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INTERVIEW/377: Gegenwartskapitalismus - mit Kopf und Herz zurückerobern ...    Haskar Kirmizigül im Gespräch (SB)


Haskar Kirmizigül ist seit 20 Jahren Aktivistin der kurdischen Befreiungsbewegung. Ihr Vortrag im Rahmen der Konferenz "Die kapitalistische Moderne herausfordern III", die vom 14. bis 16. April 2017 an der Universität Hamburg stattfand, zielte erklärtermaßen darauf ab, das Emanzipationsstreben der Frauen weltweit um eine jineologische Perspektive zu bereichern. Im Anschluß daran hatte der Schattenblick Gelegenheit, ihr einige Frage zu stellen.



Im Gespräch - Foto: © 2017 by Schattenblick

Haskar Kirmizigül
Foto: © 2017 by Schattenblick

Schattenblick (SB): Die Geschichte der Frau ist noch nicht geschrieben worden, weil sie im Kontext von Gesellschaft und Kultur kolonisiert und dem Mann untergeordnet wurde. Wie kann die Jineologie als Wissenschaft der Frau diese über Jahrtausende hinweg geschmiedeten Ketten aufsprengen?

Haskar Kirmizigül (HK): Unser Hauptziel ist, eine eigene Definition von der Frau auf der Basis der Jineologie zu formulieren. Es stimmt, die Geschichte der Freiheit der Frau wurde noch nicht geschrieben, aber die PKK hat versucht, dies zu ändern. Und wie? Durch den Aufbau einer Frauenbewegung. Aber nach 2005 mußten wir feststellen, daß eine eigenständige Geschichte der Frau gar nicht existiert. Deshalb hat sich eine Gruppe von Frauen aus der kurdischen Guerilla gebildet, darunter auch die Genossin und PKK-Mitbegründerin Sakine Cansiz, um über diesen Punkt zu diskutieren. Es ging zunächst darum, eine Geschichte der Frau innerhalb der PKK zu schreiben. Vor diesem Hintergrund hat jede von ihren über ihre eigenen Erfahrungen berichtet, die dann gesammelt und zu einer Gesamterzählung gebündelt wurden.

Im Grunde verhält es sich bei der Jineologie nicht anders. Sie geht in gleicher Weise methodisch vor, um zu Informationen zu gelangen. Doch diese stammen nicht aus Büchern über Sozialwissenschaften bzw. aus der offiziellen Geschichtsschreibung, sondern beziehen sich immer auf Erfahrungen, die Frauen selbst gemacht haben. Das ist wichtig für das Lösen eigener Probleme, denn die Frauen werden sich immer an das halten, was sie selbst erlebt haben. Gleiches gilt für die Definition der Frau.

SB: Was wäre aus Ihrer Sicht erforderlich, um das Vorhaben der Frauenbefreiung wissenschaftlich auszuarbeiten?

HK: Das ist eine wichtige Frage, mit der sich auch Abdullah Öcalan in seiner Analyse beschäftigt hat. Revolutionäre Bewegungen müssen sich zunächst einmal von den etablierten Sozialwissenschaften befreien, aber dieser Akt der Emanzipation bedeutet nicht, daß es zwischen Revolution und Sozialwissenschaft keinen Kontakt mehr geben darf. Beides miteinander zu verknüpfen hat einen wichtigen Stellenwert. Das geht nicht nur aus der Analyse von Öcalan hervor, auch Immanuel Wallerstein hat gesagt, daß man Intellektualismen braucht, um die Gesellschaft zu verändern und weiterzuentwickeln. Dennoch gibt es zwischen abstrakter Theorie und konkreter Geschichte einen erheblichen Unterschied. Die Sozialwissenschaft veröffentlicht zwar ihre gewonnenen Informationen, überläßt jedoch ihre Anwendung der Gesellschaft. Daraus kann nichts werden, und so sind die Informationen letztlich nur für die Herrschenden wertvoll, die die Erkenntnisse nutzen, um die Gesellschaft so zu organisieren, daß die Unterdrückung fortgesetzt werden kann.

Jede Person oder Gruppe mit dem Ziel einer Veränderung der Gesellschaft verknüpft die Sozialwissenschaften mit ihren jeweiligen historischen Wurzeln. Erkenntnisse der Sozialwissenschaften aus dem 18. Jahrhundert werden demzufolge auch diesem Jahrhundert zugeschrieben. Aber man kann Wissenschaft auch als den Versuch definieren, Erkenntnisse universal zu verstehen. Für uns ist daher Animismus auch eine Wissenschaft, genauso wie die Mythologie, denn beide haben universale Informationen für die Gesellschaft bereitgestellt. Das ist auch die Kritik der Jineologie an der Sozialwissenschaft. Wir sagen, es gibt auch versteckte Informationen in der Mythologie wie überhaupt in allen Bereichen, in denen Menschen zur sozialen Realität geforscht haben. Um die Gesellschaft von Grund auf zu verändern, muß man diese Informationen sehr genau recherchieren und herausarbeiten. Wir kritisieren an den Sozialwissenschaften in erster Linie ihre Beziehung zur Macht.

SB: Der Frau werden Begriffe wie Mutterschaft und Fürsorge zugeschrieben, gleichzeitig wird ihr Körper und ihre Empathie ausgebeutet. Wie wichtig ist es, diese und andere frauenspezifische Begriffe aufzubrechen und auf ihre eigentliche Funktion hin zu untersuchen?

HK: Das ist ein wichtiges Konfliktfeld, und deshalb befaßt sich die Jineologie auch damit, wie Frauen ihre Existenz begründen und welches Selbstbild sie verinnerlicht haben. Den Sozialwissenschaften zufolge ist die Frau immer die Quelle von Problemen. Damit gehen auch die Rollen einher, die die Gesellschaft ihr gegeben hat. Im Kapitalismus gebiert sie neue Arbeiter, während sie in der Religion von Geburt an als sündhaft gilt. Keiner dieser Begriffe taugt für eine Definition der Frau. Das gilt auch für Begriffe wie Ehre oder Jungfräulichkeit.

Die Radikalfeministin Mary Daly sagte, um zu unseren Wurzeln zurückkehren zu können, müßten wir erst einmal die Definitionen über uns ablehnen. Wir geben auch Seminare in den kurdischen Volksräten und machen dort darauf aufmerksam, daß immer gesagt wird, das sei die Frau von dem, die Mutter von dem oder die Schwester von dem. Das ist keine Definition von Frau. Diese Art der Zuweisung war früher bei den Kurden sehr verbreitet. Im Alltag sah man die Frau immer als Verkörperung der Ehre. Diese Sicht auf Frauen beeinflußt auch die Gedanken. Wir als Frauenbewegung haben deshalb vor sieben Jahren eine Kampagne gestartet unter der Losung: Unsere Ehre ist unsere Freiheit. Auf diese Weise konnten wir diese Vorstellung in der Gesellschaft aufbrechen. Mary Daly sprach von dem Leben der Frau im Hintergrund. Das müssen wir auf allen gesellschaftlichen Ebenen anwenden. Das existentielle Problem der Frauen ist die Definition: Um sich zu befreien, muß sie sich selbst erkennen. Denn bis zum heutigen Tag haben immer andere uns erkannt und definiert. Das müssen wir selber machen.

SB: Was läßt Sie glauben, daß es auf einer früheren zivilisatorischen Stufe einen besseren Umgang mit der Frau gegeben hat?

HK: Wenn man mit den heutigen Augen auf die Geschichte schaut, wird man immer auf Trugschlüsse stoßen. Darauf muß man vorbereitet sein. Ein gutes Beispiel dafür ist der Scheich-Said-Aufstand von 1925 im Südosten der Türkei. Wenn wir diese Rebellion mit marxistischen Augen oder aus Sicht der türkischen Republik analysieren, dann scheint er ein religiös motivierter Widerstand gegen die frühen Säkularisierungstendenzen der damaligen Zeit gewesen zu sein. Aber eigentlich hatte er das Ziel, das kommunale Leben zu schützen.

Natürlich herrschten in den Kurdengebieten seinerzeit feudale Verhältnisse, die nichts mit Modernität zu tun hatten, aber die kommunalen Strukturen waren damals freier als heute. Wir sehen in der Geschichte zwei Flüsse, die parallel fließen. Geht man indes von einem kontinuierlichen Verlauf aus, beschreibt man etwas, das nie existiert hat. Diese Sicht auf Geschichte stimmt nicht. Ein anderes Beispiel dazu sind die Schwestern bzw. Nonnen, die in der Kirche gearbeitet haben. Aus Sicht der Jineologie nutzten diese Frauen einen Bereich der Kirche, um an Informationen heranzukommen. Die Wissenschaft war damals in der Hand der Kirche. Anders hätten die Frauen kein Wissen erwerben können. Das heißt nicht, daß sie ihr Leben Gott oder der Kirche widmeten.

SB: Modernität bezieht sich meist auf veränderte Produktionsbedingungen. Was ist aus Ihrer Sicht in diesen Entfremdungsprozessen verlorengegangen oder ins Unkenntliche verzerrt worden, das wieder sichtbar zu machen wertvoll wäre?

HK: Wir definieren Modernität nicht nur über die Produktionsbedingungen. Es geht nicht nur um Warenproduktion, sondern auch um Kultur und alles, was zum Leben dazugehört. Das ist übrigens nicht nur unsere Analyse, sondern auch die der Frankfurter Schule, die von einer Verbundenheit der einzelnen Zivilisationsstufen ausgeht, deren Spitze die kapitalistische Moderne ist. Wir glauben jedoch nicht, daß es nur eine einzige Modernität gibt, sondern daß sich zwei parallele Flüsse durch die Zivilisation bewegen. Die Kultur der Frauen und die Informationen, die von ihnen stammen, werden in der offiziellen Geschichtsbetrachtung weder berücksichtigt noch überhaupt gesehen. Daß Frauen mit starkem Selbstbewußtsein an allen Aufständen und Freiheitsbewegungen mitgewirkt haben, wird selbst von revolutionären und Oppositionsgruppen ignoriert. Man kann doch nicht so naiv sein und behaupten, es nicht gewußt zu haben. Dahinter steckt eine Absicht. All das muß mit den Methoden der Jineologie sichtbar gemacht werden. Wir müssen darum kämpfen, auch die verwischten Spuren und Informationen wieder aufzudecken.

SB: Die Befreiung der Frau erscheint ohne eine Veränderung des Mannes unvorstellbar. Die kurdischen Freiheitskämpferinnen haben dazu beispielsweise die Theorie der Loslösung und den Gesellschaftsvertrag in Rojava entwickelt. Was haben Männer im Kontext dieser Auseinandersetzung von den Frauen gelernt?

HK: Militärische Frauenverbände gibt es überall, nicht nur in Rojava. Die Frauen sind dadurch selbstbewußter geworden. Wichtiger noch war jedoch, daß die Mann-Frau-Verhältnisse, die auf falschen Informationen gründeten, aufgehoben wurden. Alle denken an Sex, wenn Mann und Frau alleine sind, aber für uns geht es zuallererst um die Selbstverteidigung. Es heißt auch, wenn zwei Frauen zusammenkommen, ziehen sie sich an den Haaren. Unsere Erfahrungen haben jedoch gezeigt, daß es nicht so ist. Selbst die Männer mußten anerkennen, daß die Frau einen festen Charakter besitzt. Im Grunde hat der Mann immer von der Frauenarbeit gelebt, und diese Möglichkeit haben wir ihm genommen. Wenn Männer sagen, wir haben das und das gemacht, wurde die Arbeit tatsächlich von Frauen geleistet. So haben Männer von den Frauen gelernt, wie man sich organisiert oder Gegenwehr aufbaut. Wir sind in einer Kriegssituation, in der viel Ungerechtigkeit herrscht und Machtinteressen dominieren. Frauen kämpfen seit 40 Jahren in der PKK. Wir haben es geschafft, daß der Krieg sich nicht allzu weit von ethischen Prinzipien entfernt. Daß es in dieser Zeit kaum zu Kriegsgreueln kam, ist den Frauen zu verdanken.

SB: Zum Ende ihres Vortrags erzählten Sie die Geschichte eines verletzten Kämpfers, der in seiner Not nicht nach seiner Frau, Mutter oder Schwester, sondern Heval ruft. Welche Bewandtnis hat es damit?

HK: Bei uns geht es nicht darum, Ehemann und Ehefrau zu werden. Über das Gesellschaftliche hinaus haben wir etwas anderes entwickelt. Wenn ein Mensch verletzt ist, ruft er entweder nach der Mutter oder nach einem Menschen, der ihm nahe ist. Aber in den Bergen während der Kämpfe habe ich Dutzende Beispiele gesehen, wo es anders war. Wenn jemand einen Alptraum hat, verwundet ist oder unter Narkose steht, sagt er immer, was er denkt. Und diese Menschen haben in ihrer äußersten Bedrängnis Heval gerufen: Genosse. Die Beziehungen in der Guerilla sind außerhalb von Familie, Ehemann oder Ehefrau. Jeder ist für den anderen da und bereit, für ihn zu sterben.

SB: Frau Kirmizigül, vielen Dank für das Gespräch.


Im Gespräch - Foto: © 2017 by Schattenblick

Beim Interview mit Übersetzer Yasir Irmak
Foto: © 2017 by Schattenblick


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18. Juli 2017


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