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INTERVIEW/312: Die Zwischentürkei - taktische Spiele, strategische Ziele ...    Martin Link im Gespräch (SB)


Administrativ weggucken

Veranstaltung "Sicherer Drittstaat Türkei?" am 11. April 2016 in Kiel


Martin Link ist Geschäftsführer des Flüchtlingsrates Schleswig-Holstein e.V. [1], ein unabhängiger Verein verschiedener Initiativen, Gruppen und Organisationen der solidarischen Flüchtlingshilfe im nördlichsten Bundesland. Am Rande der Vortrags- und Diskussionsveranstaltung zur Frage "Sicherer Drittstaat Türkei?" [2] im Kieler Landeshaus beantwortete er dem Schattenblick einige Fragen zur Arbeit des Flüchtlingsrates und zu seiner Einschätzung der deutschen Flüchtlingspolitik.


Schattenblick (SB): Herr Link, was hat Sie dazu gebracht, diese Veranstaltung auszurichten?

Martin Link (ML): Zum einen leiden wir zur Zeit unter einer introvertierten innenpolitischen Diskussion bei den Flüchtlingsthemen. So haben wir feststellen müssen, daß man sich hier kaum mit den Hintergründen, die die Flüchtlinge mitbringen, beschäftigt. Selbst die zuständige Bundesverwaltung hält es nicht für wert, zeitnah Asylverfahren umzusetzen. Statt dessen befinden sich diese Menschen bis zu zwei Jahre und länger in einem Wartestand, ohne daß sich jemand für ihre Fluchtgründe interessiert, was sie dermaßen zermürbt, daß sie lieber freiwillig in den Krieg zurückgehen, um dann mit ihrer Familie zu sterben, als hier auf eine Familienzusammenführung zu warten, die allem Anschein nach doch nicht zustandekommt.

Das war eines der Szenarien, die uns umgetrieben und dazu geführt haben, mehr Aufmerksamkeit für die Situation in den Herkunftsländern der Flüchtlinge zu schaffen. Zum anderen gibt es noch einen lokalen Aspekt. Als Organisation feiern wir in diesem Jahr unser 25jähriges Bestehen. Aus diesem Anlaß wollten wir eine Veranstaltungsreihe schaffen, die sich von der rein administrativen Debatte weg mit den Flüchtlingen selbst auseinandersetzt. Zu diesem Zweck haben wir die Zusammenarbeit mit den politischen Stiftungen der verschiedenen Parteien angestrebt. Das war jetzt der Termin mit der Heinrich Böll Stiftung, aber auch mit den anderen politischen Stiftungen sind herkunftsländerorientierte Themenveranstaltungen in Vorbereitung. Anfang des Jahres haben wir mit Afghanistan angefangen und setzen die Reihe über das Jahr verteilt sukzessive fort.

SB: Wie ist die Situation der hier in Schleswig-Holstein untergebrachten Flüchtlinge?

ML: Die Flüchtlingssituation in Schleswig-Holstein ist relativ entspannt, zumal wir ein kleines Bundesland sind und nach dem Königsteiner Schlüssel nur eine geringe Anzahl an Flüchtlingen hierherkommt. Unsere Aufnahmekapazitäten sind längst nicht erreicht, das galt auch im vergangenen Jahr, als hier 55.000 Flüchtlinge registriert worden sind. Das bedeutet allerdings nicht, daß die 55.000 auch tatsächlich im Bundesland geblieben sind. Tatsächlich haben 43.000 einen Asylantrag gestellt und sind hiergeblieben. Auch daß im letzten Quartal 2015 ungefähr 150.000 Transitflüchtlinge durch Schleswig-Holstein nach Skandinavien weitergereist sind, hat keine negativen Spuren hinterlassen. Das heißt nicht, daß sie nur angekommen und auf die Fähre oder den Zug aufgesprungen sind. Zum Teil haben sie sich eine ganze Weile hier aufgehalten, und es hat eine rege Kooperation zwischen zivilgesellschaftlichen Organisationen, kommunalen Verwaltungen und Ordnungsbehörden gegeben, um den Transit der Flüchtlinge möglichst reibungslos geschehen zu lassen und damit den Freedom of Choice, den wir für Flüchtlinge regelmäßig einfordern, durchzusetzen, also daß die Flüchtlinge und nicht irgendwelche Behörden und Administrationen darüber entscheiden, wo sie leben wollen. Auf diese Weise konnte unsere Forderung im flüchtlingspolitisch sonnigen Herbst 2015 tatsächlich einmal Platz greifen.

SB: Müssen eigentlich in Skandinavien abgelehnte Flüchtlinge hier wieder aufgenommen werden?

ML: Ja, viele Flüchtlinge, die dort abgelehnt wurden, können gemäß der Dublin-Verordnung in das Land zurückgeschickt werden, aus dem sie nachweislich in die skandinavischen Länder eingereist waren. Sich auch dieser Menschen anzunehmen, ist eine dauernde Aufgabe für den Flüchtlingsrat und die hiesigen Initiativen und Unterstützungsorganisationen. Wir haben auch sehr viele Menschen, die zum Beispiel aus Norwegen flüchten, weil man dort Flüchtlinge in den Irak oder nach Afghanistan abschiebt, womit man hier erst jetzt anfangen will. Norwegen macht das schon sehr lange und schiebt auch in den Jemen ab, wo es bekanntermaßen genauso brennt wie in Syrien. Kirchenasyle auch in Schleswig-Holstein konnten jenen Flüchtlingen, deren Asylverfahren in Ländern wie Norwegen gescheitert und die dann von Abschiebung bedroht waren, vielfach zu einem Bleiberecht verhelfen.

SB: Gestern kam es in Köln und Hamburg zu Auseinandersetzungen zwischen türkischen Nationalisten und kurdischen sowie türkischen Linken. Ist der Konflikt in der Türkei auch deshalb für die Bundesrepublik so wichtig, weil wir hier starke migrantische Communities haben, in denen sich tatsächlich beide Lager abbilden, und kriegen Sie davon etwas in Kiel mit?

ML: Wir haben es hier relativ ruhig. Diese Konfliktlinien treten immer wieder auf, übrigens auch in den Flüchtlingsunterkünften. Das ist aber nichts Neues und hat es schon in den 90er Jahren gegeben, als die einzelnen Communities aus dem ehemaligen Jugoslawien auch vor dem Hintergrund ihrer politischen und zum Teil ethnischen Auseinandersetzungen hier aneinandergeraten sind. Oder man denke an die zahlreichen afrikanischen Flüchtlinge jener Jahre, die zum Teil auch verschiedenen Lagern angehörten und hier mit Schrecken feststellten, daß sie wieder mit Anhängern der Gegenseite konfrontiert wurden. Das hat natürlich zu Reibungen geführt. Es gehört allerdings zur Flüchtlingsaufnahme, daß man die Konflikte, die die Menschen aus ihrer Heimat treiben, immer ein Stück weit mit aufnimmt und sich kompetent macht, um solche Probleme gegebenenfalls auch zu managen, und zwar weit über das hinaus, was Ordnungsbehörden ansonsten im Sanktionenkatalog bereithalten, wenn sich Leute an die Gurgel gehen.

Im Zweifel ist das natürlich auch notwendig, aber im Grunde genommen ist Flüchtlingsaufnahmepolitik im gewissen Sinne auch Moderation. Wenn es gelingt, daß sich Flüchtlinge hier aufgenommen fühlen und einen dauerhaften bzw. vorübergehenden mittelfristigen Aufenthalt haben, werden sie auf jeden Fall aus dieser Zeit des Exils sowohl politisch als auch individuell gestärkt hervorgehen, falls sie später entweder aus eigener Überzeugung oder aus anderen Gründen wieder zurückgehen. Sie sind dann in einer ganz anderen Situation und können gegebenenfalls auch als Botschafter des Landes auftreten, in dem sie Exil und Schutz zugesprochen bekamen und möglicherweise auch Bildungspakete genießen konnten, um dann eine andere Perspektive und Zukunft für sich und ihre Familien zu entwickeln, wenn Bedingungen in ihrer Heimat herrschen, die eine Rückkehr möglich machen. Dies gilt natürlich immer nur, wenn das Land wieder befriedet ist oder die entsprechenden Verfolgungstatbestände dort nicht mehr grassieren.

Daher ist es notwendig, daß wir die Diskussion hier anders führen, als von Flüchtlingen auszugehen, die auf Dauer bei uns bleiben, und solchen, die keine Bleibeperspektive haben. Ein Umdenken ist schon deswegen nötig, weil Flüchtlinge nicht per se dauerhaft hier bleiben, sondern selber entscheiden, wo sie leben wollen. Das hat sehr viel damit zu tun, wie sie sich hier aufgenommen fühlen, und natürlich auch mit der Situation in ihren Heimatländern. Mitunter entscheiden sie sich auch für Communities in Drittländern aufgrund von familiären Verbindungen, die oft viel wichtiger sind als die politischen Rahmenbedingungen in den Gastländern. Wir müssen begreifen, daß Flüchtlingsaufnahme immer so etwas wie ein Durchlauferhitzer ist, wo Menschen zur Ruhe kommen und aufatmen können, um ihre mittelfristige Perspektive entweder über eine Weiterwanderung oder eine Rückkehr nochmals neu zu formatieren. Sich für eine solche Grundhaltung stark zu machen, gehört mit hinein in eine demokratische Flüchtlingsaufnahmepolitik und auch solidarische Flüchtlingshilfe.

In der augenblicklichen Diskussion, die massiv unter dem Druck der Straße steht, wird dies in der politischen Klasse scheinbar nicht als bedenkenswert angesehen. Statt dessen wird nach Schema F schwarz-weiß über den Löffel balbiert und aufgeteilt in diejenigen, die angeblich eine gute Bleibeperspektive besitzen, und solche, denen eine gute Bleibeperspektive nicht zugestanden werden soll.

SB: Als Bundeskanzlerin Angela Merkel betonte, daß wir das schaffen, und sich nicht auf die Nennung von Obergrenzen einlassen wollte, ging es wohl in einem gewissen Ausmaß auch darum, daß die Bundesrepublik als Führungsmacht der EU politische Gestaltungskraft reklamierte, wenn sie das Flüchtlingsproblem positiv und nicht restriktiv angeht. Jetzt hat sich das Ganze dahingehend verlagert, daß die EU-Außengrenzen dichtgemacht werden und man sich erleichtert zeigt, daß weniger Leute hier ankommen. Wie beurteilen Sie diese Politik auch in Hinsicht auf Ihre Arbeit?

ML: Nun, das ist eine Alibipolitik, die in der Flüchtlingspolitik immer schon angelegt war. Selbst die Schaffung des Asylgrundrechts war im wesentlichen dadurch motiviert, die Flüchtlinge aus kommunistischen Staaten hier aufzunehmen und damit im Grunde genommen die antikommunistische Strategie im Kalten Krieg auf eine Verfassungsgrundlage zu stellen. Damit hatte man natürlich nicht die Flüchtlinge im Blick, die bald danach zum Beispiel aus den faschistischen europäischen Regimen oder aus Lateinamerika ins Ausland getrieben worden sind. Entsprechend restriktiv war dann auch die Flüchtlingsaufnahmepolitik gegenüber diesen Flüchtlingen. Ebenso wurde eine Kriminalisierung von Fluchthilfe intensiv betrieben, wenn Flüchtlinge aus solchen Ländern kamen, hingegen wurden Fluchthelfer mit Orden behängt, wenn sie Flüchtlingen über den Eisernen Vorhang halfen. Diese Doppelmoral war schon immer gegeben und existiert auch heute in der flüchtlingspolitischen Debatte wieder.

Natürlich sind alle heilfroh, daß die sogenannte Balkanroute geschlossen wurde, und ebenso dankbar ist man im Grunde genommen dafür, daß das, was bei Dublin 2 und 3 schon angelegt war, nämlich die Ränder Europas, vor allem Griechenland, für die Flüchtlingsaufnahme verantwortlich zu machen, jetzt nochmal eskaliert werden konnte. Ich denke, das Flüchtlingsabkommen, das mit der Türkei durchgesprochen wird, könnte ein Präzedenzfall dafür werden, daß nicht mehr nur die Ränder Europas, sondern auch die europäischen Vorposten auf diesen Zweck verpflichtet werden. Außerdem verhandelt die EU noch mit den Herkunftsländern über Rücknahmeabkommen. Wir werden sehen, daß das in Marokko, Algerien und Tunesien die gleichen Ergebnisse zeitigen wird, nämlich daß auch dort Brückenköpfe geschaffen werden, die im wesentlichen die Funktion erfüllen, die Flüchtlinge außenvor zu lassen. Diese Art der Politik hat jahrelang auch in Libyen mit dem Gaddafi-Regime sehr gut funktioniert, nur daß sich Europa gegen die US-amerikanischen Avancen, dort einen Regime Change zu erzwingen, nicht durchsetzen konnte, und jetzt alle, nur die Amerikaner nicht, mit dem Debakel leben müssen.

SB: Es wurde ja angekündigt, daß mit Libyen eine Neuauflage dieses Paktes geschaffen werden soll.

ML: Ganz genau. Deswegen ist das, was wir mit der Türkei erleben, nichts Neues, sondern alter Wein in neuen Schläuchen, der jetzt noch weiter verteilt wird. Die flüchtlingspolitische Debatte hier ist selbstverständlich ganz scheinheilig. So war die Aufnahme im Herbst 2015 mit dem Kalkül versehen, daß sich die nach Deutschland kommenden Flüchtlinge zu großen Teilen im Transit bewegen, was ja auch stimmt. Daß 300.000 bis 400.000 Flüchtlinge, die in jenen Monaten nach Deutschland eingereist waren, jetzt nicht mehr auffindbar sind, ist nicht weiter verwunderlich, weil sie weitergewandert sind. Die Bundesregierung hatte damals angenommen, daß die Flüchtlingsbewegungen diffundieren und jeder europäische Staat so seinen Teil übernehmen wird. Zudem sollte eine brenzlige Situation entschärft werden, die möglicherweise in Ungarn dazu geführt hätte, daß Ordnungskräfte auf Flüchtlinge schießen. Man fürchtete in der Tat eine gewalttätige Eskalation und war daher bereit, das kleinere Übel in Kauf zu nehmen und die Flüchtlinge relativ unsortiert über Europa zu verteilen. Nur hat man sich damit verkalkuliert.

SB: Das Flüchtlingsabkommen mit der Türkei betrifft auch Griechenland. Im Sommer letzten Jahres befand sich die Tsipras-Regierung in einer wichtigen europapolitischen Position, und man konnte den Eindruck bekommen, daß man ihr mit der Flüchtlingsproblematik kein Druckmittel an die Hand geben wollte. Wie werten Sie es, daß Griechenland nun zu einer Art Außenlager der EU verkommt?

ML: Griechenland hat sich weder unter der alten noch unter der neuen Regierung jemals gut um die Flüchtlinge gekümmert. Die Illegalität von Flüchtlingen war geradezu ein Massenphänomen in Griechenland und ging so weit, daß selbst der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte gefordert hat, daß keine Dublin-Flüchtlinge mehr dorthin zurückgeschickt werden dürfen, weil sie weder einen Asylzugang, der nach europäischem Recht vorgeschrieben ist, noch eine soziale Versorgung haben, die zumutbar wäre und humanitären Gesichtspunkten genügt. Daß Griechenland eine sehr flüchtlingsunfreundliche Politik betreibt, ist kein Ergebnis der sogenannten griechischen Krise. Wir haben mit Interesse festgestellt, daß auch die Aufnahmepolitik und Flüchtlingshilfe, die sich auf den Inseln etabliert hat, in ganz großen Teilen bürgerschaftlich organisiert ist. Dort sind viele internationale und auch einheimische Leute tätig, die sich entsprechend engagieren - der Staat ist fern.

Daß der griechische Staat jetzt im Zuge des Türkei-EU-Abkommens, in dem vorgesehen ist, daß die Flüchtlinge in Griechenland registriert werden und in geschlossene Internierungslager kommen, aus denen sie dann wieder in die Türkei zurückgeschickt werden, verstärkt in die Flüchtlingsregulation eingebunden wird, ist eine Politik des Teilens und Herrschens, an der sich Griechenland beteiligt. Dem Abkommen zufolge definiert die Zahl der zurückgeschickten syrischen Flüchtlinge die Zahl jener Syrer, die von den europäischen Staaten sukzessive aufgenommen werden sollen. Das betrifft aber nicht jene Syrer, die vergeblich versucht haben, nach Europa zu kommen.

Wir bedauern schon seit vielen Jahren, daß Griechenland sehr restriktiv gegenüber Flüchtlingen agiert. Selbst als von der Schließung der Balkanroute noch nicht die Rede war und Flüchtlinge in dieser relativ kurzen Zeit weitgehend ungehindert über den Balkan wandern konnten, war es für sie lebensgefährlich gewesen, aus Griechenland weiterzureisen. Mitunter haben sich Flüchtlinge unter einen LKW geklemmt. Das Weiterziehen der Flüchtlinge ist zuweilen mit viel Gewalt unterbunden worden, vor allem, wenn Besuche von europäischen Staatsgästen in Athen angekündigt waren. Ansonsten hat man die Leute einfach sich selbst überlassen und zugesehen, wie sie ihr Überleben mit karitativer Hilfe und zivilgesellschaftlichen Unterstützungsangeboten fristen.

SB: Herr Link, vielen Dank für das Interview.


Fußnote:

[1] http://www.frsh.de/fluechtlingsrat/ueber-uns/

[2] BERICHT/234: Die Zwischentürkei - nicht sicher, nicht frei ... (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prbe0234.html

22. April 2016


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