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INTERVIEW/289: Treffen um Rosa Luxemburg - und niemand sieht hin ...    Nick Brauns im Gespräch (SB)


Vertreibungskrieg des Erdogan-Regimes gegen die kurdische Zivilbevölkerung

21. Rosa Luxemburg Konferenz in Berlin


Der Historiker, Journalist und Autor Dr. Nikolaus Brauns [1] kann auf eine langjährige Tätigkeit als Korrespondent und Publizist mit den Schwerpunkten Türkei/Kurdistan, Geschichte der Arbeiterbewegung sowie deutsche Innenpolitik zurückblicken. Seit Januar 2007 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter der innenpolitischen Sprecherin der Linksfraktion im Deutschen Bundestag, Ulla Jelpke. Zudem ist er Vorsitzender des Hans-Litten-Archivs, engagiert sich im Kurdistan-Solidaritätskomitee Berlin und unternimmt regelmäßige politische Studienreisen in den Nahen Osten.

Am 9. Januar nahm der Schattenblick auf der 21. Rosa Luxemburg Konferenz in Berlin die Gelegenheit wahr, Nick Brauns einige Fragen zur aktuellen Lage in den Kurdengebieten, zum Pakt der Bundesregierung mit der Türkei, zur Kriegsbeteiligung der Bundeswehr in Syrien wie auch zur Haltung der deutschen Parteien und Öffentlichkeit gegenüber den Kurdinnen und Kurden zu stellen.


Stehend im Gespräch hinter einem Büchertisch - Foto: © 2016 by Schattenblick

Nick Brauns
Foto: © 2016 by Schattenblick


Schattenblick (SB): Nick, welche aktuellen Informationen hast du über die Kämpfe in den Kurdengebieten?

Nick Brauns (NB): Erst einmal tue ich mich schwer, von Kämpfen zu sprechen, weil es sich gegenwärtig um eine sehr einseitige Auseinandersetzung handelt. Wir erleben hier massive Angriffe der Armee, der Polizei, von Sonderpolizeieinheiten, auch von dschihadistischen Kräften auf seiten des Staates gegen die kurdische Zivilbevölkerung. Die Zivilbevölkerung verteidigt sich auch bewaffnet gegen diese Angriffe, aber ich möchte dennoch nicht von Kämpfen sprechen, weil das so klingt, als stünden sich zwei mehr oder minder ebenbürtige Partner - eine Guerilla gegen eine oder zwei Armeen - gegenüber. Wir erleben hingegen derzeit, daß mit Panzern und Artillerie, also mit Kriegswaffen, auf Wohngebiete geschossen wird. Wir erleben, daß Städte wie Cizre, Silopi oder die Altstadt von Diyarbakir seit mittlerweile über einen Monat von der Außenwelt abgeriegelt und dort 24stündige Ausgangssperren verhängt sind. Die Menschen können weder Nahrungsmittel noch ausreichend Trinkwasser holen, sie können keine Ärzte aufsuchen, zum Teil können sie nicht einmal die auf der Straße Erschossenen beerdigen, weil ständig von Scharfschützen in diese Viertel geschossen wird. Es sind keine Kämpfe, es ist systematischer Staatsterror des Erdogan-Regimes gegen kurdische Städte, die Hochburgen der HDP [2], also der linken prokurdischen Partei, sind. Es ist systematischer Terror gegen Städte, deren einziges Verbrechen in Anführungsstrichen es ist, daß sie eine kommunale Selbstverwaltung haben wollen, daß sie innerhalb dieser Städte ein auf Volksräte, auf Straßenräte, auf Stadtviertelräte gründendes Selbstverwaltungssystem aufgebaut haben.

Die Regierung zielt mit ihren Angriffen darauf ab, nicht nur die Moral der Bevölkerung zu brechen, nicht nur die Menschen so unter Druck zu setzen, daß sie sich vielleicht am Ende von der HDP oder der PKK abwenden, sondern es geht offensichtlich darum, die Menschen zu vertreiben und diese Stadtviertel unbewohnbar zu machen. In den letzten Monaten sind 200.000 oder mehr Kurdinnen und Kurden innerhalb der Türkei in die Flucht getrieben worden. Die Wirtschaft liegt in diesen Gebieten lahm, es sind kleine Familienunternehmen, kleine Handwerker, die 70, 80, 90 Prozent Verluste erlitten haben, viele Hunderte mußten bereits ihre Geschäfte schließen, das heißt, die ökonomische Struktur der Viertel wird grundlegend verändert. Wir haben in den 90er Jahren erlebt, daß die Armee systematisch die Dörfer vernichtet, verbrannt hat, um der Guerilla das sichere Hinterland zu entziehen. Die Menschen sind damals in die Städte geflohen. Heute geht es darum, diese Menschen, die damals in die Städte vertrieben wurden, jetzt weiter irgendwohin in die Westtürkei zu vertreiben und letztendlich die kurdischen Städte zu leeren, um der Befreiungsbewegung wie auch der HDP die Grundlage zu entziehen.

SB: Welche Möglichkeiten siehst du für die kurdische Bewegung und für die HDP, dem etwas entgegenzusetzen?

NB: Der Widerstand ist präsent und ungebrochen. Es ist der Armee und der Polizei bis heute nicht gelungen, in die selbstverwalteten Stadtviertel einzudringen. Ich war selber vor einigen Wochen in diesen Vierteln, als noch nicht in der heutigen Heftigkeit gekämpft wurde, und habe gesehen, wie überall Barrikaden errichtet und Gräben ausgehoben wurden, damit die Polizeifahrzeuge nicht in diese Stadtteile einfahren können. Ich habe gesehen, daß die gesamte Bevölkerung am Barrikadenbau beteiligt ist. Wenn es also heute heißt, die PKK baue dort Barrikaden, dann stimmt das nur insofern, als alle Menschen dort sagen, die PKK ist das Volk, und das Volk ist hier. Aber es kommen keine Guerillakämpfer in den Städten zum Einsatz, es ist wirklich die Bevölkerung selber, die zu ihrem eigenen Schutz diese Barrikaden errichtet hat. Ich habe gesehen, wie kleine Kinder Schubkarren mit Sandsäcken brachten, wie Frauen an den Barrikaden Wache standen. Dieser Widerstand hält bis heute an.

Es ist auch wichtig zu sehen, daß sich eine neue Widerstandsstruktur gebildet hat. Am Anfang war es eine Jugendorganisation, die Patriotisch-Revolutionäre Jugendbewegung, das ist die PKK-Jugend, die tatsächlich auch bewaffneten Widerstand geleistet hat. Vor einigen Tagen wurde vor allem in den kurdischen Städten entlang der Grenze zu Syrien, zu Rojava, wie Cizre, Nusaybin und Silopi eine Zivilverteidigungskraft gebildet. Diese Zivilverteidigung ist in die Räte eingebunden, also eine demokratisch viel besser zu kontrollierende Struktur, als es diese kurdische Jugend vorher war, wobei diese jetzt in die Zivilverteidigung integriert ist. Es sind also keine ganz neuen Leute, aber es wurde der Schritt von einer Parteibewegung, einer bewaffneten Parteitruppe, die Widerstand leistete, zu einer Volksmiliz vollzogen, die jetzt den Schutz dieser Stadtviertel in die eigene Hand genommen hat.

Wir müssen auch sehen, wo vorerst gerade nicht Widerstand geleistet wird. Die professionellen Guerillakämpfer haben zwar den Waffenstillstand nach der Wahl aufgekündigt, weil sie sagten, er ist gegenstandslos, da wir immer wieder angegriffen werden. Aber die Guerilla kämpft momentan so gut wie nicht. Sie verteidigt sich selbst, sagt aber ausdrücklich, wir halten uns hier erst einmal raus, weil sonst dieser Krieg noch weiter eskalieren würde. Sie droht indessen: Wenn ihr weiter mit Panzern auf Zivilisten schießt, dann werden wir auch professionelle Kräfte einsetzen, dann wird die Guerilla zum Einsatz kommen müssen. Aber das ist zum Glück bis jetzt noch nicht geschehen, denn dann würde es noch viel mehr Tote geben. Es würde wieder in der Westtürkei nationalistische Massendemonstrationen geben, es würden wieder HDP-Büros angegriffen. Die PKK läßt nach wie vor nichts unversucht, einen ethnischen Bürgerkrieg zu vermeiden.

Es ist, denke ich, auch falsch, wenn jetzt in deutschen Medien geschrieben steht, wir hätten es mit einem Bürgerkrieg in der Türkei zu tun. Wir haben es mit Staatsterror gegen die Zivilbevölkerung zu tun, wir haben es mit dem Krieg des türkischen Staates gegen die Kurden zu tun. Aber einen Krieg, in dem türkische Bürger gegen kurdische Bürger kämpfen, haben wir zum Glück momentan noch nicht. Die Gefahr ist aber sehr groß, daß bei anhaltenden Auseinandersetzungen am Ende die Guerilla zum Schutz der Bevölkerung eingreifen muß. Wenn weiter Panzer auf Wohngebiete schießen, dann liegt es sicher in der Verantwortung der kurdischen Bewegung der PKK, dem auch etwas Gleichwertiges entgegenzusetzen. Das hieße dann Einsatz gut ausgebildeter Guerillakämpfer, auch mit Panzerabwehrraketen, aber dann hätten wir einen großen Krieg, und es wäre außerordentlich schwer, eine Friedenslösung herbeizuführen.

Welche anderen Möglichkeiten des Widerstandes gibt es noch? Erst einmal müssen wir realisieren, daß in der Westtürkei momentan so gut wie gar nichts passiert. Was nach den Gezi-Park-Protesten vor zwei Jahren dort lebendig war, ist heute tot. Diese neue Generation linker, liberaler, libertärer Jugendlicher, die damals in diesen Massenprotesten von Millionen Menschen gegen Erdogan ihre Angst vor dem Staat verloren hat, ist nicht mehr vorhanden. Einige haben sich der HDP angeschlossen und sind organisiert, aber die anderen haben wieder Angst. Der Anschlag in Ankara auf die Friedensdemonstration im Oktober mit über 100 Toten, der Anschlag in Surutsch auf junge Sozialisten, die Massenverhaftungen, vor allem auch der neue AKP-Wahlsieg in Folge dieser Strategie der Spannung hat die Menschen wieder in eine Schockstarre versetzt. Es gibt fast keine Demonstrationen oder zumindest keine größeren Demonstrationen mehr. Es gibt natürlich Proteste. Aber die, die heute in der Westtürkei aus Solidarität mit den Kurden auf die Straße gehen, sind entweder die Kurden selbst, die dort leben, oder es sind die Mitglieder der kommunistischen Organisationen, die auf der Seite des kurdischen Kampfes stehen. Aber diese Zivilgesellschaft, die wir in den letzten Jahren hatten, ist erst einmal wieder weg von der Straße.

Das ist eine ganz gefährliche Entwicklung. Wir müssen auch sehen: Wenn heute die kurdischen Städte geschlagen werden sollten, wird es morgen Angriffe auf die Alewiten geben, und übermorgen wird der Erdogan-Staat mit denselben Mitteln auch gegen die sozialdemokratischen und die kemalistisch verwalteten Kommunen in der Westtürkei vorgehen. Das Problem ist, daß viele, auch die Kemalisten, immer auf den Staat schauen, sich von ihm Hilfe erwarten, aber der Staat ist jetzt in der Hand der anderen, nämlich der religiösen Nationalisten. Die Menschen auch in der Westtürkei, die Alewiten, die Sozialdemokraten, die Laizisten, müssen heute von den Kurden lernen, daß es zu der Situation kommen kann, wo auch die Menschen in Izmir vielleicht im übertragenen Sinne Barrikaden bauen müssen, um ihren Lebensstil gegen religiös-nationalistische Diktate aus Ankara zu verteidigen.

Ein weiterer Punkt erscheint mir wesentlich. In der Türkei sieht es so aus, als stehe die kurdische Bewegung mit dem Rücken an der Wand. Wenn wir jedoch den Nahen Osten insgesamt anschauen, können wir sagen, daß die kurdische Bewegung in ihren verschiedensten Spielarten - von der nationalistischen Spielart Barzanis im Irak bis zur Bewegung in Rojava - noch nie so anerkannt, noch nie so weit entwickelt war wie heute. Gerade die Kurdenbewegung in Rojava hat vielfältigste Partner oder diplomatische Kontakte entwickelt. Sie kann sich aussuchen, ob sie lieber mit Moskau oder Washington, oder, was natürlich das Geschickteste und momentan die Linie ist, zwischen Washington und Moskau hindurch ihre eigene Politik macht. Die USA wollen die Kurden als Partner gegen den IS, nicht als politischen Partner, das muß man ganz klar sagen. Rußland geht weiter und bietet der Bewegung in Rojava politische Unterstützung an. Während die USA die Kämpfe mit ihrer Luftwaffe unterstützen und auch mal Waffen abgeworfen haben, gibt es nach wie vor ein Einreiseverbot für den Vorsitzenden der PYD [3], also der kurdischen Partei in Rojava, in die USA. Das sagt schon viel aus, wie die USA politisch zu diesem radikaldemokratischen Modell in Rojava stehen. Rußland hat stattdessen angeboten, die Selbstverwaltung in Rojava solle doch eine diplomatische Vertretung in Moskau eröffnen. Und die Russen drängen auch sehr stark darauf, daß die Kurden ihren Platz bei Friedensverhandlungen für Syrien finden und dort mit einer eigenständigen Delegation vertreten sein sollen.

Das alles verschafft den Kurden eine Unterstützung, die sie in den letzten Jahrzehnten nicht gehabt haben. Insofern vermute ich, daß die PKK mit Blick auf die Lage in der Türkei darauf wartet, daß von außerhalb Unterstützung kommt - nicht in militärischer Form, aber daß der Druck auf Erdogan so stark wird, daß er am Ende gezwungen ist, die kurdische Realität zu akzeptieren. Wenn heute die YPG [4] und ihre arabischen, turkmenischen, assyrischen Partner Erfolge in Rojava haben, wenn dort der IS geschlagen wird, wenn dort die nach wie vor von der Türkei unterstützten Al-Kaida-Kräfte besiegt werden, dann ist das auch eine Form der Verteidigung der Kurden in der Türkei selber. Genauso gilt aber auch: Wenn heute in Cizre über den Barrikaden inzwischen die Fahnen der YPG und YPJ [5] wehen, dann zeigt das, daß hier das Beispiel Rojava anfängt Schule zu machen und die Menschen auch in der Türkei sich nach diesem Vorbild organisieren. Es ist alles miteinander verknüpft. So beschissen die Lage in der Türkei auf den ersten Blick aussieht, können wir doch durchaus optimistisch sein, wenn wir uns darüber hinaus die Entwicklung im ganzen Mittleren Osten anschauen.

SB: Wie würdest du die Position der Bundesregierung einschätzen, die nun in der Flüchtlingsfrage wieder einen Pakt mit der türkischen Regierung geschlossen hat?

NB: Verbrecherisch und dumm. Beides. Zum einen tritt die Bundesregierung ihre eigenen immer wieder propagierten Werte von Demokratie und Menschenrechten mit Füßen. Das ist natürlich sehr entlarvend und zeigt auch, daß Merkel nicht die Mutti ist, die sich hinstellt und sagt, wir schaffen es, und alle Flüchtlinge einlädt herzukommen. Das war nur eine Show nach außen, denn hintenrum läuft das genaue Gegenteil. Man holt ausgerechnet den Despoten Erdogan als Türsteher für die EU ins Boot, und dieser Pakt gegen Flüchtlinge wurde auch zu dem Preis geschlossen, daß die Bundesregierung und die gesamte EU zu den Verbrechen des Erdogan-Regimes wie dem neuen Krieg gegen die Kurden oder den Verhaftungen von Oppositionellen und Journalisten in der Westtürkei schweigen. Gerade eben hat die Bundesregierung auf eine kleine Anfrage der Abgeordneten Ulla Jelpke geantwortet, bei der es darum ging, was die Regierung über die Angriffe auf die kurdischen Städte weiß. Laut Bundesregierung ist die PKK dafür verantwortlich, weil sie den Krieg in die Städte getragen habe. Dagegen gebe es Terrorbekämpfungsmaßnahmen der Türkei, die zwar sehr hart ausfielen, aber schuld sei die PKK. Die Bundesregierung macht sich hier zu 100 Prozent die Sichtweise der türkischen Regierung zu eigen, was ausgesprochen dumm und kurzsichtig ist. Wollte man Erdogan ernsthaft einspannen, um Flüchtlinge zu stoppen, müßte doch offensichtlich sein, daß er mit seiner Politik bereits 200.000 neue Flüchtlinge im eigenen Land produziert hat und ständig weitere Flüchtlinge in Syrien schafft, indem er dort die terroristischen Banden unterstützt.

Die Bundesregierung wird langfristig mit dieser Politik auf der Verliererseite stehen. Die US-Regierung und die russische Regierung sind keine ehrlichen Freunde der Kurden, das muß man klar sagen, da diese Regierungen kapitalistische oder imperialistische Interessen verfolgen. Aber diese Regierungen sehen realistisch, welche Kräfte den dschihadistischen Terrorismus im Nahen Osten fördern und welche ihn bekämpfen. Die Bundesregierung will das anscheinend nach wie vor nicht sehen. Ich merke allerdings, daß selbst in deutschen Sicherheitsapparaten durchaus auch schon ein anderer Blick vorhanden ist. Nur ein Beispiel: Wir haben kürzlich auf einer Demonstration gegen das PKK-Verbot hier in Berlin in unseren Redebeiträgen deutlich gemacht, daß es unsere kurdischen Genossen sind, die gegen den IS kämpfen, während die Bündnispartner der Bundesregierung wie Erdogan und die Saudis genau diese terroristischen Kräfte finanzieren und bewaffnen. Am Ende der Demonstration kam ein Polizist zu mir und sagte, er wolle jetzt privat reden und sich bedanken, daß wir diese Demonstration gemacht haben, er würde das genauso sehen. Ich denke, die Bundesregierung wird auf Dauer diese engstirnige, dumme, kurzsichtige Sichtweise nicht aufrechterhalten können, da sie andernfalls irgendwann ihren gesamten Einfluß im Nahen Osten verlieren würde.

SB: Die Bundeswehr ist inzwischen am Krieg in Syrien beteiligt. Inwieweit richtet sich diese Beteiligung auch gegen die Kurden?

NB: Momentan richtet sie sich noch nicht gegen die Kurden, die, vielleicht nicht aus Sicht der Bundesregierung, aber immerhin aus Sicht der USA, die die Anti-IS-Allianz anführen, als Bodentruppen das Kanonenfutter abgeben sollen. Die Kurden sollen die Drecksarbeit gegen den IS machen, danach kann man sie immer noch fallen lassen - so ist da eher die Sichtweise. Aber das kann sich natürlich alles sehr schnell wieder ändern. Wir sehen nach wie vor, daß die US-Regierung und auch die Bundesregierung im Kampf gegen Assad auf nationalistische, auf dschihadistische Kräfte setzen, die alles andere als eine demokratische Agenda vertreten, auch wenn es sich nicht um den IS, aber eben die sogenannten gemäßigten Rebellen handelt. Mäßigung bedeutet in dem Fall lediglich, daß diese Rebellen momentan bereit sind, mit dem Westen zu kooperieren, aber es sind genauso terroristische Kräfte wie der IS. In diesem Zusammenhang spielt auch die Bundeswehr eine Rolle, und das kann nicht im Interesse der Kurden sein.

Würde es die Bundesregierung mit der Bekämpfung des IS ehrlich meinen, käme eine Entsendung von Tornados oder Awacs nicht in Frage, die dort überhaupt nicht erbeten wurden. Weder die syrische Regierung noch die Bewegung in Rojava hat gesagt, bitte schickt uns Tornados. Die Bundesregierung müßte zunächst einmal aufhören, diejenigen zu verfolgen, die wirklich gegen den IS kämpfen. Es ist eine zutiefst verlogene Politik, einerseits das PKK-Verbot aufrechtzuerhalten und andererseits ungefragt und auch noch völkerrechtswidrig Tornados nach Syrien zu schicken.

SB: Hat sich die Position in der Kurdenfrage bei den Parteien, die im Bundestag vertreten sind, in jüngerer Zeit verändert?

NB: Ich sage mal jein. Nachdem die PKK, die YPG und ihre Verbündeten vor anderthalb Jahren die Jesiden gerettet hatten, hat sich erstmals bei vielen, die sich vorher gar nicht mit der Frage beschäftigt haben, im Kopf etwas verändert. Plötzlich wurde deutlich, daß die PKK, also die bösen Kurden, wie man bis dahin immer sagte, etwas Gutes taten, daß sie Jesiden, Christen und andere gerettet haben. Wir hatten ein kurzes Zeitfenster, in dem selbst CDU-Abgeordnete über Waffenlieferungen an die PKK nachgedacht haben und in der deutschen liberalen Presse über ein Aufheben des Verbots diskutiert wurde. Aber als dann Erdogan wieder seine Strategie der Spannung begonnen hat, als er mit der Aufkündigung des Friedensprozesses und mit erneuten Luftangriffen auf die Kurden die PKK dazu gezwungen hat, sich bewaffnet zu wehren, Vergeltungsaktionen zu starten, kehrte sehr schnell der alte Reflex zurück zu sagen, das sind ja doch Terroristen. Die Grünen unterscheiden zwischen der HDP einerseits, die eine gute, linke, liberale Partei ist, in der auch die türkischen Grünen mitarbeiten und die man unterstützt - Cem Özdemir hat sich da sehr dahintergehängt -, und der bösen PKK andererseits, die weiter zu den Waffen greift und terroristisch handelt. Eine ähnliche Sichtweise findest du auch in den anderen Parteien - mit Ausnahme der Linken.

Positiv hat es sich vor allem in der Linken entwickelt, wo es bis vor eineinhalb Jahren noch erhebliche Vorurteile gegenüber der PKK bis hoch in die Spitze der Bundestagsfraktion gab. Es herrschte dort vor allem die Sorge: Wenn wir uns zu sehr für die Kurden oder die PKK einsetzen, dann stellt man uns in die terroristische Ecke, und das kostet uns Wählerstimmen. Seither haben sich jedoch auch Leute wie Gregor Gysi, die vorher eine gewisse Skepsis hatten, eindeutig positioniert, und inzwischen setzt sich Die Linke ganz klar für die Aufhebung des PKK-Verbots und für die Bewegung in Rojava ein. Da hat ein positiver Wandel stattgefunden, der bis heute andauert.

Was die anderen Parteien betrifft, muß man allerdings eines anmerken. Heute schweigen die Regierungsparteien CDU und SPD zu den Verbrechen, die Erdogan an der kurdischen Zivilbevölkerung begeht. Aber der Unterschied besteht darin, daß vor fünf Jahren in diesen Parteien ernsthaft geglaubt wurde, Erdogan sei der große Reformer, der sein Land zur Demokratie und vielleicht in die EU führt. Inzwischen wissen alle, daß Erdogan ein brutaler, machtgieriger Despot ist, worüber nur aus taktischen Gründen wegen des Teufelspaktes gegen Flüchtlinge in diesen Parteien geschwiegen wird. Es gibt dort jedoch keinerlei Illusionen mehr über angebliche demokratische Ziele oder Mittel der AKP oder Erdogans, und auch das ist sicherlich schon ein Fortschritt.

SB: Wie würdest du die Solidarität mit den Kurdinnen und Kurden in der deutschen Bevölkerung einschätzen?

NB: Noch lange nicht ausreichend. Im letzten Jahr hatten wir, vor allem ausgehend von der Schlacht um Kobane, plötzlich eine sehr breite Solidaritätsbewegung, breiter als wir sie jemals zuvor erlebt haben, auch breiter als in den 90er Jahren während des Krieges in Türkisch-Kurdistan. Viele identifizieren sich mit der Bewegung in Rojava und leisten dort vielfältige Solidarität - es gibt Kampagnen von Waffen für die YPG bis hin zu einer Schule oder einer Feuerwehr für Kobane, jetzt gibt es sogar eine Kampagne für ein Kino in Rojava. Diese Gruppen, die sich darauf stürzen, sind zu Recht der Meinung, daß dort eine wirklich demokratische Alternative, etwas Einzigartiges im Nahen Osten geschaffen wird. Ich vermisse jedoch viele dieser Kräfte, wenn es jetzt darum geht, gegen den neuen Krieg in der Türkei zu protestieren. Ich vermisse viele dieser Kräfte, wenn es darum geht, hier in Deutschland die Aufhebung des PKK-Verbots zu fordern. Da läuft zwar mehr als noch vor fünf oder zehn Jahren, aber immer noch viel zu wenig. Leider waren auch in Deutschland viele Menschen schockiert über das Wahlergebnis in der Türkei und fühlen sich nun machtlos. Wir hören tagtäglich von Angriffen auf Städte und weiteren toten Zivilisten in Kurdistan, und viele Menschen wissen einfach nicht, was sie jetzt tun können. Darum ist momentan leider eine gewisse Mutlosigkeit auch hier in Deutschland festzustellen.

Wir haben es jedoch nicht nur mit einer weiteren revolutionären oder demokratischen Bewegung zu tun, wie es sie vielerorts auf der Welt gibt und die alle Solidarität verdient. Wir haben es vielmehr mit einer Bevölkerungsgruppe zu tun, die auch in unserem Land präsent ist - es leben eine Million Kurden in Deutschland. Wir haben es hier mit einem Konflikt zu tun, in dem Deutschland eine ebenso wichtige wie negative Rolle spielt durch die enge militärische und politische Zusammenarbeit mit der Türkei, durch das PKK-Verbot, durch die Verwicklungen und das Eingreifen der Bundeswehr in den syrischen Krieg. Wir haben es bei der kurdischen Frage mit einer Schlüsselfrage des Nahen Ostens zu tun, an der sich auch entscheiden wird, in welche Richtung sich die dortige Politik zukünftig entwickelt: Werden wir dort weiter engstirnige Nationalisten, Militärdiktaturen, religiösen Fanatismus und Terrorismus haben oder wird es möglich sein, einen neuen Nahen Osten zu schaffen, in dem die Völker, die Ethnien, die Religionsgemeinschaften gleichberechtigt auf Augenhöhe gemeinsam und selbstverwaltet ohne das Eingreifen des Auslands, der EU, der NATO oder örtlicher Despoten ihr Schicksal in die eigene Hand nehmen? Darum geht es in diesem Konflikt, und darum sage ich, daß die Unterstützung der kurdischen Bewegung heute eine strategische Frage für die Linke und für Demokraten weltweit sein sollte.

Wenn ich von der "kurdischen Bewegung" spreche, ist das im Grunde unzutreffend. Diese Bewegung, die sich auf Abdullah Öcalan, auf die PKK oder auf Rojava bezieht, ist ja längst keine nationale Bewegung für ein unabhängiges Kurdistan mehr, sondern ein Motor der Demokratisierung im Nahen Osten, die auch Türken, Araber, Iraner, Turkmenen, Assyrer, Armenier und viele andere einbindet. Sie schafft für alle diese Gruppen und Glaubensgemeinschaften die Möglichkeit, Gleichberechtigung und ein sicheres, friedliches Zusammenleben zu finden. Deswegen spreche ich von einer ganz zentralen strategischen Aufgabe, und wenn wir das so sehen, dann ist hier die Solidarität noch viel zu unterentwickelt.

SB: Nick, vielen Dank für dieses ausführliche Gespräch.


Fußnoten:

[1] http://www.nikolaus-brauns.de

[2] HDP (Halklarin Demokratik Partisi) - Demokratische Partei der Völker

[3] PYD (Partiya Yekitiya Demokrat) - Partei der Demokratischen Union

[4] Die Volksverteidigungseinheiten YPG sind eine bewaffnete kurdische Miliz in Syrien und kontrollieren verschiedene mehrheitlich kurdisch besiedelte Gebiete in Nordsyrien sowie Teile vorwiegend kurdisch bewohnter Viertel in Aleppo.

[5] Die Kurdinnen in Nordsyrien verfügten über ihre eigenen Frauenverteidigungseinheiten (YPJ). Je nach Quelle haben die YPG zwischen 7000 und 10.000 Kämpferinnen gegen den IS eingesetzt.


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28. Januar 2016


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