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INTERVIEW/272: Armut, Pott - vom meisten das wenigste ...    Christoph Butterwegge im Gespräch (SB)


Ideologischer Rollback im Dienst der neoliberalen Hegemonie

"Armutsspirale im Ruhrgebiet stoppen!" - Konferenz am 12. Juni 2015 in Bochum


Prof. Dr. Christoph Butterwegge lehrt Politikwissenschaft an der Universität zu Köln. Zuletzt ist sein Buch "Hartz IV und die Folgen. Auf dem Weg in eine andere Republik?" bei Beltz Juventa erschienen [1].

Butterwegge gehörte zu den Referenten der Konferenz "Armutsspirale im Ruhrgebiet stoppen!", zu der Die Linke im Bundestag am 12. Juni nach Bochum eingeladen hatte. Vor Beginn der Veranstaltung beantwortete er dem Schattenblick einige Fragen zum Armutsbegriff, zur Ausgrenzung und Sanktionierung gesellschaftlicher Gruppen wie auch den damit verbundenen Gefahren.


Beim Vortrag am Stehpult - Foto: © 2015 by Schattenblick

Christoph Butterwegge
Foto: © 2015 by Schattenblick

Schattenblick (SB): Im Februar dieses Jahres wurde der Armutsbericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes herausgegeben, der eine heftige Reaktion in der Öffentlichkeit ausgelöst hat. Viele bürgerliche Medien haben aufgeschrien und behauptet, das sei so etwas wie ein Armutsschwindel. Was würden Sie dem entgegenhalten?

Christoph Butterwegge (CB): Vor allen Dingen wurde Kritik am Begriff der relativen Armut geübt. Unter Armut wird hierzulande nicht nur absolute Armut verstanden, also wenn man die Grundbedürfnisse nicht befriedigen kann, keine Nahrung, kein sauberes Trinkwasser, keine medizinische Grundversorgung, keine den klimatischen Verhältnissen angemessene Kleidung und kein Obdach hat. Kritiker haben nun gewissermaßen diese absolute Armut verabsolutiert und die relative Armut entweder negiert, also geleugnet, dass es sie gibt, oder in der Art relativiert, dass es gar keine "wirkliche" Armut sei, weil die Menschen nicht nahe am Verhungern sind. Natürlich sieht Armut in Kalkutta anders aus als in Köln, aber auch die Armut in Magdeburg sieht anders aus als die in München. Armut hat nun mal ganz viele Gesichter, weshalb man sich immer an jenen Maßstäben für Armut orientieren muss, die in dem betreffenden Land zu der Zeit gelten, in welcher der Betroffene lebt.

Ich halte nichts davon, noch den Maßstab von Höhlenbewohnern früherer Jahrtausende anzulegen und Hochhausbewohner schon deshalb nicht für arm zu halten, weil sie nicht mehr unter steinzeitlichen Bedingungen leben und sich auch nicht mehr von Wurzeln oder Wildbret ernähren. Meines Erachtens muss Armut unter Bedingungen der Bundesrepublik anders definiert werden. Daher würde ich einen primitiven Armutsbegriff ablehnen und einen modernen Armutsbegriff bevorzugen, der die soziale Lage eines Betroffenen in Beziehung zum Wohlstand in dem Land setzt, in dem er lebt. Das heißt, in einer so reichen Gesellschaft wie der unsrigen ist man auch dann arm, wenn man zwar zu essen und eine eigene Wohnung hat und akzeptable Kleidung trägt, aber beispielsweise nicht ins Theater, ins Kino oder in ein Restaurant gehen kann, um sich mit Freunden zu treffen, ja vielleicht noch nicht einmal bei so heißem Wetter wie heute seinen Durst in einem Biergarten löschen kann. Und das bedeutet, man ist deshalb arm, weil man die zwischenmenschlichen Kontakte nicht pflegen und auch nicht am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben teilhaben kann. Heutzutage gehört nämlich zum allgemeinen Lebensstandard dazu, dass man sich zumindest das leisten können muss, was für alle anderen in der Gesellschaft als normal gilt.

SB: In der kürzlich erschienenen Studie des Deutschen Jugendinstituts ist zu lesen, dass über 20.000 junge Menschen gefährdet seien, aus allen sozialen Hilfsstrukturen herauszufallen. Hat man es bei diesem Phänomen damit zu tun, dass ganze gesellschaftliche Gruppen ausgegrenzt werden und in der öffentlichen Wahrnehmung nicht mehr auftauchen?

CB: Ja, vor allen Dingen nimmt auch die absolute und nicht nur die relative Armut zu. Ich würde die dominanten Trends folgendermaßen zusammenfassen: Erstens breitet sich die relative Armut in die Mitte der Gesellschaft hinein aus und verfestigt sich dort. Zweitens nimmt auch die absolute Armut zu. Das betrifft viele Jugendliche, etwa solche, die vom Jobcenter sanktioniert werden, wenn sie zum zweiten Mal einen Job, der ihnen angeboten wird, ablehnen, weil er nicht ihren Qualifikationen entspricht, oder wenn sie eine Weiterbildung, beispielsweise ein Bewerbungstraining, wiederholt ausschlagen, weil sie es schon mehrfach absolviert haben und trotz ihrer bunten Bewerbungsmappe nur Dutzende von Absagen bekommen haben. Wenn Jugendliche zweimal eine Pflichtverletzung begehen, sanktioniert sie das Jobcenter total, das heißt, es streicht nicht nur die Geldleistung, also das Arbeitslosengeld II, sondern ersetzt auch Heiz- und Mietkosten nicht mehr. An dieser Stelle produziert der Sozialstaat absolute Armut, nämlich Obdachlosigkeit. Darüber hinaus nimmt die absolute Armut auch unter sogenannten Illegalen, ich spreche lieber von illegalisierten Migranten und Migrantinnen, sowie von EU-Zuwanderern aus der südosteuropäischen EU-Peripherie, sprich Bulgaren und Rumänen, sehr stark zu. Ihre Zahl steigt auch unter den hiesigen Obdachlosen. Natürlich ist Obdachlosigkeit und damit die Zunahme von Wohnungslosigkeit in einem so reichen Land wie Deutschland auch ein Alarmsignal in die Richtung, dass absolute Armut im Anstieg begriffen ist.

Ein dritter Teilaspekt in dem, was ich als dominante Trends der Armutsentwicklung bezeichne, ist die sehr gering ausgeprägte Sensibilität gegenüber sozialer Verelendung. Diskussionen wie die nach der Vorlage des jüngsten Armutsberichts des Paritätischen im Februar/März 2015 zeigen, dass zumindest bei den Hauptmeinungsbildnern unserer Gesellschaft, also Medienorganen wie der FAZ, der ZEIT oder selbst der Süddeutschen, sowie bei Politikern und Politikerinnen wie Bundessozialministerin Andrea Nahles kein Sensorium mehr dafür existiert, was Gewerkschaften, Kirchen und Wohlfahrtsverbände während der vergangenen zwei Jahrzehnte erreicht hatten, nämlich dass auch ein relativer Armutsbegriff in der Öffentlichkeit akzeptiert war. Darin sehe ich eine Art ideologischen Rollback im Rahmen der neoliberalen Hegemonie, der öffentlichen Meinungsführerschaft des Marktradikalismus.

Ich will das am Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU und SPD näher illustrieren. Darin kommt das Wort "Reichtum" nur zweimal vor, einmal als Naturreichtum und einmal als Ideenreichtum. "Vermögen" kommt ebenfalls zweimal vor, einmal als Durchhaltevermögen und einmal als Vermögensabschöpfung bei schweren Straftaten. Das Wort "Armut" kommt zwar zehnmal vor, aber Kinderarmut kein einziges Mal, sondern nur Bildungsarmut, um damit Aktivitäten gegen den Analphabetismus zu begründen. Altersarmut taucht sogar in einer Überschrift auf, die fordert, sie zu verhindern. Verhindern kann man jedoch nur etwas, das es noch nicht gibt. In dem Bericht steht also keineswegs: "Altersarmut bekämpfen!" oder "Altersarmut verringern!". Ein weiteres Mal taucht Armut im Zusammenhang mit dem Sozialstaat auf, der die Menschen vor ihr bewahre. Des Weiteren kommt Armut viermal im Zusammenhang mit der sogenannten Dritten Welt vor, wo es sinngemäß heißt: Armut und Hunger in der Dritten Welt müssen bekämpft werden. Und dann taucht Armut noch dreimal im Zusammenhang mit Zuwanderung, also Armutsmigration oder Armutszuwanderung auf. Gemeint sind damit Bulgaren und Rumänen. Ohne sie namentlich zu nennen, erweckt der Koalitionsvertrag den Eindruck, dass sie in unsere Sozialsysteme einwandern. Mein Fazit lautet: Die gegenwärtigen Regierungsparteien CDU/CSU und SPD gehen davon aus, dass Armut in unserer Wohlstandsinsel gar nicht existiert und wenn doch, dann nur, weil Armut von EU-Zuwanderern rechtswidrig nach Deutschland importiert wird. Dies bedeutet, dass das Bewusstsein für Armut und soziale Ungleichheit in den etablierten Parteien und bei den verantwortlichen Politikern wieder auf einen Nullpunkt zurückgefallen ist.

Nach meinem Dafürhalten müssen der Paritätische, der sich schon 1989 mit dem ersten Armutsbericht sehr um das Thema verdient gemacht hat, aber auch die Caritas, die jetzt plötzlich umschwenkt und dem Paritätischen in Gestalt des Generalsekretärs Georg Cremer in der FAZ einen Alarmismus in Bezug auf die Armut vorwirft, wie überhaupt Kirchen, Wohlfahrtsverbände, Gewerkschaften, Globalisierungskritiker und all jene, die sich dafür einsetzen, unser Land sozialer, humaner und demokratischer zu machen, den Armutsbegriff in der Öffentlichkeit neu verankern, damit er nicht wieder, wie es früher der Fall war, in der Weise deformiert wird, unter Kinderarmut nicht die Armut von Kindern, sondern die Armut an Kindern zu verstehen.

SB: Wenn immer mehr Menschen verarmen, müsste dann theoretisch nicht so etwas wie ein Bewusstsein für eine Gegenposition dazu wachsen? Haben die davon betroffenen Menschen überhaupt keine Stimme?

CB: Das Schlimme ist, dass relative Armut in einem reichen Land dazu führt, dass man die Armen für ihre Situation selbst verantwortlich macht und das Thema auf diese Weise eher tabuisiert. So erreicht man, dass die Betroffenen den Schuldvorwurf der Gesellschaft auf sich selbst beziehen, ihn zum Teil auch internalisieren und sich als Folge davon resignierend ins Private zurückziehen. Anders als die Straßenkinder in Südamerika schließen sich die Armen in der Bundesrepublik Deutschland eben nicht zusammen, um sich politisch zu wehren. Arme in Deutschland haben oftmals Schuldgefühle und ein hohes Maß an Scham. Weil sie sich meistenteils aus der Öffentlichkeit zurückziehen, sind sie selbst nicht in der Lage, Widerstand zu leisten, und sie haben auch keine starke Lobby.

Meine Antwort darauf wäre folgende: Wir müssen in der Mittelschicht, die zwischen oben und unten zerrieben zu werden droht, das Bewusstsein verankern, dass es falsch ist, nach der Radfahrermethode à la Thilo Sarrazin - nach oben zu buckeln und nach unten zu treten - zu handeln. Die Mittelschicht muss sich mit denjenigen, die ohnehin in der Gesellschaft verachtet sind - Zuwanderer muslimischen Glaubens, Obdachlose, Drogenabhängige und andere - solidarisieren, statt sie noch stärker zu diskriminieren und dieser Verachtung noch stärkeres Gewicht zu geben. Die Mittelschichtsangehörigen müssen sich aus der Angst, sozial abzustürzen, befreien und sich gegen diejenigen wenden, die für Wirtschafts- und Finanzkrisen verantwortlich sind, nämlich Banker, Spekulanten, das Finanzkapital und die großen Konzerne. Aber stattdessen trampelt man lieber auf denjenigen herum, die sich noch weiter unten befinden und völlig rechtlos in dieser Gesellschaft sind.

SB: Wer wäre denn Ihrer Ansicht nach bei diesem Kampf ein möglicher Ansprechpartner - die Gewerkschaften oder Grüne und Sozialdemokraten, die Hartz IV auf den Weg gebracht haben?

CB: Obwohl an der Kampagne gegen den relativen Armutsbegriff und den Armutsbericht des Paritätischen auch Andrea Nahles beteiligt ist, die den üblichen Weg einer Sozialdemokratin in Regierungsämtern zu gehen scheint, nämlich von links unten nach rechts oben, habe ich die Hoffnung nicht aufgegeben, dass es auch innerhalb der SPD und bei den Grünen, ja selbst auf dem Arbeitnehmerflügel der Union Kräfte gibt, die sich des Problems der tiefen Spaltung unserer Gesellschaft bewusst sind. Es nimmt ja nicht allein die Armut zu, sondern das Hauptproblem ist die Verschärfung der sozialen Ungleichheit. Das immer deutlicher zutage tretende Auseinanderfallen der Gesellschaft in Arm und Reich wird auch von Teilen der Eliten als Gefahr für den Zusammenhalt des Gemeinwesens erkannt. Hier könnten vielleicht Bündnispartner im Kampf gegen die Armut gewonnen werden.

SB: Sie haben in Ihrem Buch "Hartz IV und die Folgen" die Frage aufgeworfen, ob wir auf dem Weg in eine andere Republik sind. Steht zu befürchten, dass sich eine Art neofeudale Gesellschaft mit ganz wenigen Reichen und in einer ganzen Breite verarmter Menschen herausbildet?

CB: Ich sehe durchaus die Gefahr eines Rückfalls in den Feudalismus, weil sich ein Geldadel hyperreicher Unternehmerdynastien herausgebildet hat. Ultrareiche, die man in Russland, der Ukraine oder Griechenland als Oligarchen bezeichnen würde, werden gerade jetzt bei der Reform der Erbschaftsteuer wieder verschont. Firmenpatriarchen konnten bisher einen ganzen Konzern an nahe Angehörige weitergeben, ohne dass diese auch nur einen Cent betriebliche Erbschaftsteuer zahlen müssten. Am entgegengesetzten Ende des sozialen Spektrums sind Menschen erwerbslos oder im Niedriglohnsektor tätig, der 24,3 Prozent aller Beschäftigten umfasst. Davon haben die meisten einen Berufsabschluss, viele sogar einen Hochschulabschluss. Für mich ist der Niedriglohnsektor das Haupteinfallstor für heutige Erwerbs- und spätere Altersarmut.

Die Gefahr eines Neofeudalismus sehe ich auch deshalb, weil sich die Armen resignierend zurückziehen und nicht mehr an Institutionen des parlamentarischen Repräsentativsystems partizipieren. Begriffe wie "Parteien-" bzw. "Politikverdrossenheit" und "Wahlmüdigkeit" weisen in die Irre, weil es sich in Wirklichkeit um eine Krise des parlamentarischen Repräsentativsystems handelt und sich ein großer Teil der Bevölkerung, und zwar der sozial abgehängte, nicht mehr repräsentiert fühlt. Die prekäre Existenz motiviert sie letztlich zur Wahlabstinenz. Wenn in den Nobelvierteln weiterhin eine 90-prozentige Wahlbeteiligung vorliegt und in den abgehängten Stadtteilen, den sogenannten Brennpunktvierteln, vielleicht noch 25 oder 30 Prozent zur Wahl gehen, dann ist das nicht nur eine soziale, sondern auch eine politische Spaltung der Gesellschaft. Daran zeigt sich, dass der Um- und Abbau des Sozialstaates nicht bloß Armut produziert, sondern am Ende auch die Demokratie ruiniert.

SB: Sie haben in Ihrem letzten Buch auch dargestellt, dass die Armutsentwicklung im Grunde genommen einen langen historischen Prozess durchlaufen hat und die Maßnahmen, die man bei Hartz IV umgesetzt hat, schon sehr früh vorgedacht wurden. Die in den Regelkatalog eingeflossene systematische Bezichtigung hat ein völlig neues Menschenbild hervorgebracht. Die Staatlichkeit hat es nicht mehr mit Menschen zu tun, die Ansprüche haben, sondern das von oben administrierte Prinzip, dass jeder für sich selber verantwortlich ist, macht sie im Grunde zu Bittstellern unter einem stark verminderten Rechtsstatus.

CB: Ja, es gibt eine Verelendung bestimmter Bevölkerungsgruppen und eine zunehmende Verachtung ihnen gegenüber. Das sieht man auch im Zusammenhang mit der Prekarisierung der Beschäftigungsverhältnisse, die einhergeht mit einer Entwürdigung und Entwertung der Arbeit. Das impliziert im Grunde auch den Übergang in eine Gesellschaft, die nicht mehr gelten lässt, dass jedem Individuum entsprechend dem gesellschaftlichen Wohlstand auch ein soziokulturelles Existenzminimum gebührt, wie es das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil zu den Hartz-IV-Regelsätzen vom 9. Februar 2010 verlangt hat. Die rigide Sanktionspraxis der Jobcenter ist ein besonders eklatantes Beispiel dafür, dass die Würde des Menschen tagtäglich mit Füßen getreten wird. Denn wenn jemand, der über Hartz IV ohnehin nur das soziokulturelle Existenzminimum in Anspruch nimmt, über Sanktionen auch noch einen Abzug beziehungsweise eine Totalsanktion bekommt, ist die Würde des Menschen nichts mehr wert. Ich hoffe sehr, dass Karlsruhe, ohne dass ich übertriebene Hoffnungen in die Herren mit der roten Robe setzen würde, seiner Rechtsprechung treu bleibt und die Sanktionen für verfassungswidrig erklärt.

Das Ungleichgewicht, dass auf der einen Seite ein ganz geringer Teil von Reichen und Ultrareichen einen Großteil des Vermögens in der Gesellschaft sein eigen nennt und auf der anderen Seite Menschen ihren Alltag nicht mehr bewältigen können, weil ihnen das Allernötigste zum Leben fehlt, markiert einen Prozess, bei dem die Bundesrepublik nicht nur einer US-Amerikanisierung der Gesellschaft unterliegt, sondern im Grunde auch dabei ist, die Dritte Welt in der Ersten Welt zu realisieren. Die Verteilungsunterschiede sowohl beim Einkommen, aber erst recht beim Vermögen sind inzwischen ähnlich drastisch wie beispielsweise in Kolumbien oder Brasilien. Die Bundesdeutschen haben allerdings ein Bild von ihrer Gesellschaft, als existierten die riesigen sozialen Gegensätze bei uns gar nicht.

SB: Wie schätzen Sie die Gefahr einer Rechtsentwicklung ein? In früheren Zeiten profitierten rechte Bewegungen stets von der Armutsspirale.

CB: Wenn das Kleinbürgertum in Deutschland große Ängste vor dem sozialen Absturz plagten, hat es sich mehrheitlich immer nach rechts gewendet. Diese Gefahr sehe ich heute auch. Für mich sind rechtspopulistische Strömungen wie Pegida, AfD oder die Pro-Bewegung, die sich zum Glück gegenwärtig teilweise selbst zerlegen, Ausdruck der Vermögenskonzentration bei den Reichen auf der einen und der Prekarisierung bis in die Mitte hinein auf der anderen Seite. Der augenblickliche Zustand wird diese Entwicklung noch vorantreiben. Ich sehe deutliche Risse im sozialen Fundament dieser Republik, Verwerfungen nicht bloß am unteren Rand und eine politische Zerklüftung der Gesellschaft, was nichts anderes bedeutet, als dass auch die Demokratie in Gefahr gerät - einmal, weil die Armen und sozial Ausgegrenzten sich kaum noch an politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozessen beteiligen, und zum anderen, weil viele Mittelschichtangehörige ihre Hoffnung auf den Rechtspopulismus oder eine Führerfigur richten, die alle sozialen Übel heilen soll. Das wäre im Grunde eine Selbstentmächtigung der Mittelschicht.

Pegida hat große Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit erzielt, aber es gab in vielen Städten auch deutliche Gegenbewegungen und große Demonstrationen dagegen. Selbst im Falle noch deutlicherer Folgen der globalen Finanz- und Weltwirtschaftskrise in Deutschland und stärkerer Verelendungstendenzen existiert das Bewusstsein, dass die Rechtsentwicklung der Weimarer Republik falsch war und im Grunde umgekehrt dafür gesorgt werden muss, mehr soziale Gerechtigkeit und mehr soziale Gleichheit zu schaffen, wenn man verhindern will, dass sich perspektivlose und vom Establishment enttäuschte Bevölkerungsschichten nach rechts wenden.

SB: Herr Butterwegge, vielen Dank für dieses Gespräch.


Fußnote:


[1] Rezension im Schattenblick unter:
http://www.schattenblick.de/infopool/buch/sachbuch/busar636.html


Bisherige Beiträge zur Konferenz "Armutsspirale im Ruhrgebiet stoppen!" im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → POLITIK → REPORT:

BERICHT/200: Armut, Pott - und viele Köche ... (SB)
BERICHT/201: Armut, Pott - Fruchtpressenrestverbrauch ... (SB)

17. Juli 2015


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