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INTERVIEW/368: Gegenwartskapitalismus - Fortschritt dennoch ...    Frank Adloff im Gespräch (SB)


Prof. Dr. Frank Adloff lehrt Soziologie mit Ausrichtung auf Dynamiken und Regulierung von Wirtschaft und Gesellschaft im Fachbereich Sozialökonomie der Universität Hamburg. Zu seinen Forschungsgebieten gehören Politische Soziologie und Zivilgesellschaft, Theorie der Gabe und Konvivialität, Kultursoziologie der Postwachstumsgesellschaft sowie Emotionssoziologie. 2014 gab er zusammen mit Claus Leggewie die deutsche Ausgabe des von rund 40 französischsprachigen Intellektuellen, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern verfaßten "Manifeste Convivialiste" unter dem Titel "Das konvivialistische Manifest. Für eine neue Kunst des Zusammenlebens" heraus. Auf der Konferenz "Die kapitalistische Moderne herausfordern III", die vom 14. bis 16. April an der Universität Hamburg stattfand, richtete er als Vertreter der Hochschule ein Grußwort [1] an die Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Im Anschluß beantwortete Frank Adloff dem Schattenblick einige ergänzende Fragen.



Im Gespräch - Foto: © 2017 by Schattenblick

Frank Adloff
Foto: © 2017 by Schattenblick

Schattenblick (SB): Herr Adloff, Sie haben in Ihrer Eröffnungansprache auch Bezug genommen auf Freiheit in Forschung und Lehre. Wie weitgehend sind Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler angesichts des Einflusses, den privatwirtschaftliche Unternehmen etwa in Form von Drittmitteln auf die Hochschulen nehmen, in der Lage, an den Unis wirklich frei zu forschen und zu lehren?

Frank Adloff: Ich glaube, da müssen wir uns genauer anschauen, was es für Formen von Freiheit gibt. So ist durchaus die Freiheit gegeben, die eigenen Themen zu setzen und zu sagen, ich interessiere mich für dieses oder jenes. Daß man das selbst bestimmen kann, ist sozusagen die Freiheit der Forschung. Aber durch den Drittmitteldruck verändert sich natürlich die Form der Wissenschaft. Wenn alles in mögliche Drittmittelprojekte übersetzt werden muß, dann fallen vielleicht manche Themen weg, die keine große Chance haben, Drittmittel zu erhalten. Von daher hängt diese Form- und diese inhaltliche Frage tatsächlich miteinander zusammen. Auch würde ich hinsichtlich des Einflusses von Unternehmen weiterhin sagen, daß es keinen klaren Verlust von Freiheit gibt, weil Unternehmen diktieren, was geforscht wird. Aber das unterscheidet sich auch von Fach zu Fach. So befindet sich die Soziologie in einer Position, in der es wenig Beeinflussung gibt, weil Unternehmen eigentlich kaum an soziologischer Forschung interessiert sind.

Anders verhält sich das sicherlich in der Medizin, Pharmazie und anderen naturwissenschaftlichen Fächern, da sind die Themen viel enger miteinander verzahnt. Von daher müssen wir genau hingucken, aber es gibt natürlich diesen Druck, bestimmte Formen des Publizierens anzuwenden, bestimmte Formen des Forschens. Tatsächlich lastet eine Art von Vermarktlichungsdruck auf den Universitäten, den man tatsächlich spürt. Wenn in einer Prüfungskommission darüber entschieden wird, wer der künftige Kollege oder die künftige Kollegin wird, dann geht es natürlich schon auch darum, ob sie dementsprechend in diesen immer schon angesagten Peer Review Journals publiziert und Drittmittel haben. Ob das vielleicht auch für eine größere gesellschaftspolitische Debatte interessant ist, ob die Wissenschaften in die Gesellschaft hineinwirken, das ist sekundär. Das sind wirklich Probleme, die ich als deutlich verschärft empfinde.

SB: Auf dieser Konferenz spielt die Frage der Geschlechtergerechtigkeit eine große Rolle. Inwiefern sind Fragen wie etwa die Ausbeutung kostenlos in Anspruch genommener Care-Arbeit für eine Soziologie, die ja mit gesellschaftlichen Veränderungen befaßt ist, relevant?

FA: Dazu wird ja auch schon viel geforscht. Das Problem ist nur, daß diese Forschung teilweise sehr spezialisiert ist und immer wieder von anderen Forschern oder Forscherinnen rezipiert wird. Tatsächlich ist es manchmal nicht so leicht, den Transfer aus diesen wissenschaftlichen Forschungen in größere gesellschaftspolitische Debatten zu finden. Da haben wir seit ein paar Jahren zumindest einen Anstoß in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, wo eine Debatte um public sociology geführt wird. Dieser aus den USA stammende Begriff wurde so ein bißchen importiert oder reimportiert, um zu versuchen, als Fach noch einmal stärker aktiv zu werden und auch politisch in diese Debatten hineinzuwirken. Ich glaube, daß viele Themen tatsächlich schon relativ gut erforscht sind, allerdings teilweise empirisch kleinteilig oder auch so spezialisiert, daß die allgemeine Öffentlichkeit davon nicht viel mitbekommt. Da bedarf es es mehr Übersetzungsleistung.

SB: In den 1960er Jahren waren Soziologen wie Theodor W. Adorno so bekannt, daß sie sogar im Radio auftraten. Heute kennt man in der Öffentlichkeit vielleicht noch Namen wie Stefan Lessenich, Hartmut Rosa oder Heinz Bude. Könnte man mehr dafür tun, die allgemeine Präsenz der Soziologie als einer kritischen Gesellschaftswissenschaft zu fördern?

FA: Da kann man bestimmt mehr für tun, aber man darf auch nicht vergessen, daß sich die Resonanzkapazität der Gesellschaft auch verändert hat. Sehr viele Themen werden medial verbreitet, und das sind ja nicht nur wissenschaftliche Fragen. Für das, was wir den ganzen Tag lesen und hören können, gibt es nur eingeschränkte Kapazitäten. Ich weiß jetzt nicht, ob die Lösung darin besteht, daß es 20 mehr Soziologen und Soziologinnen gibt, die genauso populär sind wie die drei genannten. Das muß man sehen, da habe ich keine gute Antwort drauf.

Man sieht allerdings, daß es Konjunkturen der Fächer gibt. Vor ein paar Jahren waren es noch Evolutionsbiologen, die sich zu allem geäußert haben, Soziobiologen, die mit Hilfe der Genetik versucht haben, etwas über unser Verhalten zu erfahren. Um Neurobiologen gab es große Debatten, Geschichtswissenschaftler sind teilweise noch präsent. Aber ich glaube, daß es tatsächlich ein soziologisches Defizit gibt. Da müßte man mehr für tun. Das interessante ist, daß Soziologen wie Rosa, Lessenich, Bude es auch anders machen als die Namen, die wir aus den 60er Jahren kennen. Sie schreiben verständlicher. Es ist eigentlich verwunderlich, daß Adorno und andere diese Popularität haben konnten, obwohl man sie kaum verstanden hat. Im Radio war es meist noch etwas besser, aber ein Buch von Adorno war häufig, würde ich im nachhinein behaupten, doch für viele ein Accessoire und nicht wirklich Gegenstand einer Lektüre, bei der man alles verstanden hätte. Es gab eine merkwürdige Theorieaaffinität, die uns heute fehlt. Aber teilweise war es natürlich auch eine Mode der Theorieaffinität.

SB: Neigen die Menschen heute weniger dazu, abstrakt zu denken? So gibt es den kulturpessimistischen Standpunkt, laut dem sich die ganze Intellektualität im Niedergang befindet. Wie beurteilen Sie das aus Ihrer Sicht als Gesellschaftswissenschaftler?

FA: Ich würde sagen, ja und nein. Tatsächlich bemerke ich schon, daß es unter den Studierenden weniger üblich ist, noch Bücher zu kaufen und Bücher zu lesen, als vielleicht noch zu meiner Zeit, was auch nicht die 60er Jahre waren. Dort gibt es diese Art von Verlust. Auf der anderen Seite sollte man auch sehen, daß es große Chancen gibt, sich thematisch gut zu informieren, breit zu bilden und auch soziologisch zu informieren. Manche Sachen sind ja wirklich genial. Vor ein paar Jahren habe ich noch in einer Lehrveranstaltung gesagt, bitte zitieren Sie nicht Wikipedia und lesen Sie das nicht, weil das noch ein Baustelle war, da stand noch nichts vernünftig wissenschaftlich Belastbares drin. Aber wenn man sich jetzt informieren will und die Wikipedia-Einträge über Max Weber oder Adorno oder sonst wen liest, wenn man sich dann durch die Verlinkungen leiten läßt, dann kann man innerhalb von zwei Stunden ein Wissensniveau aufbauen, was in dieser Zeit früher, wenn man nur in Bibliotheken recherchiert hat, nicht möglich war. Von daher würde ich es für eine Doppelbewegung halten.

SB: Sie haben auch das Konzept des Konvivialismus erwähnt. Wie eng ist das mit der Postwachstumsbewegung verbunden?

FA: Die Postwachstumsbewegung hat mit Serge Latouche in Frankreich einen Frontmann, so kann man sagen, der für dieses dort Decroissance genannte Konzept einsteht. Er war von Anfang an Teil dieser Gruppe, und viele seiner Ideen sind in die konvivialistische Bewegung eingeflossen.

SB: Sind Sie aus persönlichem Interesse oder im Sinne eines wissenschaftlichen Ansatzes mit dem Thema befaßt?

FA: Beides. Zum einen bin ich zusammen mit Claus Leggewie Herausgeber der deutschen Übersetzung des konvivialistischen Manifestes. Und dann gab es noch einen Debattenband, den ich mit herausgegeben habe, in dem wir verschiedene Aspekte des Konvivialismus aus eher gesellschaftspolitischen Perspektiven beleuchtet und diskutiert haben. Das ist keine wissenschaftliche Arbeit im engeren Sinne gewesen. Wissenschaftlich versuche ich, dem Begriff der Konvivialität mehr abzugewinnen. Der Begriff spielt in verschiedenen Debatten eine Rolle, jetzt auch im Angelsächsischen. Die Multikulturalismusdebatten, in denen es um das konkrete Zusammenleben beispielsweise in multikulturellen Stadtvierteln geht, haben den Begriff der Konvivialität aufgegriffen und versuchen, empirisch mit ihm zu arbeiten. Vieles in dieser Hinsicht geschieht auch in Lateinamerika. Es gibt jetzt zum Beispiel ein neues, groß gefördertes Kolleg des BMWF an der FU in Berlin und in Sao Paulo, bei dem es um Konvivialität in Lateinamerika geht.

SB: Sehen Sie hier in der Bundesrepublik Ansätze für eine praktische gesellschaftliche Wirkung, die von derartigen Konzepten ausgeht?

FA: Ich spüre da ein großes Interesse. Das Problem ist vielleicht, daß dieser Begriff im Unterschied zum Englischen und Französischen wie anderen romanischen Sprachen für uns etwas sperrig klingt. Man kommt nicht gleich darauf, was damit gemeint ist. "Konvivialismus" ist ja fast ein Zungenbrecher. Aber für das, was sich dahinter verbirgt, gibt es großes Interesse. Vielfältige Initiativen, was wir ja auch heute hier erleben, interessieren sich für diese Fragen.

SB: Es ist interessant, daß eine Bewegung in einer mehrheitlich islamischen Region Konzepte aufstellt, die mit den dort tonangebenden Ordnungsvorstellungen eher kollidieren.

FA: Die Zeit wird zeigen, was daraus wird. Man arbeitet gerade an einer arabischen Übersetzung des Manifestes. Diese Gesellschaften sind natürlich auch nicht so homogen, da gibt es die verschiedensten Strömungen, da gibt es Gruppen, die so etwas aufgreifen und andere, die es gerade nicht aufgreifen wollen. Ein Kollege aus Brasilien, der sich zu den Konvivialisten zählt und ein Jahr in Indien verbracht hat, wollte dort über dieses Konzept sprechen. Er ist zu dem Schluß gelangt, daß es am Kastenwesen scheitert. Die hierarchische Gliederung einer Gesellschaft in verschiedene Kasten steht dieser Vorstellung von Konvivialität diametral entgegen. Es gibt einfach unterschiedliche Ordnungsvorstellungen.

SB: Herr Adloff, vielen Dank für das Gespräch.


Fußnote:

[1] http://www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prbe0262.html


Beiträge zur Konferenz "Die kapitalistische Moderne herausfordern III" im Schattenblick unter:
www.schattenblick.de → INFOPOOL → POLITIK → REPORT:

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24. Mai 2017


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