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INTERVIEW/338: Quo vadis Lateinamerika - Krisen auf die Hörner nehmen ...    Prof. Dr. Detlef Nolte im Gespräch (SB)


Vertraute Dogmen auf den Prüfstand stellen

Interview am 15. Januar 2017 in Hamburg



D. Nolte in Großaufnahme - Foto: © 2017 by Schattenblick

Prof. Dr. Detlef Nolte
Foto: © 2017 by Schattenblick

Als einer der drei wichtigsten deutschen Thinktanks im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik gilt neben dem Deutschen Institut für Entwicklungspolitik (DIE) und der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) das GIGA German Institute of Global and Area Studies in Hamburg. Angesichts der weitverbreiteten Annahme, daß es nach dem Amtsantritt Trumps in möglicherweise gar nicht so ferner Zukunft zu gravierenden Verschiebungen des wirtschaftlichen wie politischen Gewichts verschiedener Weltregionen, aber auch einzelner Staaten kommen könnte, scheint die Expertise dieser Institute mehr denn je in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt zu sein.

Das verstärkte Interesse an Fragen, die die deutsche und europäische Außenpolitik und deshalb auch die Einschätzung vielleicht absehbarer, aber auch unerwarteter Veränderungen betreffen, wird nicht allein auf die allgemeine Unsicherheit darüber, wie der Kurs der neuen Administration in Washington einzuschätzen sein mag, zurückzuführen sein, reichen doch die aktuellen Konfliktfelder wesentlich weiter zurück und berühren Grundsatzfragen des politischen wie ökonomischen Verständnisses der Beziehungen westlicher Staaten zu den Regionen der ehemals Peripherie genannten Entwicklungs- bzw. Schwellenländer.

Das GIGA Forum wandte sich mit der ersten Diskussionsveranstaltung des neuen Jahres, die in Kooperation mit der Grupo de Cónsules Latinoamericanos y del Caribe (GRULAC) sowie dem Instituto Cervantes am 15. Februar realisiert wurde, einem hochaktuellen Thema zu: "Ende des Rohstoffbooms und Wahl von Trump: Lateinamerika und die Karibik am Wendepunkt". [1]

Prof. Dr. Detlef Nolte, Direktor des GIGA Instituts für Lateinamerika-Studien, moderierte die Diskussionsveranstaltung und führte in das Thema ein. Aus Berlin waren mit Dr. Svenja Blanke, der Leiterin des Referats Lateinamerika und Karibik der Friedrich-Ebert-Stiftung, und Markus Rosenberger, dem Teamleiter Lateinamerika der Konrad-Adenauer-Stiftung, Repräsentanten dieser in der Lateinamerika-Politik stark engagierten deutschen Stiftungen angereist, um an dem Podiumsgespräch teilzunehmen. Als Vertreterin der in Hamburg ansässigen EU-Lateinamerika/Karibik-Stiftung, kurz EU-LAC-Foundation, war deren Direktorin Paola Amadei gekommen, als Repräsentant des Lateinamerika Vereins, der sich um die Wirtschaftsbeziehungen zwischen Deutschland und den Staaten Lateinamerikas und der Karibik bemüht, der Hauptgeschäftsführer Christoph G. Schmitt.

Nach rund eineinhalbstündiger Gesprächsveranstaltung mit Redebeiträgen und Diskussionen auf dem Podium bis hin zu Fragen, die seitens der Teilnehmenden an die Diskutanten gestellt werden konnten, fand sich Prof. Dr. Detlef Nolte bereit, im Gespräch mit dem Schattenblick einige der angesprochenen Aspekte zu vertiefen.


Die Genannten nebeneinander auf Stühlen sitzend - Foto: © 2017 by Schattenblick

Die Podiumsrunde mit Markus Rosenberger, Dr. Svenja Blanke, Prof. Dr. Detlef Nolte, Paola Amadei und Christoph G. Schmitt (v.l.n.r.)
Foto: © 2017 by Schattenblick


Schattenblick (SB): Wir haben auf der Veranstaltung unter anderem gehört, daß die Antworten, die zur Krise in Lateinamerika aus europäischer Sicht gegeben werden, vielfach dieselben sind wie schon vor 20 Jahren, nämlich Wertschöpfungsketten und Wertschöpfungsketten. Auf einen kurzen Nenner gebracht ist damit gemeint: Warum macht ihr das nicht so, wie wir es gemacht haben? Zu der Frage, warum das nicht passiert, wurden vorhin verschiedene Ideen vorgebracht von den Genen bis zum Protektionismus, aber die Kernfrage scheint mir nicht ganz beantwortet zu sein.

Detlef Nolte (DN): Ich glaube, daß hat mit dem in Anführungszeichen "leichten Geld" zu tun. Wenn man in der Boomphase Rohstoffe sehr günstig exportieren kann und damit sehr viel Geld einnimmt, denkt man nicht groß an Diversifizierung. Selbst in Venezuela, wo ja viele Faktoren zusammenspielen, warum es dem Land jetzt schlecht geht, vom Verfall des Erdölpreises bis hin zur Mißwirtschaft, hat man in den guten Zeiten unter Chávez nicht versucht, eine eigene Industrie aufzubauen, obwohl man vielleicht das Geld dafür gehabt hätte. Meiner Meinung nach ist das das alte Problem: Wenn in Zeiten des Booms das "leichte Geld" fließt, denkt man nicht dran, was man damit noch machen könnte, dann lebt man den Boom aus.

Es ist ja auch nicht so, daß das Geld in dieser Boomphase nicht auch unten angekommen wäre, da würde ich ein bißchen dem widersprechen, was da so gesagt wurde. Auch die Einkommen der breiten Bevölkerungsteile sind gestiegen, der Staat hat ja in der Boomphase der Rohstoffexporte Geld abgeschöpft. Wenn man sich Brasilien oder die ALBA-Länder Bolivien oder Ecuador anschaut, hat insofern schon eine gewisse Verbesserung des Lebensstandards der Bevölkerung stattgefunden. Die Frage ist doch, was passiert jetzt, nachdem die Boomphase vorbei ist und wir wieder eine stagnierende Wirtschaft haben, in der die Armut nicht weiter zurückgeht? Aber wie gesagt, zehn Jahre lang ging es allen in Lateinamerika besser, die Armut ist zurückgegangen, die Mittelschicht gewachsen.

SB: Es war vorhin viel von Europa die Rede - wir hier in Europa und dann eben Lateinamerika. Mir hat ein bißchen die Frage gefehlt, von welchen Interessen dabei eigentlich ausgegangen wird. Wer ist gemeint, wenn im Zusammenhang mit Europa von einem "wir" die Rede ist?

DN: Das ist ein bißchen schwierig. Europa ist zunächst einmal die EU. Es gibt eine offizielle EU-Politik gegenüber Lateinamerika, die Projektlinien und EU-Gelder für Lateinamerika umfaßt. Das ist sozusagen die "große" Europapolitik. Dann gibt es noch die nationalen Politiken der einzelnen Regierungen, die durchaus auch einmal variieren können. Die jeweiligen europäischen Länder versuchen natürlich, die eigene Wirtschaft und Industrie zu fördern im Rahmen dessen, was die EU zuläßt. Europa ist insofern schon ein bißchen heterogen. Einerseits sind das die großen EU-Programme, die man mit Lateinamerika vereinbart hat, für Wissenschaftler, Studierende und die verschiedenen Industriesektoren, andererseits die nationalen Politiken, die die eigene Wirtschaft zu begünstigen suchen.

SB: Heute wurden auch die Freihandelsabkommen thematisiert, da gab es sehr wohl kritische Töne. Wie sind denn diese Abkommen genau beschaffen? An den Freihandelsabkommen, die zwischen der EU und Afrika geschlossen wurden, den sogenannten EPAs [2], wird ja kritisiert, daß sie sehr tief in die gesellschaftlichen Strukturen der afrikanischen Länder eingreifen. Gibt es gegenüber Lateinamerika ähnliche Auflagen oder Vorgaben von europäischer Seite?

DN: Da bin ich jetzt im Detail nicht so informiert. Insgesamt habe ich in dem Zusammenhang von lateinamerikanischer Seite nicht viel Kritik gehört. Ganz allgemein war es eigentlich eher so, daß als Folge der Abkommen der Handelsaustausch in beide Richtungen gewachsen ist. Das zeigt sich auch daran, daß ganz unterschiedliche Staaten wie Ecuador, die eigentlich eine linke Regierung haben, bis hin zu Ländern wie Chile, die eher eine liberale Wirtschaftspolitik betreiben, mittlerweile ein Freihandelsabkommen mit der EU abgeschlossen haben. Außerdem umfaßt die Kooperation mit der EU, worauf sie ja großen Wert legt, immer mehr als nur den Handel. Insofern sind meiner Meinung nach die Handelsabkommen der EU mit lateinamerikanischen Staaten nicht vergleichbar mit dem nordamerikanischen Freihandelsabkommen, das sehr eng auf den Handel beschränkt ist. Das zeichnet die EU ja aus, daß da ein ganzes Paket angeboten wird vom politischen Dialog bis hin zum Austausch im Wissenschaftsbereich wie auch zwischen den Zivilgesellschaften.

SB: Meine Frage zielte auch auf die Interessen der EU-Staaten ab. Beispielsweise hatte Bolivien 2009 angekündigt, die Lithiumreserven, die als die größten weltweit gelten, nicht als Rohstoff zu verkaufen, sondern selber zu verarbeiten. Wie stehen europäische Regierungen oder auch Konzerne zu solchen Projekten?

DN: Ich denke, das hängt letztlich von den Regierungen der lateinamerikanischen Staaten ab. Solche Ankündigungen hat es schon häufiger gegeben. Aber die Frage, die wir auch vorhin schon debattiert haben, ist doch, warum beispielsweise Chile seinen Rohkupfer und nicht irgendwie Kupferdrähte und weitere Produkte exportiert? Ich glaube, da können die westlichen Regierungen wenig machen, das muß aus den Ländern selber kommen. Da muß es Unternehmergruppen geben, die das übernehmen, der Staat kann vielleicht ein bißchen fördernd eingreifen.

SB: Eine Förderung seitens der EU gibt es für solche Projekte Ihres Wissens nach nicht?

DN: Das wäre wohl auch ein bißchen schwierig, denn theoretisch müßte das ja dann ein Staatsunternehmen sein. Der bolivianische Staat könnte ein Staatsunternehmen gründen so wie im Erdölsektor, das dann Lithium fördert, doch wahrscheinlich braucht Bolivien die EU dafür nicht. Das einzige, was sie machen müßten, wäre, sich irgendwie das Know-how einzukaufen. Letztlich, glaube ich, kann man die lateinamerikanischen Regierungen nicht aus der Schuld entlassen. Die EU macht vielleicht viele Fehler und trifft auch negative Entscheidungen. Aber bei der Frage, ob die Rohstoffe selbst in effizienter Weise ausgebeutet werden - wir haben in der Vergangenheit gesehen, wie Bergwerke oder auch die Erdölförderung verstaatlicht wurden, teilweise erfolgreich, teilweise weniger erfolgreich -, haben die nationalen Regierungen durchaus einen Spielraum.

SB: Irre ich mich oder gibt es eine Empfehlung von Ihnen an die Regierungen Lateinamerikas, sie müßten Haushaltskonsolidierungen durchführen und auch harte Schnitte durchsetzen?

DN: Nein, das habe ich nicht gesagt. Aber das wird ja so gemacht. In einer wirtschaftlichen Krise ist es eine ganz normale Reaktion, daß da solche Einschnitte gemacht werden.

SB: Insofern würden Sie also nicht das Austeritätskonzept vertreten?

DN: Nein. Ich würde eher sagen, daß man aus den Fehlern der Vergangenheit lernen muß. Als man damals, in den 1990er Jahren, diese wirtschaftlichen Anpassungspolitiken - harte Haushaltsschnitte, gekürzte Sozial- und Bildungsausgaben - gemacht hat, war das meiner Meinung nach nicht die richtige Lösung. Das hat langfristig eigentlich mehr Probleme geschaffen, als man im Moment gelöst hat.


Prof. Nolte und SB-Redakteur während des Interviews - Foto: © 2017 by Schattenblick

Ins Gespräch vertieft - Prof. Nolte mit SB-Redakteur
Foto: © 2017 by Schattenblick

SB: In Venezuela gibt es inzwischen nach den unbestreitbaren sozialen Erfolgen der Regierung Chávez eine starke Krise. Was glauben Sie, was die Regierung Maduro gerade jetzt angesichts einer möglicherweise zu erwartenden Offensive seitens der USA machen könnte?

DN: Ich glaube, daß die Situation in Venezuela mittlerweile sehr festgefahren ist. Klar, einerseits ist das eine Wirtschaft, die total vom Erdöl abhängig ist, und wenn der Erdölpreis dann niedrig ist, floriert die Wirtschaft nicht mehr. Es gibt ja keinerlei nationale Industrie. Da könnte man sich die Frage stellen, warum Venezuela unter Chávez in der goldenen Zeit nicht eine eigene nationale Industrie aufgebaut hat. Heute sagen selbst Leute, denen Venezuela sympathisch ist: Klar, der Hauptgrund, warum es dem Land schlecht geht, ist der niedrige Erdölpreis, aber dann kommen auch noch Mißwirtschaft und Korruption dazu. Ich glaube, es ist kein Zufall, daß Venezuela in diversen Korruptionenindizes relativ weit hinten steht. Das hat meiner Ansicht nach ein bißchen etwas damit zu tun, daß die Macht sehr hoch konzentriert ist. Das kennen wir aus anderen Ländern: Wenn Macht nicht kontrolliert wird, dann wird auch Bereicherung nicht kontrolliert. Ich denke, alle Menschen, ob links oder rechts, sind für so etwas anfällig, und wenn dann die Kontrollmechanismen nicht funktionieren...

Wie Venezuela aus der Krise herauskommen kann, sehe ich eigentlich nicht. Ich würde sagen, Venezuela wird auf lange Zeit ein Sanierungsfall in Lateinamerika werden, weil der Erdölpreis nie mehr so hoch gehen wird, wie er einmal gewesen ist mit über 100 Dollar pro Barrel. Hinzu kommt, daß in den USA unter Trump das Fracking wieder ausgebaut wird, das drückt den Erdölpreis noch weiter runter. Selbst wenn in Venezuela die Regierung abgelöst wird, würde auch die Opposition das Land wahrscheinlich nicht so schnell auf einen anderen Pfad bekommen.

SB: Es gibt ja, was den Extraktivismus betrifft, unterschiedliche Konzepte - den klassischen, wenn man so will, und den Neo-Extraktivismus. Wie würden Sie den Unterschied erklären und welche Lesart würden Sie bevorzugen?

DN: Ich würde das gar nicht mit diesen großen Begriffen benennen wollen. Nehmen wir als Beispiel Ecuador, wo man auf diesen Extraktivismus ein bißchen mit einem schlechten Gewissen setzt. Es wird gesagt, wir brauchen das Geld, das wir quasi aus den Rohstoffen rausholen, für soziale Dinge und um das Land weiterzuentwickeln. Wenn man sich die Länder anschaut, würde ich da schon Unterschiede machen. Ich würde sagen, in Bolivien und Ecuador hat sich trotz aller Probleme in den letzten zehn Jahren etliches geändert, wenn man sich die sozialen Indikatoren anguckt, was die Armut betrifft und so weiter. Während in Venezuela, das muß man so hart sagen, neben dem Verfall des Ölpreises auch noch eine Menge Mißwirtschaft und schlechtes Management dazukommt. Das ist leider so. Ich würde mich immer dagegen verwahren, Bolivien, Ecuador und Venezuela in den gleichen Topf zu werfen. Meiner Einschätzung nach wird in Bolivien selbst dann, wenn Evo Morales nicht mehr antritt, vieles bestehen bleiben, und ich vermute, daß sich auch jetzt in Ecuador ohne Correa [3] nicht so viel verändern wird, während in Venezuela doch sehr viel von Chávez abhängig war. Ich glaube, bei der Nachwahl seines Nachfolgers lag er nicht so ganz günstig, das muß man im nachhinein schon so sagen.

SB: In den 1970er Jahren gab es, was Lateinamerika betrifft, sozusagen einen Klassiker auch hier in der westdeutschen Linken: "Die offenen Adern Lateinamerikas" des uruguayischen Schriftstellers Eduardo Galeano, der sich kurz vor seinem Tod von diesem Buch distanziert haben soll.

DN: Davon habe ich noch nichts gehört.

SB: Er soll gesagt haben, daß er den Schreibstil einer traditionellen marxistischen Linken heute körperlich nicht mehr aushalten könne, dieses Buch sei der Versuch eines jungen Mannes gewesen, politische Ökonomie zu erklären. [4]

DN: Er war ja auch nie ein Historiker, sondern ein Literat und hat das gewissermaßen literarisch verarbeitet, das ist ein bißchen das Problem mit den "offenen Adern Lateinamerikas". Das liest sich sehr schön, ist aber letztlich eher ein literarisches als ein hartes, wissenschaftliches Werk.

SB: Ich wollte ein bißchen auf die Dependenz-Theorie aus jener Zeit zu sprechen kommen, für die Galeano als Repräsentant galt. Da wurde gesagt, daß es keine Entwicklung der lateinamerikanischen Staaten geben könne, solange sie von den Staaten der Ersten Welt ökonomisch ausgebeutet werden. Können Sie solchen Ansätzen heute noch irgendeine Relevanz zusprechen?

DN: Ich glaube, die Dependenz-Theorie wird durch den Erfolg verschiedener asiatischer Länder in Frage gestellt. Wenn wir uns beispielsweise das Jahr 1960 ansehen, da hätte Argentinien wahrscheinlich noch das doppelte Sozialprodukt im Vergleich zu Südkorea gehabt; selbst Japan hatte in der Nachkriegszeit, glaube ich, nicht unbedingt ein höheres Sozialprodukt. Und wenn man dann sieht, was aus vielen Ländern in Asien geworden ist, die es ja teilweise geschafft haben, Hightech-Produkte zu entwickeln wie beispielsweise Südkorea mit dem Automobilhersteller Samsung, so zeigt das doch, daß es Wege aus der Unterentwicklung zu geben scheint. Und es war ja auch nicht so, daß diese Staaten nur dem freien Markt nachgehangen hätten. Die haben eine protektionistische Politik betrieben, aber eine eigene Industrie aufgebaut. Das ist, glaube ich, der große Unterschied zu Lateinamerika. Die haben auch Zollschranken errichtet, um eine geschützte Industrie aufzubauen, aber sie haben nicht den nächsten Schritt getan, damit dann auch auf den Weltmarkt zu gehen. Ich glaube, das ist das große Scheitern Lateinamerikas, was die wahrscheinlich auch hätten schaffen können, und insofern stellt Asien so ein bißchen die Dependenz-Theorie in Frage.

SB: Könnten da nicht auch die internen Strukturen Lateinamerikas von Belang sein? Staaten wie Ecuador sind ja auch Gesellschaften mit unterschiedlichen Schichten und wahrscheinlich auch Klassen. Spielt es da eine Rolle, daß es auch in Lateinamerika eine gewisse Oberschicht gab und immer noch gibt, die bestimmte Entwicklungen verhindert?

DN: Ja, sicherlich. Um in einer Gesellschaft eine kapitalistische Erneuerung oder Modernisierung zu bewirken, braucht man letztlich auch eine Kapitalistenklasse, die irgendwie nach diesen Kategorien agiert. Das hat man in vielen lateinamerikanischen Ländern lange nicht gehabt, da gab es eher eine Spekulationsklasse. Ganz früher war es in Lateinamerika so, daß man aus Statusgründen eher auf Landbesitz gesetzt und weniger in produktive Bereiche investiert hat. Später hat man halt das schnelle Geld verdient, und wenn ein Unternehmen dann erfolgreich war, wurde es eben verkauft. Das war sicherlich ein großes Manko, aber es gab auch Fortschritte.

Das interessanteste Beispiel ist für mich Chile, was ich immer noch sehr faszinierend finde. Da gab es Landreformen unter Frei [5] und Allende. Dann kam Pinochet, der alles irgendwie in Frage gestellt hat, die Landreform aber hat er nicht rückgängig gemacht. Stattdessen hat er die enteigneten Güter auf dem freien Markt verkauft, wodurch in Chile letztlich so etwas wie eine Unternehmerklasse auf dem Land entstanden ist. Daß wir heute hier in Deutschland im Supermarkt chilenische Trauben und Äpfel kaufen können und einen guten chilenischen Wein, wäre meiner Meinung nach ohne die Landreform nicht möglich gewesen. Das ist eine sonderbare Dialektik, würde ich sagen. Die Landreform Allendes und die kapitalistische Erneuerung unter Pinochet haben eine neue Klasse geschaffen. Insofern gibt es durchaus Beispiele, daß da Veränderungen möglich sind.

SB: Nun galt ja gerade auch die Zeit nach dem Putsch in Chile als Modell, um das, was man ein neoliberales Konzept nennen könnte, einmal in der Praxis ausprobieren zu können.

DN: Ich glaube, da werden häufig Schlagworte benutzt. Mit Chile kenne ich mich ein bißchen besser aus, mit dem Land habe ich mich lange Zeit beschäftigt. Klar gab es diese neoliberalen Reformen, aber die sind ja auch in Chile gescheitert. Sehen Sie sich das Jahr 1981/82 an, da hatten wir dort eine Bankenkrise. Der Staat hat letztlich die Banken verstaatlicht, weil sie pleite waren. In dem Moment wurde das Modell leicht modifiziert. Der chilenische Agrarsektor zum Beispiel - das weiß man hier oft nicht - ist ähnlich wie der in der EU geschützt. Bei landwirtschaftlichen Im- und Exporten ist das kein freier Markt. In Chile wurde auch der Kupferbergbau nie privatisiert, auch unter Pinochet nicht, weil auch die Militärs Geld daraus gezogen haben. Aber wie gesagt, im Agrarsektor hat man eine kapitalistische Erneuerung hinbekommen. Da gab es natürlich auch Schattenseiten wie den Abbau von Sozialrechten und Verarmung. Die demokratischen Regierungen nach Pinochet haben dann gewissermaßen als Klempner des Kapitalismus gearbeitet und versucht, die Dinge so ein bißchen zu verändern.

SB: Im vergangenen Jahr gab es eine Konferenz der Arbeitsgemeinschaft Deutscher Lateinamerikaforschung, in der Sie von 2010 bis 2016 Präsident waren. [6] Das Thema, Gewalt und Ungleichheit in Lateinamerika, ist immer noch sehr wichtig. Können Sie den Diskussionsverlauf vielleicht kurz skizzieren?

DN: Das ist lange her, aber ich würde sagen, daß es einen deutlichen Zusammenhang zwischen Ungleichheit und Gewalt gibt. Die starken sozialen Gegensätze und die Verarmung ganzer Gesellschaftsschichten führen natürlich dazu, daß sogenannte illegale Akteure wie Drogenhändler, über die wir vorhin in der Veranstaltung schon gesprochen haben, dann auch leichter ein Rekrutierungsfeld finden. Man kann auch sehen, daß wir in Ländern, in denen die Einkommensverteilung insgesamt nicht ganz so kraß und der gesellschaftliche Reichtum etwas größer ist - Chile wäre ein Beispiel oder teilweise auch Argentinien -, niedrigere Gewaltraten haben im Vergleich beispielsweise zu vielen Ländern Zentralamerikas, in denen wir das Problem hoher Mordraten haben. Ich denke auch, daß der Bürgerkrieg in Kolumbien nur deshalb so lange gedauert hat, weil es aufgrund der sozialen Gegensätze immer wieder genügend Nachschub für die Kämpfer der Guerilla gab, die gegen diese Zustände mit Gewalt rebellieren wollten.

SB: Glauben Sie denn, daß das Friedensabkommen zwischen der FARC und der Regierung Santos halten wird, was es verspricht? Es mehren sich Meldungen darüber, daß es von paramilitärischen Gruppen verstärkt zu Morden und anderen Gewalttaten gekommen sei.

DN: Ich würde gerne optimistischer sein. Aber wenn man sich die kolumbianische Geschichte der letzten 100 Jahre ansieht... Ich glaube, daß es da mehrere Probleme gibt. Einerseits die Frage, was passiert mit den demobilisierten Guerillakämpfern? Finden die Arbeit, und wenn nicht, was machen sie dann? Sie haben ja nichts anderes gelernt, als mit der Waffe umzugehen. Besteht da nicht die Gefahr, daß sie wie damals die Paramilitärs, als die demobilisiert wurden, direkt in illegale Geschäfte und Gruppen abwandern? Das ist das eine, und dann gibt es natürlich auch sehr starke Gruppen in der Gesellschaft, denen der ganze Friedensprozeß überhaupt nicht paßt, und die ihn - das hat man ja gesehen - dann teilweise auch mit paramilitärischen, staatlichen oder auch politischen Akteuren zu sabotieren versuchen, indem eben auch Aktivisten umgebracht werden. Ich glaube, das Friedensabkommen zu unterschreiben, war noch das Leichteste, es umzusetzen, ist die große Herausforderung.

SB: An Rohstoffen scheint es auch hier in der Bundesrepublik ein starkes strategisches Interesse zu geben. Im Weißbuch von 2006 war schon davon die Rede, daß die Bundeswehr als Interventionsarmee weltweit zur Sicherung der Rohstoff- und Absatzmärkte einsetzbar sein sollte. Muß das nicht in den Ohren der Menschen, die in Ländern leben, die zu solchen "Märkten" erklärt werden, bedrohlich klingen?

DN: Wenn ich mir die Einsatzfähigkeit der Bundeswehr so ansehe, habe ich wenig Angst, daß da so etwas wie "Frieden schaffen mit Waffen" bei herauskommen könnte. Ich glaube, daß die Idee, eine Interventionsfähigkeit auf große Distanz zu schaffen, ein bißchen illusorisch ist. Das haben wir jetzt ja gesehen, als Frau von der Leyen mit dem neuen Transportflugzeug nach Litauen geflogen ist und mit einer anderen Maschine zurückkehren mußte. Für Lateinamerika spielt das, glaube ich, eine relativ geringe Rolle. Da gibt es kein militärisches Engagement der Bundeswehr und wird es auch nicht geben. Wenn heute Interventionen stattfinden, dann eher im Grenzbereich afrikanischer Staaten, wo es letztlich um den Kampf gegen terroristische Gruppen geht, in dem auch die Bundeswehr eingesetzt wird.

Den Zugang zu Rohstoffen militärisch sichern zu müssen, ist meiner Meinung nach ein etwas veraltetes Bild. Die internationalen Rohstoffmärkte sind in den meisten Bereichen so diversifiziert, daß wenn man die Rohstoffe auch kaufen kann, die gehandelt werden. Auch den Kampf um Absatzmärkte kann man, glaube ich, nicht militärisch entscheiden. Deutschland ist auch ohne Militär als Exportnation sehr erfolgreich, insofern finde ich die Vorstellung, daß die Bundeswehr jetzt unsere wirtschaftlichen Interessen im Ausland schützen müßte, ein bißchen überzogen. Ganz abgesehen davon, daß man die Frage stellen könnte, inwieweit die Bundeswehr überhaupt für Auslandseinsätze taugt.

SB: Wenn ich das richtig erinnere, hat der frühere venezolanische Präsident Hugo Chávez versucht, zum Thema Süd-Süd-Kooperation ein bißchen was auf die Beine zu stellen. Könnte es Ihrer Einschätzung nach direkte wirtschaftliche Kooperationen beispielsweise zwischen lateinamerikanischen und asiatischen Staaten geben?

DN: Das Problem ist natürlich, was wir ja heute auch gehört haben, daß wir, wenn wir über Asien sprechen, zunächst einmal über China reden - dann erst kommen die anderen Länder -, und daß mit China eigentlich das gleiche Abhängigkeitsverhältnis reproduziert wird. Wenn man sich die Handelsstatistiken Chinas ansieht, sind die wie in Europa. Die Chinesen exportieren Produkte aus dem Industriesektor und importieren Rohstoffe genauso, wie wir das in Europa machen. Insofern ist das auch ein sehr ungleiches Verhältnis. Außerdem sind die Chinesen auch Konkurrenten für die noch relativ schwachen Industrien in einigen lateinamerikanischen Ländern.

Viele Aspekte der Globalisierung werden ja zu Recht kritisiert, aber vielleicht birgt sie auch einige Vorteile. Was man jetzt häufiger sieht, ist, daß mittlerweile auch kleinere Länder die Möglichkeit haben, sich Handelspartner in anderen Regionen zu suchen - wenn jetzt beispielsweise Chile ein Freihandelsabkommen mit Südkorea abschließt oder Peru vielleicht mit Thailand. Das könnte so eine Art Süd-Süd-Kooperation sein, so daß der Handel eben nicht nur zwischen den Peripherien, also den kleinen Ländern, und den großen Handelsnationen stattfindet, sondern daß zwischen den unterschiedlichen Weltregionen auch die kleineren und mittleren Länder Handelsbeziehungen zueinander aufbauen.

SB: Nun scheint der Freihandel durch Trump so ein bißchen in Frage gestellt zu sein. Wenn von Protektionismus versus Freihandel die Rede ist, könnte man dann nicht auch fragen, ob es sich dabei um zwei Spielarten eigentlich desselben wirtschaftlichen Grundverhältnisses handelt?

DN: Na, da würde ich schon einen Unterschied machen. Die Grundidee beim Freihandel ist ja - auch wenn wir wissen, daß das in der Praxis nicht immer so funktioniert -, daß alle etwas davon haben, daß das ein Geben und Nehmen ist, während der Protektionismus eher von der Idee ausgeht, erst schütze ich meine Wirtschaft und dann gucke ich, was ich mit den anderen machen kann. Insofern sind das meiner Ansicht nach schon Gegensätze, obwohl wir natürlich auch wissen, daß der Freihandel nicht immer so frei ist und daß die Teile nicht immer gleich verteilt sind.

Doch es ist ja nicht nur die Frage des Freihandels, sondern auch die danach, ob man sich auf multilaterale Handelssysteme einläßt, bei denen sich eine Gruppe von Ländern zusammenschließt, oder ob man eins zu eins mit einem Land wie den USA verhandelt, wobei man als kleinerer Partner immer die schlechteren Karten hat. Das ist beides Freihandel, doch ob man sich eher für ein multilaterales System des Handelsaustausches entscheidet oder am Ende bilaterale Verträge abschließt, macht einen großen Unterschied.

Ich glaube, das Gefährliche an der jetzigen Tendenz ist, daß letztlich, wenn die großen Wirtschaftsmächte wieder sagen, "ich setze erst einmal meine eigenen Interessen durch", die kleineren am wesentlich kürzeren Hebel sitzen. Das Interessante ist ja, daß durch Trump mittlerweile viele Leute, die den Freihandel und die Globalisierung vorher kritisiert haben, anfangen ihn zu verteidigen. Ich war vor zwei Wochen auf einer Veranstaltung des Lateinamerika-Vereins, wo die grüne Zweite Bürgermeisterin plötzlich den Freihandel in einer Art und Weise gelobt hat, die man sich vor ein, zwei Jahren nicht hätte vorstellen können.

Selbst das Handelsabkommen mit Kanada wird ja inzwischen als Fortschritt gesehen. Vor einem halben Jahr haben wir alle das noch für ganz schlecht gehalten, doch im Vergleich vielleicht zu dem, was jetzt aus den USA kommt, scheint das die bessere Lösung zu sein. Jetzt ist es so, daß die Chinesen den Freihandel verteidigen und Parteien wie die Grünen sich dafür begeistern können, während eher Konservative plötzlich für Protektionismus sind. Das ist eigentlich im Moment eine sehr interessante Debatte, wo man auch die eigenen Koordinaten im Kopf wieder hinterfragen muß. Insofern können wir Trump vielleicht sogar dankbar sein, weil er uns zum Nachdenken zwingt und dazu, auch vertraute Dogmen und Überzeugungen neu auf den Prüfstand zu stellen.

SB: Herzlichen Dank, Herr Prof. Nolte, für dieses Gespräch.


Vollbesetzte Zuschauerreihen, im Hintergrund die Podiumsrunde - Foto: © 2017 by Schattenblick

Großes Publikumsinteresse an GIGA-Veranstaltung zu Trump und Lateinamerika
Foto: © 2017 by Schattenblick


Fußnoten:

[1] Siehe auch den Bericht zu der GIGA-Veranstaltung im Schattenblick unter www.schattenblick.de → INFOPOOL → POLITIK → REPORT:
BERICHT/256: Quo vadis Lateinamerika - neuer Wein in alten Schläuchen ... (SB)

[2] EPA steht für Economic Partnership Agreement. Näheres siehe im Schattenblick www.schattenblick.de → INFOPOOL → BÜRGER → REPORT:
BERICHT/072: Das Anti-TTIP-Bündnis - Erhalt marktregulierter Vorherrschaft ... (SB)

[3] Zum Zeitpunkt des Interviews war der Wirtschaftswissenschaftler Rafael Vicente Correa - noch - Präsident Ecuadors. Aus der Präsidentschaftswahl am 18. Februar ist sein Wunschnachfolger, der ehemalige Vizepräsident Lenín Moreno, als Gewinner hervorgegangen, wiewohl die endgültige Entscheidung wohl in einer Stichwahl fallen wird. Correa war zu dieser Wahl nicht wieder angetreten. Nach seinem Amtsantritt am 15. Januar 2007 hatte er die sogenannte Bürgerrevolution Ecuadors auf den Weg gebracht.

[4] https://www.nytimes.com/2014/05/24/books/eduardo-galeano-disavows-his-book-the-open-veins.html?_r=1

[5] Eduardo Frei Montalvan, Politiker der christdemokratischen Partei (DC), war von 1964 bis 1970 Präsident Chiles. In seiner Regierungszeit wurde die erste Landreform durchgeführt.

[6] Die Arbeitsgemeinschaft Deutsche Lateinamerikaforschung (ADLAF) wurde 1965 als fachübergreifender Zusammenschluß von Forschungsinstituten und Wissenschaftlern aller Disziplinen, die sich mit Lateinamerika schwerpunktmäßig befassen, gegründet. Zur Zeit sind 30 Institute und über 200 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unter dem Dach der ADLAF vereint.

21. Februar 2017


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