als ich einen einwöchigen Sprachkursus in der Grafschaft Donegal, die zur Republik Irland gehört und wo Gälisch in einigen Landkreisen als Muttersprache erhalten geblieben ist, besuchte. Eines Abends waren ich und die Klassenkameraden zusammen in der Kneipe. Einer von ihnen, der bis dahin mir gegenüber sehr freundlich gewesen war, hat, als ihm seine Schwester erzählte, daß ich ein bekennender Unionist bin, aufgehört mit mir zu sprechen. Ab dem Moment haben wir kein Wort mehr gewechselt. Damals haben sich die Menschen auf beiden Seiten der Konfessionslinie gegenseitig sehr stark aufgrund gängiger Vorurteile betrachtet. Die Stereotypisierung von einst existiert heute immer noch, läßt zum Glück aber immer mehr nach.

Einen Aspekt katholischer, nationalistischer Reaktionen auf mich möchte ich noch hervorheben. Ich halte über die Jahre regelmäßig Vorträge über die gälische Sprache. Häufig, aber nicht immer, sind die meisten Besucher Katholiken. Nach einem solchen Vortrag kommt es immer wieder vor, daß die katholischen Mitglieder des Publikums mich zu den aktuellen politischen Ereignissen befragen, ganz als ob ich für das Verhalten der Führung der verschiedenen unionistischen Parteien verantwortlich wäre. Ich finde es ziemlich skurril, daß ich auf gälisch die jeweils aktuellen Äußerungen oder politischen Entscheidungen eines Ian Paisley, Peter Robinson oder Jim Allister rechtfertigen muß.

SB: Möglicherweise kennen solche Menschen sonst keinen unionistischen Protestanten, dem sie solche heiklen Fragen stellen können.

IM: Vermutlich ist es so. Jedenfalls hoffe ich, daß ich durch meine Erläuterungen bei den katholischen Mitbürgern stets zum besseren Verständnis des unionistischen Standpunktes beitrage.

Ian Malcolm am Mischpult - Foto: © 2015 by Schattenblick

Letzte Vorbereitungen für die bevorstehende Sendung
Foto: © 2015 by Schattenblick

SB: Sie haben in ihrem Buch die Frage der protestantisch-unionistischen Identität in Nordirland behandelt. Doch wie setzt sie sich zusammen? Ist sie per Definition anti-irisch, weil pro-britisch? Schließen sich diese beide Aspekte gegenseitig aus? Sie argumentieren, daß ein Interesse für die gälische Sprache und ihre Verwendung im Alltag mit dem Britentum vereinbar seien. Könnte es aber nicht eher sein, daß sie die regionale Ulster-Identität und in der Folge letztendlich die Identifikation mit der irischen Nation stärken?

IM: Ich bin dabei mein Archiv an altem Lesematerial zu digitalisieren. Dabei habe ich am vergangenen Wochenende in einem Buch zur Geschichte Irlands seit der Teilung im Jahre 1922 geblättert. Die Überschrift des Kapitels über Nordirland, "A Place Apart" ("Ein gesonderter Ort"), beschrieb die Situation hierzulande bestens. Wir haben es in Nordirland mit einer politischen und kulturellen Entität zu tun, die genau an der Trennlinie zwischen zwei größeren Entitäten liegt. Unabhängig davon, ob man die aktuelle Lage verändern oder beibehalten möchte, kann man Nordirland historisch und geographisch als Teil der Insel Irlands begreifen, während man gleichzeitig die politischen Bindungen zum Vereinigten Königreich anerkennt. Es ist wie bei einem Venn-Diagramm. Im linken Kreis befindet sich Irland, im rechten Großbritannien und zwischen den beiden, in der Überschneidung, liegt Nordirland. Von daher ist es kein Wunder, daß man gerade in Nordirland einen echten Schmelztiegel an politischen, kulturellen und religiösen Ideen vorfindet. Probleme entstehen aber, sobald die Politik außer Kontrolle gerät und in Gewalt ausartet.

Wenngleich alle die Begriffe Protestant und Unionist gleichwertig benutzen, sind nicht alle Protestanten Unionisten. Genauso wenig sind alle Katholiken Nationalisten. Es gibt nationalistische Protestanten in Nordirland genauso wie es katholische Unionisten gibt. Sie stellen aber jeweils eine kleine Minderheit dar. Die Unionisten beschwören stets ihre Treue zum Vereinigten Königreich, gleichwohl ist ihr Verhältnis zu Großbritannien von jeher problematisch. Bei den Unionisten ist die Sorge weit verbreitet, die Regierung in London könnte aus eigenen strategischen Gründen Nordirland aufgeben und in die Wiedervereinigung Irlands einwilligen. Schließlich kostet die Subventionierung des nordirischen Staats Großbritannien jedes Jahr mehrere Milliarden Pfund. Sie befürchten daher stets den Verrat und trauen der politischen Führung in London nicht über den Weg. Seit langem geht aus Umfragen hervor, daß sich eine Mehrheit der Briten bei einer Volksbefragung am liebsten von Nordirland trennen würde. Deswegen herrscht bei den Unionisten die Dauerangst vor einer Aufkündigung der völkerrechtlichen Position Nordirlands als Teil des Vereinigten Königreichs vor.

Gleichzeitig plagt sie eine weitere Unsicherheit nämlich in der Frage des Verhältnisses zum restlichen Irland und damit zur Republik. Die Unionisten haben nicht vergessen, daß nach der Teilung der Insel vor mehr als neunzig Jahren der protestantische Bevölkerungsanteil im Süden der Insel stark zurückgegangen ist. Das war nicht die Folge von Pogromen, sondern hatte mit Ausgrenzung und wirtschaftlicher Not zu tun. Die starke katholische Prägung der Republik Irland in den ersten fünfzig Jahren ihrer Existenz, als sich die Regierung in Dublin dem Willen von Kirchenfürsten wie dem konservativen Erzbischof John Charles McQuaid beugte, hat damals vielen Protestanten in Nordirland wie meinem eigenen Vater jegliche prinzipielle Bereitschaft zu einer Wiedervereinigung ausgetrieben. Die Unionisten im Norden empfanden den damaligen Freistaat Irland als eine von katholischen Pfaffen durchseuchte Gesellschaft, in der Protestanten oder Freidenker nicht willkommen waren.

Also ist die unionistische Identität von zwei Unsicherheitsfaktoren geprägt; erstens bezüglich der Position Nordirlands im Vereinigten Königreich und zweitens in Bezug auf die katholische Mehrheit auf der Insel, von dem ein kleiner Teil in Nordirland und der größere Teil in der Republik lebt. Gleichwohl darf man die Säkularisierung Westeuropas, die auch vor Irland keinen Halt macht, nicht außer Acht lassen. Sie hat zur Folge, daß die religiöse Ausprägung der Gesellschaft auf beiden Seiten der inneririschen Grenze gerade in den letzten drei Jahrzehnten stark nachgelassen hat.

SB: Sie haben in Ihrer Antwort hauptsächlich die religiösen und politischen Aspekte der Frage behandelt. Wie sieht es mit dem kulturellen Aspekt und der These aus, daß die Beschäftigung mit der gälischen Sprache die britische Identität schwächen, gleichzeitig die irische stärken könnte?

IM: Ein Aspekt der Kultur ist Sport. Ich zum Beispiel bin ein leidenschaftlicher Fan von Cricket, das als die englischste unter den Sportarten gilt. Sie war deshalb lange Zeit in Irland verpönt. Die Erfolge der allirischen Cricket-Nationalmannschaft der letzten Jahre hat das Ansehen des Sports auf der Insel zum Glück etwas verbessert. Ich habe viele Samstag- und Sonntagnachmittage beim Cricket - entweder als Spieler oder als Zuschauer - verbracht. Eigentlich war ich ein ganz guter Werfer, aber als Feldspieler war ich wegen meines schlechten Sehvermögens eine Katastrophe. Ich konnte die auf mich zufliegenden Bälle nicht richtig sehen und daher auch nicht fangen. Jedenfalls würde ich als Fan wahnsinnig gern ein mehrtägiges Länderspiel im Lord's oder im Oval - den beiden berühmtesten Cricketstadien der Welt in London - erleben. Ich kann mich auch für die Last Night of the Proms, das alljährliche Abschlußkonzert der sommerlichen Klassikmusikkonzertreihe in London, die im Funk und Fernsehen ausgestrahlt wird und bei dem traditionell bekannte patriotisch-britische Lieder wie "Rule Britannia" und "Land of Hope and Glory" gespielt werden, begeistern. Mit Cricket und den Proms kann ich mich als britischer Bürger voll und ganz identifizieren.

Um die geschichtliche Komponente der protestantisch-unionistischen Identität ist es meiner Ansicht nach nicht so gut bestellt. Eine kleine Anekdote soll das veranschaulichen. Vor zwei Jahren wurde das Hundertjährige Jubiläum der Unterzeichnung der Ulster Covenant - als sich 1912 eine halbe Million Menschen in Nordirland verpflichteten, sich der geplanten Autonomie für Irland innerhalb des Vereinigten Königreiches, dem sogenannten Home Rule, zu widersetzen - groß gefeiert. Wenige Tage vor dem großen Jubiläumsmarsch in Belfast habe ich meine Nachbarn getroffen. Das sind Protestanten, die sich für alles, wo der Union Jack drauf ist, begeistern lassen. Sie fragten mich, ob ich auch am großen Umzug teilzunehmen gedachte. Ich sagte nein und verwies auf Arbeiten, die dringend erledigt werden müßten und mich daran hindern würden. Als ich sie wiederum fragte, ob sie wüßten, woran mit dem Marsch erinnert werden sollte, stellte sich heraus, daß sie nicht die leiseste Ahnung hatten. Sie hatten zwar von der Ulster Covenant gehört, wußten aber weder etwas von der Home-Rule-Krise, dem Larne Gun Running noch von der Gründung der Ulster Volunteer Force. Als ich anfing, sie darüber aufzuklären, merkte ich, wie sie innerlich abschalteten und habe es dann schnell aufgegeben. Es hatte keinen Sinn. Solche Leute sind keine Ausnahme. Auf beiden Seiten gibt es viele Menschen, die keine richtigen Kenntnisse von den geschichtlichen Zusammenhängen haben und nicht nicht einmal mit der Herkunft der eigenen nationalistischen oder unionistischen Traditionen vertraut sind.

SB: Also würden Sie dem zustimmen, daß bei den meisten Unionisten eine gewisse Konfusion bezüglich der Zusammensetzung ihrer politischen Identität vorherrscht?

IM: Ja, absolut. Ich erlebe und begegne dieser Verwirrung immer wieder.

Ian Malcolm spricht ins Mikrophon - Foto: © 2015 by Schattenblick

Auf Sendung!
Foto: © 2015 by Schattenblick

SB: Im welchen Ausmaß ist die unionistische, loyalistische Identität chauvinistisch? Der Vorwurf wird häufig in Verbindung mit den Oraniermärschen von katholischer Seite erhoben. Trifft sie zu? Wie könnten die Bedenken der nationalistischen Gemeinden, durch deren Viertel solche Märsche führen, berücksichtigt werden?

IM: Ich glaube, daß die Unionisten zu lange eine Wagenburg-Mentalität gepflegt haben. Verstärkt wurde sie 1985 durch die Unterzeichnung des Anglo-Irish Agreement, das Dublin erstmals eine begrenzte Mitsprache in nordirischen Angelegenheiten einräumte. Das Karfreitagsabkommen von 1998 hat die Position Nordirlands im Vereinigten Königreich gefestigt, denn es hat die Frage der möglichen Beendigung der Teilung Irlands vom Willen einer Bevölkerungsmehrheit in Nordirland abhängig gemacht und weil in der Folge Artikel II und III der irischen Verfassung, in denen die Republik Anspruch auf die ganze Insel als Staatsterritorium erhoben hatte, durch die Neuformulierung der Wiedervereinigung als Staatsziel, die ausschließlich durch friedliche und demokratische Mittel zu verwirklichen sei, ersetzt wurde. Doch das Anglo-Irish Agreement hat bei den Unionisten große Ängste ausgelöst, die bis heute anhalten, weil London darin erstmals erklärte, Großbritannien habe kein strategisches oder eigenes Interesse am Verbleib Nordirlands im Vereinigten Königreich, sofern eine Mehrheit der Menschen dort die Verbindung nicht mehr aufrechterhalten wolle.

Die Verabschiedung des Gesetzes zur Gleichberechtigung bei der Beschäftigung im Jahre 1998, das die Praxis der Diskriminierung von Katholiken bei der Postenvergabe beendet, und die Schaffung einer entsprechenden Kommission, welche die Einhaltung und Umsetzung des Gesetzes überwacht, hat auch Ressentiments bei den Protestanten in Ulster ausgelöst. Traditionell hatten nordirische Protestanten aus dem Proletariat Arbeit in der Schwerindustrie - beim Schiffsbau in Belfast oder bei Großunternehmern wie dem Flugzeugbauer und Rüstungsunternehmen Shorts bei Belfast - gefunden. Man hat ihnen früher gesagt, sie bräuchten sich in der Schule nicht besonders anzustrengen, weil danach eine Arbeitsstelle im selben Betrieb, in dem der Vater oder der Onkel arbeitete, winkte. Parallel zum Abbau der Schwerindustrie - in Belfast werden seit Jahren keine neuen Schiffe mehr gebaut - sehen sich die jungen Protestanten der Konkurrenz um Arbeitsplätze mit gutausgebildeten Katholiken ausgesetzt. Weil ihnen der Weg in die Schwerindustrie wegen Diskriminierung früher versperrt war, haben sich die Katholiken, obwohl im Schnitt ärmer, mehr als die Protestanten um Hochschulbildung bemüht, um Staatsbeamte, Ärzte oder Rechtsanwälte zu werden. So haben inzwischen vor allem die jungen Menschen in den ärmeren protestantischen Vierteln in Städten wie Belfast und Derry, die von hoher Arbeitslosigkeit geprägt sind, das Gefühl, von der wirtschaftlichen Entwicklung hin zur Dienstleistungsgesellschaft abgehängt worden zu sein. Ihre Frustration findet Ausdruck in den Flaggen-Protesten, in den Krawallen, die den einen oder anderen Oranier-Umzug begleiten, et cetera.

SB: Nach der Unterzeichnung des Karfreitagsabkommens gab es große Hoffnungen, die traditionsgeladenen Oranier-Umzüge könnten vom konfessionellen Dauerstreitpunkt in Volksfeierlichkeiten verwandelt werden, die den Tourismus ankurbeln würden und an denen auch katholische Nationalisten ohne Angst vor tätlichen Übergriffen seitens loyalistischer Schläger teilnehmen könnten. Doch die Hoffnungen haben sich nicht erfüllt. Um die genaue Route einiger Umzüge wird seit Jahren besonders erbittert gestritten. Manchmal hat man den Eindruck, viele der Loyalisten würden gar nicht an den Oranier-Märschen teilnehmen, wenn sie die katholischen Mitbürger dabei nicht durch ein martialisches Auftreten und das Spielen bestimmter blutrünstiger Lieder provozieren könnten. Was meinen Sie dazu?

IM: Ich denke, es gibt Menschen auf beiden Seiten der konfessionellen Trennlinie, welche die Märsche mißbrauchen, um daraus politisches Kapital zu schlagen. Viele der Schwierigkeiten in Verbindung mit bestimmten Umzügen haben sich aufgrund geographischer und demographischer Veränderungen ergeben. Das beste Beispiel ist der Marsch der Oranier am Sonntag vor dem 12. Juli von der protestantischen Kirche in Drumcree nach Portadown entlang der Garvaghy Road, der erstmals vor mehr als 200 Jahren stattfand. Früher standen dort keine Häuser; es war links und rechts alles Viehweide. Heute führt die Straße dort durch eine katholische Siedlung. Die Einwohner wollen nicht von den Oraniern belästigt werden und ihr Viertel ein ganzes Wochenende lang in eine polizeiliche Hochsicherheitszone verwandelt sehen, was man auch leicht verstehen kann.

Man soll nicht außer Acht lassen, daß 99 Prozent aller Oranierumzüge der allsommerlichen "Marschsaison" friedlich ablaufen. Natürlich gibt es welche, wo es zu Konfrontationen kommt. In den letzten Jahren ist es vor allem der in Nordbelfast durch das katholische Viertel Ardoyne, der von Krawallen und heftigem Streitereien zwischen den politischen Parteien begleitet wird. Solche Probleme müssen gelöst werden und zwar durch Verhandlungen und eine offene Aussprache aller Beteiligten. Jedenfalls ist die Idee, den Teilnehmern der Oranier-Umzüge ginge es nur darum, mit Pauken und Trompeten den Katholiken auf den Wecker zu gehen und sie auf einen Platz in der zweiten Reihe zu verweisen, falsch.

SB: Warum aber sind die Hoffnungen auf Oranier-Märsche, an denen alle unabhängig von ihrer religiösen oder ethnischen Herkunft teilnehmen und dabei Spaß haben könnten, nicht aufgegangen?

IM: In Derry, der zweitgrößten Stadt der Provinz, hat sich inzwischen die Vision erfüllt. Dort sind die Umzüge der protestantischen Apprentice Boys zu einem richtigen Straßenfest geworden. Dem sind langwierige Gespräche zwischen Vertretern der Logen der Apprentice Boys, der katholischen Gemeinde und den Laden- und Geschäftsinhabern der Stadt am Foyle vorausgegangen. Natürlich sind die Umzüge eine Zelebrierung britischer Kultur und vor allem des Sieges der protestantischen Seite im Krieg 1689-1691 zwischen König Wilhelm III von England und seinem katholischen Vorgänger Jakob II. Dennoch ist man jedenfalls in Derry inzwischen so weit, daß das Ganze als Volksspektakel veranstaltet wird, das zwar an historische Traditionen knüpft, zu dem aber jeder als Teilnehmer oder Zuschauer herzlich eingeladen ist. 2014 strömten Zehntausende Besucher nach Derry, um die bunten Umzüge mitzuerleben. Ich schätze, daß über kurz oder lang der Funke des überkonfessionellen Miteinanders von Derry nach Belfast überspringen dürfte und die häßlichen Szenen in der Hauptstadt, die man in den letzten Jahren miterleben mußte, bald der Vergangenheit angehören werden.

Wandmalerei mit der Forderung nach Abriß der Belfaster Trennungsmauern und dem Ende der interkonfessionellen Gewalt - 'Bring Down the Walls - End Sectarianism' - Foto: © 2015 by Schattenblick

Ruf nach konfessioneller Versöhnung in den Arbeitervierteln Belfasts
Foto: © 2015 by Schattenblick

SB: In diesem Zusammenhang aber auch in Verbindung mit der Forderung nach rechtlicher Gleichstellung der gälischen Sprache werfen unionistische Politiker den Vertretern von Sinn Féin vor, einen Kulturkampf zu betreiben, um britische Symbole aus dem öffentlichen Raum zu vertreiben und sie durch irische zu ersetzen. Ist der Vorwurf begründet oder einfach aus der Luft gegriffen? Als sich Gregory Campbell von der Democratic Unionist Party (DUP) im November bei einer Debatte im nordirischen Regionalparlament mit einer Verballhornung über Gälisch lustig machte und einen Sturm der Entrüstung auslöste, begründete er seine Provokation mit der Behauptung, die Sinn-Féin-Abgeordneten seien nicht ernsthaft an der Wiederbelebung der Sprache interessiert, sondern mißbräuchten sie lediglich als politische Waffe. Ist vielleicht etwas an der Argumentation dran?

IM: Im November 1987 hat der DUP-Politiker Sammy Wilson, damals Bürgermeister von Belfast, für einen handfesten Skandal gesorgt, als er bei einer Debatte im Stadtrat Gälisch abfällig als eine "leprechaun language" ("Koboldsprache") bezeichnete. Viele Menschen empfanden das als eine gehässige Beleidigung. Viel später hat der Sinn-Féin-Politiker Máirtín … Muilleoir ein Buch über seine Zeit als Stadtrat von Belfast, "The Dome of Delight", geschrieben. Darin hat er sich über die Democratic Unionists und die Ulster Unionists lustig gemacht, die seines Erachtens viel zu heftig auf jede Verwendung des Gälischen reagierten. Dabei hat er indirekt zugegeben, daß Sinn Féin die Sprache gezielt einsetzte, um die unionistischen Politiker auf die Palme zu bringen und sie in den Medien als engstirnig bloßstellen zu können.

SB: Seit einigen Jahren liegen die katholischen und protestantischen Parteien Nordirlands, die zwar die Provinz in Koalition regieren, im scheinbar unlösbaren Streit um Märsche, Flaggen und die geschichtliche Aufarbeitung der "Troubles". 2013 und 2014 bemühte sich US-Präsident Barack Obamas Sondergesandter Richard Haass vergeblich um eine Beilegung des Streits. Wie schätzen Sie die Stärke des nationalistischen und des unionistischen Blocks in Nordirland ein? Sind die Nationalisten im Aufwind und bauen die Unionisten ab oder herrscht einfach eine Pattsituation?

IM: Ich denke, daß der unionistische und der nationalistische Block in Nordirland ziemlich ausgewogen sind. Es herrscht ein Gleichgewicht der Kräfte, das sich auf kurze bis mittlere Sicht nicht groß verändern wird. Hinzu kommt, daß die politische Situation in der Provinz insgesamt sehr viel stabiler ist als noch vor zehn oder fünfzehn Jahren. Die Politiker beider Seiten reden miteinander - als der Bürgerkrieg tobte, war das nicht so -, diskutieren in den Kommunen sowie im Regionalparlament und regieren Nordirland gemeinsam in Koalition. Nach Außen hin versuchen die nationalistischen und unionistischen Volksvertreter dauernd auf Kosten der Gegenseite zu punkten, doch hinter den Kulissen schließen sie ihre Deals ab und betreiben praktische Politik. Sie machen keinen Hehl daraus, daß sie sich gegenseitig nicht besonders mögen, aber sie arbeiten, um einen Rückfall in die Troubles zu vermeiden, auf der Basis des Karfreitagsabkommens und den anderen Vereinbarungen seitdem zusammen. Trotz großer Bedenken haben sie sich wenige Tage vor Weihnachten gemeinsam dazu durchgerungen, ein Geschäft mit London über die Durchführung der von der britischen Regierung geforderten Austeritätspolitik abzuschließen. Aufgrund des Deals sollen die Sozialkürzungen, die Premierminister David Cameron und sein Schatzmeister George Osborne dem ganzen Vereinigten Königreich aufzwingen, in Nordirland zwar zum Tragen kommen aber immerhin ein kleines bißchen weniger drastisch ausfallen als auf dem Festland.

SB: Also entwickeln sich die Dinge weder in Richtung Wiedervereinigung noch verfestigt sich die Union mit Großbritannien Ihrer Einschätzung nach?

IM: Ganz genau.

SB: Inwieweit, wenn überhaupt, hat sich das Erstarken des schottischen Nationalismus und die Forderung dort nach Unabhängigkeit, die trotz oder vielleicht gerade wegen der im September knapp verlorenen Volksbefragung nicht abgeklungen ist, die Unionisten in Nordirland zu einer Neubetrachtung oder einem Überdenken ihrer Situation veranlaßt?

IM: Die Entwicklung in Schottland wird in Nordirland mit großem Interesse verfolgt. Hätten sich die Schotten für die Unabhängigkeit entschieden, hätte das extrem negative Auswirkungen auf die Union gehabt. Darum sind am Wochenende vor der Volksbefragung Zehntausende Oranier aus Nordirland zusammen mit ihren schottischen Logenbrüdern durch Edinburgh marschiert und haben sich für ein Nein zur Unabhängigkeit stark gemacht. Viele Protestanten in Nordirland haben schottische Vorfahren. Nordirland ist nicht nur geographisch viel näher an Schottland dran, die kulturellen und emotionalen Bindungen der nordirischen Protestanten zu Schottland sind weit stärker als zu England. Die Geschichte Irlands, besonders des Nordens, und Schottlands sind über Jahrtausende eng miteinander verwoben. Ohne Schottland verlöre Großbritannien für die Unionisten in Nordirland viel an Strahlkraft. Aus politischen und geographischen Gründen wäre ein Vereinigtes Königreich ohne Schottland, wäre die Bindung Nordirlands an England und Wales schwer bis gar nicht aufrechtzuerhalten. Von daher waren viele Unionisten ungemein erleichtert, als die Abstimmung über die schottische Unabhängigkeit mit einer knappen Mehrheit für Nein ausging.

Gesprächsduo vor dem Mischpult - Foto: © 2015 by Schattenblick

SB-Redakteur & Ian Malcolm
Foto: © 2015 by Schattenblick

SB: Wie nehmen die Unionisten den Vormarsch von Sinn Féin in der Republik Irland wahr? Laut jüngsten Umfragen ist der politische Arm der früheren IRA derzeit die populärste Partei. Sie hat große Erfolge bei den Kommunalwahlen und der Wahl zum EU-Parlament im vergangenen Frühjahr erzielt und wird derzeit als mögliche Teilnehmerin der nächsten Regierung in Dublin gehandelt. Sollte es dazu kommen, regierte Sinn Féin auf beiden Seiten der irischen Grenze und könnte somit ihr Ziel der Wiedervereinigung noch stärker als bisher ansteuern.

IM: Die Frage ist tatsächlich sehr interessant. Sinn Féin tut in Nordirland alles, um ihre steigende Beliebtheit in der Republik nicht zu gefährden. Im Dubliner Parlament sitzt sie in der Opposition und geriert sich als Hauptgegnerin der Austeritätspolitik der regierenden Koalition von Fine Gael und Labour. Deshalb hat sie sich mit der Umsetzung der von London geforderten Kürzungen in Nordirland in den Bereichen Bildung, Gesundheit und Soziales so schwer getan und sich erst vor Weihnachten zu gewissen Zugeständnissen zwingen lassen. Sollte Sinn Féin bei der nächsten Wahl zum Unterhaus in Dublin von der derzeit viert- zur zweitstärksten Fraktion avancieren, dürfte das den unionistischen Politikern Bauchschmerzen bereiten. Auch wenn sie eine solche Situation nicht begrüßen werden, werden sie dennoch irgendwie damit klarkommen müssen.

Als Unionist darf man ein solches Szenario meiner Meinung nach nicht gleich als Weltuntergang befürchten. Eine Regierungsteilnahme von Sinn Féin könnte die Partei ganz schnell ihre Popularität in der Republik kosten und sie wieder in die Bedeutungslosigkeit versinken lassen. Man braucht sich nur das Schicksal der Progressive Democrats und der Grünen vor Augen zu führen. Nachdem diese zuletzt nacheinander der national-konservativen Fianna Fáil als Juniorpartnerin in der irischen Regierung gedient haben, wurden sie bei der anschließenden Wahl dermaßen hart bestraft, daß sie danach keinen einzigen Abgeordneten im Parlament hatten. Das Gleiche droht den Sozialdemokraten von der Labour Partei bei den nächsten Unterhauswahlen in der Republik, die auf 2016 terminiert sind, aber möglicherweise früher stattfinden könnten. Von daher müssen sich die Unionisten keine allzu großen Sorgen wegen einer eventuellen Regierungsbeteilung Sinn Féins in Dublin machen, denn es könnte sich für Gerry Adams und Konsorten nicht als großer Durchbruch sondern als Bumerang erweisen.

SB: Was halten von der Idee, daß die Forderung der Anführer des Osteraufstands von 1916 nach der Unabhängigkeit Irlands zu sehr politisch und verfassungsmäßig verstanden worden ist und daß dadurch der kulturelle Aspekt verlorengegangen ist bzw. daß Irlands Nationalisten eventuell eine größere Eigenständigkeit erzielt hätten, hätten sie ihre Energien in die Wiederbelebung der gälischen Sprache statt in die blutige Trennung vom Vereinigten Königreich investiert?

IM: Aufgrund der geographischen Lage Irlands mit Nordamerika im Westen und Großbritannien im Osten sowie des Einflusses der Massenmedien ist die Rückkehr zu einer Situation, in der alle Menschen auf der Insel mit Gälisch als Muttersprache aufwüchsen, nicht vorstellbar. Dessen ungeachtet ist meines Erachten das Ziel eines Irlands, in dem Gälisch neben Englisch gleichrangig ist und genauso häufig von den Menschen im Alltag benutzt wird, nicht nur erstrebenswert sondern auch realisierbar. Gälisch ist eine alte Sprache mit einem großem Schatz an Literatur und das vielleicht wichtigste kulturelle Erbe aller Menschen auf der Insel unabhängig davon, ob sie im Norden oder im Süden leben oder welcher Konfession sie angehören. Ob die Wiederbelebung neue politische Perspektiven eröffnete, kann ich nicht beurteilen. Jedenfalls hat sie einen ungeheuren Wert an sich und darf daher nicht verlorengehen. Die gälische Sprache ist in den letzten Jahrhunderten auf den britischen Inseln immer mehr an die Peripherie verdrängt und dabei fast ganz ausgelöscht worden. Wenn ich aber die zunehmende Hinwendung zum Gälischen in den urbanen Zentren in Schottland und in Irland beobachte - die Entstehung des Gälisch-Viertels in West Belfast, wo Raidió Fáilte seine Studios hat, ist nur ein Beispiel von vielen -, so bin ich zuversichtlich, daß wir die Talsohle bereits hinter uns haben und daß die Sprache auf dem besten Weg ist, ihren angestammten Platz in der Gesellschaft und in den Herzen der Menschen zurückzuerobern.

SB: Ein gutes Schlußwort. Vielen Dank, Ian Malcolm, für dieses Interview.

Eingang des zweistöckigen Backsteingebäudes Curran House, die Schilder von Raidió Fáilte und Pobal rechts und links neben der Tür gut sichtbar - Foto: © 2015 by Schattenblick

Curran House in West Belfast, der Sitz von Raidió Fáilte
Foto: © 2015 by Schattenblick

17. Januar 2015


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