Schattenblick → INFOPOOL → POLITIK → REPORT


INTERVIEW/275: Minenfeld Afghanistan - Ruinen, Elend, aussichtslos ...    Matin Baraki im Gespräch (SB)


Die Ethnisierung des Konflikts ist ein Produkt des Krieges

Tagung Afghanistan 2015. Frieden in Afghanistan? Vergessen? am 13. Juni 2015 in Düsseldorf


Der Marburger Politikwissenschaftler Dr. Matin Baraki ist aus zahlreichen Beiträgen zur Situation im Nahen Osten und in Zentralasien bekannt. Auf der Tagung "Afghanistan 2015. Frieden in Afghanistan? Vergessen?", die am 13. Juni 2015 im Bürgerhaus Bilk in Düsseldorf stattfand, hielt er einen Vortrag zum Thema "Afghanistan im geopolitischen Kontext".

Nach der Veranstaltung beantwortete Matin Baraki dem Schattenblick einige Fragen zu seinen aktuellen Eindrücken in Afghanistan, den Konfliktparteien im historischen Kontext und den Interessen der maßgeblichen geostrategischen Akteure.


Beim Vortrag am Stehpult - Foto: © 2015 by Schattenblick

Matin Baraki
Foto: © 2015 by Schattenblick

Schattenblick (SB): Herr Baraki, Sie sind im Frühjahr von Ihrer jüngsten Reise durch Afghanistan nach Deutschland zurückgekehrt. Welche Erfahrungen haben Sie bei diesem Besuch in Ihrem Heimatland gemacht?

Matin Baraki (MB): Ich reise jedes Jahr nach Afghanistan und wenn ich zurückkomme, bin ich faktisch traumatisiert. In den vergangenen Jahren habe ich es geschafft, diese Dinge selber zu verarbeiten. Aber ich habe den Eindruck, daß mir das, je älter ich werde, um so schwerer fällt. In diesem Jahr habe ich etwas Grauenhaftes erlebt. Eine junge Frau, die eine theologische Schule besucht hatte und Theologie studieren wollte, wurde auf offener Straße von mehreren Dutzend Männern gelyncht. Das hat mich so mitgenommen, daß ich die ersten drei Wochen nur geweint habe. Ich wußte nicht, was ich sonst machen sollte, um mit diesem Trauma fertigzuwerden. Als ich dann nach Deutschland zurückkam, war ich diesmal sowohl psychisch als auch körperlich richtig angeschlagen. Ich konnte nicht mehr arbeiten, ich konnte mich nicht konzentrieren, ich hatte Schlafstörungen, und mir fehlte jede Motivation, irgend etwas zu machen. Erst geraume Zeit später war ich wieder in der Lage, die Arbeit aufzunehmen und von meinen Beobachtungen zu berichten. Diese Erlebnisse sind in einem Maße grauenhaft, das man sich vorher gar nicht vorstellen kann. Obwohl ich Afghanistan regelmäßig besuche und eigentlich wissen sollte, was mich erwartet, wird es doch von Jahr zu Jahr schlimmer.

Als besonders schlimm empfinde ich, daß die Kinder verlernt haben, miteinander zu spielen. Sie bilden zwei, drei Gruppen - eine nennt sich NATO-Soldaten, die andere Taliban und die dritte afghanische Regierung - und dann kämpfen sie gegeneinander. Sie können nicht mehr friedlich miteinander umgehen. In meiner Kindheit hatten wir tiefempfundenen Respekt vor unseren Eltern, weil vor allem die Autorität des Vaters sehr groß war. Heute ist das zivile Leben durch den Krieg vielfach zerstört und so brutalisiert worden, daß ein junger Mann in Anwesenheit der Eltern aufsteht, die Pistole hervorholt und seinen Bruder erschießt.

Was mich ebenfalls sehr belastet, ist die Lage der Frauen, weil sie neben den Kindern am meisten unter dem Krieg leiden. Sie haben häufig ihre Männer, Brüder oder andere Verwandte verloren und sind nicht selten ganz auf sich allein gestellt. Niemand ist da, der ihnen helfen könnte. Die älteren Frauen betteln mit ihren Kindern am Straßenrand vor Heiligtümern in Kabul und anderen Städten, die jüngeren prostituieren sich. Das geht einfach nicht aus meinem Kopf heraus und belastet mich furchtbar.

SB: Demnach sind das Entwicklungen, die früher in der afghanischen Gesellschaft undenkbar waren?

MB: Das kannten wir überhaupt nicht! Die Kinder haben ihre Eltern geachtet, und die kleineren haben friedlich miteinander gespielt. Ich kann mich noch daran erinnern, daß wir uns vorgestellt haben, wir seien Tauben oder andere Tiere und Dinge, die man in der Natur findet. So bildeten wir verschiedene Gruppen von Tauben oder spielten Ball miteinander. Das kennen die Kinder heute gar nicht. Sie wissen nicht, daß es so etwas gibt. Sie sind im Krieg geboren und erleben ihn jeden Tag, sowohl durch die Medien als auch im realen Leben. Jetzt lebt die zweite Generation in Afghanistan, die im Krieg geboren und aufgewachsen ist. Ich frage mich, was aus diesem Volk wird. Was wird aus diesen Menschen, was wird aus diesem Land, wenn der Krieg weitergeht?

Deshalb ist es meine Intention in der politischen und wissenschaftlichen Arbeit, daß dieser Krieg auf jeden Fall aufhören muß. Für eine friedliche Zukunft Afghanistans müssen wir natürlich weitreichende Kompromisse machen, die uns wohl nicht gefallen werden. Aber um den Krieg zu beenden, gibt es meines Erachtens keinen Kompromiß, der völlig ausgeschlossen wäre.

SB: Aus westlicher Sicht wird oft behauptet, daß die verschiedenen Bevölkerungsgruppen in Afghanistan schon seit Jahrhunderten verfeindet seien und die aktuellen Konflikte maßgeblich auf diese Vorgeschichte zurückzuführen seien.

MB: Ich will Ihnen zwei Gegenbeispiele nennen. Im 19. Jahrhundert haben die Briten Afghanistan zweimal überfallen und vollständig besetzt gehalten. In den beiden daraus resultierenden Befreiungskriegen wurde nicht unter der Flagge des Islam oder der einer bestimmten Ethnie gegen die Besatzungsmacht gekämpft, sondern unter der Nationalflagge Afghanistans. In Afghanistan gibt es etwa 55.000 Ethnien, und diese sagten damals: Wir sind alle Afghanen und werden die Briten gemeinsam aus unserem Land vertreiben.

Das zweite Beispiel: Nachdem 1989 die sowjetische Armee abgezogen war, die Linksregierung 1992 kapitulierte und die Macht an die gemäßigten Mudschaheddin übergab, hoffte die Bevölkerung, daß nun der Frieden Einzug hielte: Jetzt kommen unsere Muslimbrüder und Mudschaheddin, hieß es damals. Doch es gab keinen Frieden, die Fraktionen kämpften gegeneinander, und die Menschen waren fassungslos. Um diesen Mudschaheddin-Krieg auf dem Rücken der afghanischen Bevölkerung zu legitimieren, haben sich die Gruppen ethnisch definiert. Seit dieser Zeit lesen wir in den westlichen Medien, es handle sich um einen ethnischen Konflikt, wie er seit jeher in diesem Land bestehe. Diese Ethnisierung des Konfliktes ist jedoch ein Produkt des Krieges. Seit die NATO einmarschiert ist, heißt es mehr denn je, es seien Ethnien, die da gegeneinander kämpfen, doch woher das rührt, verschweigt man tunlichst.

SB: Trifft es zu, daß der Islamismus ursprünglich in Afghanistan weithin bedeutungslos war und somit ein historisch vergleichsweise junges Phänomen ist?

MB: In Afghanistan gab es keinen Islamismus. In Afghanistan gab es Muslime. Der Islam ist die Religion der Bevölkerungsmehrheit. Dort haben aber auch Juden gelebt. Ich hatte beispielsweise eine Kommilitonin, die mir eines Tages eröffnete, daß sie Jüdin sei. Ich hätte das vorher gar nicht erkennen können. Hindus haben dort gelebt, und viele Menschen anderer Glaubensüberzeugungen auch. Es stellte kein Problem dar, weil der afghanische Islam gemäßigt war.

In den Jahren wachsender sowjetischer Präsenz entwarfen westliche Strategen, allen voran Brzezinski, den Plan, die Afghanen mit ihren eigenen Waffen zu schlagen. Damals lebten über 80 Prozent der afghanischen Bevölkerung auf dem Land, es waren einfache Leute, Bauern und meistenteils Analphabeten. Diesen flüsterte man ein, die geplanten Reformen dienten dem Zweck, ihnen das Land wegzunehmen und ihre Frauen zu zwingen, mit Männern in einer Klasse zu sitzen, um Lesen und Schreiben zu lernen. Auf diese Weise wurde der Islam instrumentalisiert und der Islamismus in Afghanistan geschaffen.

Er blieb jedoch nicht auf Afghanistan beschränkt. In mehr als 50 islamischen Ländern und auch in Westeuropa wurden Kämpfer rekrutiert, die ausgebildet und bewaffnet in Afghanistan zum Einsatz kamen. Ich habe seinerzeit einen afghanischen Doktoranden unterstützt und bin mit ihm nach Bonn gefahren, wo wir auch die örtliche Vertretung der Mudschaheddin besuchten. Wie sich herausstellte, war das ein Rekrutierungsbüro. Würde man das heute machen, hätte man sofort einen Prozeß am Hals, und Leute, die aus Kriegsgebieten zurückkehren, werden an der Grenze festgenommen. Damals wurden hingegen mit Duldung der Bundesregierung junge Menschen für den Afghanistankrieg rekrutiert. Der damalige Unionspolitiker Jürgen Todenhöfer - später vom Saulus zum Paulus gewandelt - machte sich in dieser Zeit nicht nur in Reden vor dem Bundestag für die Unterstützung der Mudschaheddin stark. Auch wurden Bundeswehroffiziere formal beurlaubt, die dann angeblich in Eigenregie nach Afghanistan reisten.

SB: Oft fällt das Argument, die Taliban seien keine Verhandlungspartner, weil man angesichts ihrer fehlenden Kompromißbereitschaft ohnehin nicht Frieden mit ihnen schließen könne.

MB: Das stimmt ja nicht! Das ist ein Vorwand, um den Krieg und die Präsenz der NATO zu legitimieren. Die Taliban sind kompromißbereit, aber sie stellen Forderungen, und wir müssen mit ihnen verhandeln. Eines muß man unbedingt erwähnen: Die älteren Kommandanten der Taliban, die kompromißbereiter als die jüngeren waren, wurden von den Drohnen der USA eliminiert. Die heutige Generation der sogenannten Neotaliban setzt sich aus sehr motivierten Kämpfern zusammen. Es sind junge Leute, die kämpfen wollen und weniger kompromißbereit sind als ihre Vorgänger. Dennoch sind Verhandlungen mit ihnen möglich, und ihre Kernforderung lautet, die NATO-Truppen vollständig durch Militäreinheiten aus islamischen Ländern zu ersetzen. Dann würden sie die Waffen niederlegen.

Die NATO denkt jedoch gar nicht daran, das Land zu verlassen. Sie hat dort Fuß gefaßt und will bleiben, da Afghanistan geostrategisch viel zu wichtig für sie ist, als daß sie freiwillig abzöge. Afghanistan hat eine nicht allzu lange Grenze zu China in etwa 5000 m Höhe, also praktisch im ewigen Eis. Dort hat die NATO einen Stützpunkt errichtet, obwohl es in dieser Region natürlich weder Taliban, noch al-Qaida oder sonst jemanden gibt. Was die NATO dort will, ist eine der Fragen, die westliche Militärs und Politiker eher nicht beantworten.

SB: Ist der Abzug der Kampftruppen aus Afghanistan demnach insofern ein Täuschungsmanöver, als Stützpunkte dauerhaft besetzt bleiben sollen?

MB: Das ist ein Aspekt. Zunächst wurden aber auch die Kosten erheblich reduziert. Ich habe in meinem Vortrag die Zahlen genannt: Der Krieg hat pro Woche 1,5 Milliarden Dollar gekostet, während die afghanischen Sicherheitskräfte heute 4,1 Milliarden Dollar im Jahr bekommen. Zweitens haben die westlichen Militärs keine Opfer mehr zu beklagen, da sie in ihren Stützpunkten bleiben. Bei Bedarf werden sie von afghanischen Offizieren angefordert und schicken dann Bomber oder Drohnen los, ohne daß ihnen etwas passiert. Afghanen bringen Afghanen um. Und drittens haben sich die Besatzungsmächte vertraglich so abgesichert, daß sie Stützpunkte im Land behalten können. Allein die USA unterhalten acht große und über ein Dutzend kleine Stützpunkte. Das heißt, Afghanistan ist faktisch von den USA besetzt. Andere Länder, darunter auch die Bundesrepublik, haben ihre eigenen Stützpunkte.

Es wurden bilaterale und multilaterale Verträge geschlossen. Multilaterale Verträge bestehen zwischen der afghanische Regierung und der NATO als Organisation, die jederzeit unter einem Vorwand mit voller Kapazität nach Afghanistan zurückkehren kann. Hinzu kommen bilaterale Verträge mit den USA, Großbritannien und der Bundesrepublik Deutschland, daß sie jederzeit ihre Einheiten aufstocken können, wenn sie das für angemessen halten. Der Abzug ist also eine Augenwischerei, der Krieg ist afghanisiert worden.

SB: Welche Rolle spielt Rußland derzeit, nachdem das Transitabkommen mit den NATO-Staaten aufgrund anderer Konfliktlagen auf Eis gelegt worden ist?

MB: Die Russen mögen die Islamisten auch nicht, vor allem deren Verbündete in Zentralasien und im Kaukasus. Davon sind ja die Sicherheitsinteressen Rußlands berührt. Ich habe vor einiger Zeit auf einer Konferenz in Berlin, an der auch ein Professor aus Rußland teilnahm, die russische Position kritisiert und erklärt, es gefalle uns Afghanen nicht, wenn die Russen die Versorgung der NATO durch ihr Territorium zulassen. Aber jetzt gibt es zwischen Rußland und den NATO-Staaten eine Konfliktlage, die dazu geführt hat, daß der Transitvertrag zumindest vorläufig auf Eis gelegt wurde, was ich für sich genommen positiv finde. Die afghanische Bevölkerung identifiziert sich größtenteils mit dem Widerstand, und die Erfahrungen aus der Sowjetzeit und die spätere Unterstützung der NATO durch Rußland sind nicht in Vergessenheit geraten. Ich begrüße es, daß es zur vorläufigen Unterbrechung des Transits gekommen ist.

SB: Es existiert auch ein chinesisches Engagement in Afghanistan, vor allem im Bergbau. In welchem Ausmaß findet das statt und ist es relevant für die künftige Entwicklung?

MB: Für die Entwicklung ist dies von minimaler Relevanz. Es gab einige Projekte der Volksrepublik China, die in der Vergangenheit erfolgreich waren. Beispielsweise machte Liu Tschau-Tschi Afghanistan bei einem Staatsbesuch ein Textilkombinat zum Geschenk. Dieses Kombinat war so erfolgreich, daß sogar afghanische Privatunternehmen Maschinen in China bestellten. Auch im landwirtschaftlichen Bereich gab es sehr erfolgreiche chinesische Projekte.

In jüngerer Zeit bekam die VR China eine Konzession, in der Provinz Lugar südlich von Kabul Kupferminen zu betreiben. Im Gegenzug soll der afghanische Innenminister 50 Millionen Dollar Bestechungsgelder erhalten haben. Der Auftrag wurde nicht wie üblich ausgeschrieben, und man konnte schon im Vorfeld in der afghanischen Presse lesen, daß ihn die Chinesen bekommen würden. Vor zwei Jahren begannen sie mit der Arbeit, aber dann fanden die Archäologen sehr interessante Objekte, die sie zunächst bergen wollen. Die Chinesen sind natürlich sehr verärgert, daß das Projekt deswegen nicht fortgesetzt werden kann.

SB: Die USA haben eine Verlagerung ihrer strategischen Interessen in den pazifischen Raum angekündigt. Sie wollen sich angeblich weitgehend aus dem Mittleren Osten zurückziehen und ihren Bündnispartnern das Feld überlassen. Das scheint jedoch nicht recht zu funktionieren.

MB: Das war eine Lüge, sie haben es gar nicht beabsichtigt. In allen Scheichtümern im arabischen Raum sind die USA massiv militärisch präsent. In Afghanistan gleichermaßen. Sie haben die Kampftruppen reduziert, aber eine militärische Infrastruktur geschaffen, die sie jederzeit gegen die Nachbarländer Iran oder China nutzen können.

SB: Afghanistan wurde in der Geschichte nie dauerhaft besetzt. Die USA versuchen, dies durch ihre langfristige Präsenz erstmals zu widerlegen. Ist das eine realistische Option?

MB: Die USA versuchen wie gesagt, uns mit unseren eigenen Waffen zu schlagen. Sie installieren Afghanen, die US-amerikanische Staatsbürger sind, in der afghanischen Administration. Militär und Polizei sind faktisch in Händen ehemaliger Mudschaheddin-Kommandanten, die man heute als Warlords bezeichnet. Die Mehrheit der Bevölkerung akzeptiert das nicht. Ob es zu einem erneuten Aufstand kommt oder der sogenannte asymmetrische Krieg fortgesetzt wird, muß die weitere Entwicklung zeigen. Ich gehe davon aus, daß es keine Ruhe geben wird, solange die NATO insgesamt und die USA im besonderen in Afghanistan militärisch präsent bleiben oder ihre Entourage in der Administration plazieren. Wie lange das dauern wird, kann man nicht sagen.

Hier im Westen hören wir immer, daß es nur die Taliban seien, die kämpfen. Doch nach Angaben der Vereinten Nationen kämpfen über 20 verschiedene Organisationen gegen die Besatzer, und diese Organisationen haben ihre Leute, sie bekommen Schutz, Solidarität und Unterstützung. Stanley McChrystal war Oberbefehlshaber der USA in Afghanistan. Ihm wird die Aussage zugeschrieben, wenn man von zehn Afghanen zwei töte, habe man fortan nicht acht, sondern 18 am Hals. Bringt man zwei Mitglieder einer Familie um, hat man die ganze Familie, das ganze Dorf oder gar den ganzen Stamm gegen sich. In Afghanistan sind im Krieg der NATO viele unschuldige Zivilisten ums Leben gekommen. Deren Angehörige geben nicht auf, sie werden ihre Rache nehmen. Vor allem bei den Paschtunen ist die Rache ein Gesetz, wenn Sie so wollen ein alter Stammeskodex. Solange sie ihre Blutrache nicht genommen haben, geben sie nicht auf. Das müssen sich die USA hinter die Ohren schreiben.

Ich kann mich noch genau daran erinnern, daß am Anfang die Taliban vernichtet werden sollten. Das war die Strategie der USA. Als sie dann gesehen haben, daß die Taliban nicht so einfach zu beseitigen waren, begannen die Strategen zu differenzieren: Da al-Qaida eine internationale Agenda hat, ist sie anders zu behandeln als die Taliban mit ihrer nationalen Agenda. Als sie realisierten, daß der Krieg nicht zu gewinnen ist, änderten sie ihre Strategie im Sinne einer Afghanisierung des Krieges. In einem Punkt, der heute zum Ausdruck gebracht wurde, widerspreche ich der deutschen Friedensbewegung: Das Engagement der NATO und der USA ist keineswegs gescheitert, wir haben den Krieg nicht gewonnen, sie haben sich militärisch etabliert. Das ist perspektivisch von nicht zu unterschätzender Bedeutung.

SB: Neben den Drohnenangriffen sind auch die geheimen Einsatzkommandos der USA - vermutlich auch der Deutschen und anderer NATO-Staaten - in der Bevölkerung besonders verhaßt. Inwieweit ist eine Beteiligung deutscher KSK-Einheiten belegt?

MB: Die KSK waren sofort dabei, als die US-Amerikaner und Briten Afghanistan angegriffen haben. Später gab es eine enge Kooperation zwischen den Geheimdiensten - alle Geheimdienstgattungen der Bundesrepublik sind in Afghanistan präsent: Bundeskriminalamt, Militärischer Abschirmdienst, Bundesnachrichtendienst. Genau wie auf europäischer Ebene und innerhalb der NATO gibt es auch in Afghanistan eine Zusammenarbeit, bei der die deutschen Dienste immer dabeigewesen sind.

SB: In Deutschland war die ideologische Rechtfertigung der Intervention in Afghanistan stets von besonderer Bedeutung. Welche Erfahrungen haben Sie in dieser Hinsicht hier wie auch in Afghanistan gemacht?

MB: Ich komme ab und zu sogar ins Fernsehen, wenn auch vielleicht nur einmal in drei Jahren. Am Vorabend einer Bundestagsdebatte über den von Oberst Klein befohlenen Angriff auf die Tanklaster in Kundus fand eine Fernsehdiskussion statt, an der ich teilnahm. Dort sagte Oberst Kirsch vom Bundeswehrverband zu mir, man wisse doch gar nicht, was bei diesem Zwischenfall passiert ist. Ich habe dann aufgezählt, was wir alles wußten: Die Tanklaster fuhren nicht in Richtung des Bundeswehrstützpunkts, sondern davon weg. Sie waren im Flußbett steckengeblieben und von Zivilisten umgeben. Obgleich das alles bekannt war, gab Oberst Klein den Befehl zu bombardieren. Zudem wissen wir, daß die US-Piloten mehrfach angefragt hatten, ob sie nicht zuerst die Menschenmenge durch einen Überflug erschrecken und vertreiben sollten.

Bis zu diesem Zeitpunkt waren die Deutschen in Afghanistan recht beliebt, danach kippte die Stimmung um: Die unterscheiden sich doch gar nicht von den Amerikanern, die bringen uns doch auch um! Der deutsche Journalist Martin Gerner, der einen Film in einer afghanischen Schule gedreht hat, berichtete, daß ein siebenjähriges Kind zu ihm gekommen sei und gesagt habe: Ihr Europäer bringt uns Kinder um und behauptet, wir seien Taliban. Ich könnte Ihnen noch viele andere Beispiele nennen. Über die Wahlen haben die Leute schon im Vorfeld gelacht und sie "amerikanisches Theater" genannt: Sie wußten, was dabei herauskommt. Ein Schwager von mir ist ein einfacher Bauer und Analphabet. Er könnte jedoch eine Stunde lang hier vor uns stehen und einen Vortrag zu Afghanistan halten. Aus solchen Dingen erwächst meine Hoffnung, daß das Volk durch die Jahre des Krieges wachgeworden ist: Die Menschen wissen, was gut und was schlecht für sie ist. Daß ich vorschlage, dem afghanischen Volk die Möglichkeit zu geben, über sein Schicksal selber zu bestimmen, beruht auf diesen Erfahrungen, die ich in Afghanistan mache.

SB: Bei der heutigen Tagung wurde mit Bedauern zur Kenntnis genommen, daß nicht noch mehr Afghaninnen und Afghanen teilgenommen haben. Worauf ist es Ihres Erachtens zurückzuführen, daß eine solche Gelegenheit, sich über die aktuelle Situation in Afghanistan zu informieren und sich vielleicht sogar zu engagieren, nicht stärker wahrgenommen wird?

MB: Ich wünsche mir auch, daß mehr Landsleute kommen und sich engagieren. Das muß man jedoch etwas differenzierter sehen. Zum einen haben diese Menschen in Afghanistan sehr schlimme Erfahrungen gemacht, teilweise Angehörige verloren, einige sind geflüchtet und wollen nun ihre Ruhe haben. Dann gibt es hier Menschen, die immer noch Angehörige in Afghanistan haben, die Unterstützung brauchen. Viele afghanische Familien arbeiten in Deutschland sehr hart, um dafür Geld zu verdienen. Es gibt aber auch Afghanen, die sich ein schönes Leben machen. Afghanistan ist ihnen völlig egal, das gibt es auch. So muß man die Situation sehen.

SB: In welchem Maße gibt Ihnen Ihr ungebrochenes Engagement in dieser Frage Kraft, auch die persönliche Situation, die Sie derzeit erleben, zu bewältigen und Ihre Bemühungen fortzusetzen?

MB: Manchmal wundere ich mich nach meinem Vortrag, daß Menschen, die ich nie zuvor gesehen habe, kommen und mich umarmen. Andere geben mir spontan 20 Euro für meine Projekte in Afghanistan. Diese freundlichen Begegnungen mit vielen Menschen wie auf dieser Tagung ermutigen mich, und ich sage mir, das ist doch etwas Schönes, du machst weiter, solange du es kannst. Die Menschen freuen sich, daß jemand da ist, der Klartext redet, weil sie das nicht so oft hören. Viele lesen auch meine Beiträge. Vor meiner Reise nach Afghanistan hat mich ein Bundeswehrsoldat aus Kassel angerufen und gesagt: Herr Baraki, ich habe durch Ihre Beiträge kapiert, worum es in Afghanistan geht. Ich habe meinen Dienst bei der Bundeswehr quittiert. Da war ich ein klein wenig - nicht stolz - aber froh: Na ja, vielleicht bewirke ich ja doch etwas - nicht viel, aber ein bißchen. Aus dieser Quelle schöpfe ich meine Kraft.

SB: Herr Baraki, herzlichen Dank für dieses ausführliche Gespräch.


Bisherige Beiträge zur Tagung "Afghanistan 2015" im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → POLITIK → REPORT:

BERICHT/203: Minenfeld Afghanistan - Die Haftung des Westens ... (SB)
BERICHT/204: Minenfeld Afghanistan - Ratio de jure oder der fortschreitende Krieg ... (SB)
BERICHT/205: Minenfeld Afghanistan - Ersatzkriegsperspektiven ... (SB)
INTERVIEW/274: Minenfeld Afghanistan - Zur Burka zurück ...    Fereshta Noori im Gespräch (SB)

21. Juli 2015


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang