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INTERVIEW/341: Übergangskritik - Die Spielart der Fronten ...    Franziska Wiethold im Gespräch (SB)


Nicht in Angst vor der Machtfrage erstarren ...

Interview am 4. März 2017 in Berlin


Franziska Wiethold war hauptamtlich bei der Gewerkschaft ver.di tätig. Bei der Konferenz "Am Sterbebett des Kapitalismus? - Kapital, Krise, Kritik", zu der das Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung und die Helle Panke e.V. am 3. und 4. März nach Berlin geladen hatte, wurden auch über die kapitalismuskritischen Thesen des Soziologen Wolfgang Streeck debattiert [1]. Frau Wiethold mischte sich mit einer eigenen Stellungnahme in die Diskussion ein und schilderte dem Schattenblick anschließend, was sie zu ihrer Kritik bewogen hat.


Im Gespräch - Foto: © 2017 by Schattenblick

Franziska Wiethold
Foto: © 2017 by Schattenblick

Schattenblick (SB): Sie haben eben daran erinnert, daß Wolfgang Streeck früher diametral entgegengesetzte Positionen zu dem eingenommen hat, was er heute vertritt. Können Sie dies noch einmal erläutern?

Franziska Wiethold (FW): Wolfgang Streeck neigt nach meinem Eindruck dazu, in sich geschlossene Theorien aufzustellen, die er zum Anlaß nimmt, mit einem sehr elitären Anspruch auch die großen eindeutigen Linien zu verkünden. Ich habe ihn erlebt, als die Diskussion über die Agenda 2010 Ende der 90er Jahre losging. Damals war er der Meinung, man müsse diese Gesellschaft durch eine Deregulierung des Arbeitsmarktes und die Aufkündigung kollektiver sozialer Standards, also durch Entkrusten sozusagen, endlich wieder in Bewegung bringen und Vollbeschäftigung schaffen. Das hat er mit einer ungeheuren Härte und einem messianischen Bewußtsein vorgetragen. Dabei kämpfte er unter anderem für die Ausweitung des Niedriglohnbereichs und damit im Grunde genommen auch gegen die Dominanz von Mindestbedingungen, die unter anderem über Tarifverträge abgesichert sind. Davon will er heute, glaube ich, nichts mehr wissen.

SB: Ist Wolfgang Streeck vom Saulus zum Paulus geworden, oder handelte es sich bloß um eine Kurskorrektur?

FW: Nein, er ist mit Sicherheit von einem Saulus zu Paulus geworden. Aber dieses messianisch Elitäre - "Ich weiß, was die große Linie ist und bin von keinerlei Selbstzweifeln und auch Ambivalenzen angefressen" - ist ihm geblieben. Ich finde, von seiner Psychostruktur her hat er sich nicht sonderlich geändert, und deswegen sind seine Thesen und Theorien auch, wie man heute so schön sagt, unterkomplex. Was auch gleichgeblieben ist, das ist die Fixierung auf die Mächtigen. Das ist alternativlos, die sogenannten nicht Mächtigen spielen bei ihm keine Rolle.

SB: Sie hatten sich in ihrem Redebeitrag für mehr Ambivalenz im Sinne dessen ausgesprochen, die Interessen der Subalternen mehr zu berücksichtigen. Ist es nicht sinnvoll, überhaupt erst einmal zu begreifen, wie groß die Durchsetzungskraft herrschender Interessen ist?

FW: Aus allen Umfragen wissen wir, daß die Mehrheit der Bevölkerung eigentlich zwei Aussagen hat: Erstens, dieses System ist zutiefst ungerecht, zweitens, wir haben keine Macht. Und Menschen, die ein System ungerecht finden, sich jedoch gleichzeitig als machtlos empfinden, tun nichts dagegen. Die Linke hat - das ist jetzt eine sehr steile Hypothese - mit zur Etablierung dieses Machtsystems beigetragen, weil sie so fasziniert war von dem angeblichen Siegeszug des Neoliberalismus, obwohl dieser zumindest in Deutschland noch nie zu 100 Prozent verwirklicht wurde. Da ist vieles nicht geschleift worden. Frau Merkel hat viele neoliberale Vorhaben nicht durchgeführt, weil sie wiedergewählt werden will.

Für mich wäre entscheidend zur Kenntnis zu nehmen, daß die Herrschenden, wenn sie klug sind, die Menschen immer wieder einbinden, daß sie Rücksicht auf Beschäftigte und Bevölkerungsgruppen, die ihnen gefährlich werden könnten, nehmen. Im Rahmen dieser Hegemoniethese sollte immer wieder untersucht werden, wo Brüche sind, wo Rücksicht genommen wird. Gerade Frau Merkel kann das hervorragend. Sie hat nicht zugespitzt, sondern im Gegensatz zu dem, was sie in Griechenland gemacht hat, versucht, soziale Ungleichheiten in Deutschland auch etwas abzumildern. Das haben wir in den letzten Jahren gehabt.

Die Linke hingegen meint häufig, daß wir durch Entlarven stärker würden. Das halte ich für völligen Unsinn. Erstens ist es real falsch. Und zweitens unterstützen wir dadurch das Gefühl der Machtlosigkeit. "Wir können ja sowieso nichts machen" - das ist die Grundlage für Rechtspopulismus. Rechtspopulismus beruht auf dieser Grundidee "wir da unten, die da oben". Das habe ich auch schon bei der Linken gehört.

SB: Meinen Sie nicht, daß sich die Bevölkerung der Bundesrepublik im Verhältnis zur anderen europäischen Bevölkerungen in einer privilegierten Position befindet und die Möglichkeit, ihr den Stachel des Widerspruchs zu nehmen, vielleicht nicht so einfach zu handhaben wäre, wenn die sozialen Bedingungen hierzulande so hart wären wie in Griechenland?

FW: Das ist völlig richtig, aber wofür spricht das? Das spricht dafür, daß die Bundesregierung darauf Wert legt, ein gewisses Maß an Zustimmung zu behalten. Und das heißt, daß auch die sogenannte schweigende Mehrheit eine Macht hat. So kommt bei den Umfragen immer wieder heraus, daß trotz dieser relativ guten Entwicklung in den letzten Jahren - wir haben Reallohnzuwächse - dieses Gefühl einer sozialen Spaltung in oben und unten bleibt. Daher haben wir diesen hochproblematischen Aufschwung des Rechtspopulismus, und ich möchte nicht, daß wir mit dem Linkspopulismus, der auch sehr im Schwange ist, auf diese Erzählung aufsetzen.

Faszinierend für mich ist dieser Schulz-Effekt. Wie da plötzlich der Korken aus der Flasche ging. Was Schulz davon ehrlich meint, das schauen wir mal. Aber da kommt ein Bedürfnis auf. Nach meiner Erfahrung werden Kämpfe stärker, wenn Menschen den Eindruck haben, daß sie Einfluß haben und nicht nur ums Überleben kämpfen müssen. Die Gewerkschaften sind im Augenblick besser in der Lage zu streiken als vor zehn Jahren - warum? Weil die Leute sagen, wir können wieder was bewegen, wir können etwas durchsetzen, wir müssen nicht Angst vor dem Abgrund haben. Natürlich sind solche Zugeständnisse immer mit der Hoffnung verbunden, die Menschen einzubinden und zu befrieden. Logisch, 1918 ist das Betriebsverfassungsgesetz eingeführt worden, auch um die Revolution zu verhindern, so ist es. Das ist die Lernfähigkeit des Kapitalismus. Die sieht Streeck auch nicht.

SB: Zum "Sterbebett des Kapitalismus?" wurde eben vertreten, daß sich der Kapitalismus verändern, aber nicht sterben wird. Was denken Sie?

FW: Ich weiß es nicht. Ich bin in meiner inzwischen 50jährigen Geschichte politischen Engagements mit so viel vorausgesagten Todeskämpfen des Kapitalismus gesegnet worden, daß ich glaube, wir als Linke sind nicht in der Lage, solche langfristigen Prognosen abzugeben. Das ist mein großer Bruch mit dem Marxismus. Wir haben nicht die Gesetzmäßigkeiten, die die Welt im Innersten zusammenhält, erkannt. Ich will jetzt nicht auf "alles ist kontingent" hinaus, aber wenn ich beim Marxismus etwas über irgendwelche notwendigen ehernen Gesetze höre, dann kann ich nur sagen, die haben wir zumindest noch nicht erkannt. Insofern weiß ich nicht, wie der Kapitalismus in 20 Jahren aussieht, ob es ihn dann noch gibt. Meine Lebenserfahrung sagt jedenfalls, daß er unglaublich lernfähig ist. Und diese hybriden Formen, die Michael Brie beschrieben hat, gibt es. Es besteht nach wie vor ein Unterschied zwischen den USA und Skandinavien.

SB: Frau Wiethold, vielen Dank für das Gespräch.


Fußnote:

[1] INTERVIEW/340: Übergangskritik - Wandlungsthesen ...    Michael Brie im Gespräch (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prin0340.html

12. März 2017


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