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INTERVIEW/418: Substantielle Schäden - und sie müssen unten bleiben ...    Wolfgang Hien im Gespräch (SB)


Gespräch am 4. Juli 2018 in Hamburg


Das Lumpenproletariat, "das in allen großen Städten eine vom industriellen Proletariat genau unterschiedene Masse bildet, ist ein Rekrutierplatz für Diebe und Verbrecher aller Art, von den Abfällen der Gesellschaft lebend, Leute ohne bestimmten Arbeitszweig, Herumtreiber, dunkle Existenzen, verschieden nach dem Bildungsgrade der Nation, der sie angehören, nie den Tagediebcharakter verleugnend; ..."
K. Marx, Klassenkämpfe 1848-1850, MEW 7, 26.

Dr. Wolfgang Hien war im Erstberuf Chemielaborant mit insgesamt 17 Jahren Betriebserfahrung in Labor und Produktion. Er studierte an der Universität Heidelberg in den Fächern Biochemie und Philosophie sowie in Soziologie, Psychologie, Pädagogik und Arbeitswissenschaft an der Universität Bremen mit Abschluß 1988 (Dipl.-Päd.) und Promotion 1992 in Arbeits- und Gesundheitswissenschaften. Seit 1989 war er in Forschung und Lehre tätig, zwischen 2003 und 2005 Referatsleiter für Gesundheitsschutz beim DGB-Bundesvorstand. Seit Januar 2006 ist er Inhaber und Leiter des Forschungsbüros für Arbeit, Gesundheit und Biographie in Bremen. [1]

Beim 165. Jour Fixe der Hamburger Gewerkschaftslinken [2], der am 4. Juli im Curiohaus stattfand [3], stellte Wolfgang Hien sein Buch "Gegen die Zerstörung von Herz und Hirn - '68' und das Ringen um menschenwürdige Arbeit" [4] vor. Im Anschluß daran beantwortete der Autor dem Schattenblick einige Fragen.

Schattenblick (SB): Man findet bei Marx Textpassagen, in denen er vom "Lumpenproletariat" spricht, womit er einerseits Streikbrecher meint, im Grunde aber all jene, die keine "echten" Proletarier sind. Ist das ein Moment, wo bereits beim Klassiker Marx die Unterscheidung in gute und schlechte Arbeiter angelegt ist?

Wolfgang Hien (WH): Ja, leider ist das so. Ich habe mich damit eingehend beschäftigt und denke, daß Marx hier irrt, historisch und empirisch irrt, wenn er gerade diese unteren Schichten der Arbeiterklasse, die sich in prekären, ungesicherten und auch unqualifizierten Verhältnissen in der Arbeitswelt durchsetzen und ihr Leben sichern mußten, so abwertend beschreibt. Sie waren oft die ersten, die spontan gestreikt haben in den Bergwerken, in den Stahlwerken. Oder beispielsweise auch die Textilarbeiterinnen, die ungelernten, am härtesten betroffenen Arbeiterinnen, die dann in die Ausstände gegangen sind wie etwa in Crimmitschau [5] und einen von der Gewerkschaft nicht gedeckten Streik neun Monate durchgehalten haben, bei dem es um Reduzierung der Arbeitszeit auf ein menschliches Maß ging. Ich glaube, daß Marx und natürlich die ganze führende Schicht der sozialdemokratischen Partei leider Gottes schon diesen Unterschied machten zwischen dem "richtigen" Arbeiter, der eigentlich aus der Handwerkstradition kommt und gelernter Arbeiter ist oder schon einen besseren Stand innerhalb des Betriebs hat und den ungelernten Arbeitern, denen sie nichts zutrauten, weil sie angeblich keine Organisationskultur hatten und nicht über den Tag hinaus denken konnten. Und selbst wenn diese Einschätzung in Teilen stimmen mochte, waren es dennoch die kämpferischten Teile der Arbeiterschaft. Wie ich in meinem Buch "Die Arbeit des Körpers" [6] herausgearbeitet habe, hätte sich zum Beispiel ohne die spontanen Streiks der Bergarbeiter nach großen Unglücksfällen oder wegen berufsspezifischer Krankheiten auch in der Arbeitsschutzgesetzgebung längst nicht soviel getan, wie es dann der Fall war.

SB: In aufschlußreichen Beschreibungen, sei es der englischen Industrialisierung oder der massenhaften Proletarisierung der bäuerlichen Bevölkerung in Rußland, ist von einer tiefsitzenden Abwehr gegen die Zwänge der Fabrik die Rede. Wurden diese Menschen für eine Arbeit zugerichtet, gegen die sie zunächst spontan rebellierten?

WH: Ja, genauso war es. Gerade die Neuankömmlinge haben am heftigsten rebelliert. In der amerikanischen Fabrikgeschichte kam es immer wieder zu spontanen Streiks der Neuankömmlinge in der großen Automobilindustrie in Detroit und anderen Städten wie sie auch den anarchistischen Gruppen innerhalb der Arbeiterklasse zugeneigt waren. Sie haben solche Streiks maßgeblich mitgetragen, so chaotisch sie auch waren, oder haben es nicht mehr ertragen und sind krank geworden. Es gab Gewaltausbrüche in der Fabrik, worauf die rebellischen Arbeiter von der Polizei einkassiert und in geschlossene Irrenanstalten gesteckt wurden. Man hat gesagt, die unteren Teile der Arbeiterklasse, die Ungelernten, sind eben besonders krankheitsanfällig, das ist der "Schwächlingstyp", von dem ich vorhin in meinem Vortrag gesprochen habe. Dazu gibt es Literatur aus der Industriepsychiatrie, die eine solche Typisierung durchgesetzt und entsprechende Kategorien noch bis in die 1970er Jahre durchgetragen hat.

SB: Du hast beschrieben, daß viele gefährliche, besonders gesundheitsgefährdende Arbeitsplätze abgebaut worden sind, aber die Arbeitstätigkeiten, die danach kamen, auf andere Weise schädlich und nicht menschengerechter waren. Was macht die gängige Auffassung, insbesondere durch IT-Technologie sei die Arbeit leichter geworden, zu einem Trugbild?

WH: Ich möchte das anhand des Beispiels, von dem ich vorhin im Vortrag gesprochen habe, näher ausführen. Ein Chemiearbeiter, der mit zwölf Bildschirmen eine Anlage die ganze Nacht lang überwachen soll, hat es auf den ersten Blick leicht. Er muß keine schwere körperliche Arbeit mehr verrichten und sitzt in einem 4000 Euro teuren Sessel mit allen ergonomischen Finessen vor den Bildschirmen. Wieso fühlt er sich derart unwohl bei dieser Tätigkeit? Er fühlt sich unwohl und ist total gestreßt, weil er im Grunde die Komplexität des Produktionsprozesses nicht wirklich überblicken kann, weil er auf eine abstrakte Verbildlichung des Prozesses angewiesen ist, die aber Fehler beinhalten kann, die er nicht sieht, weil sie vom System übersehen werden, und die dann vielleicht zu enormen Problemen führen.

Vor allem aber fehlt ihm das Wichtigste, nämlich der Austausch, die Sozialität mit anderen Arbeitern, mit Kollegen, das einfache Gespräch, das nichtfunktionale Gespräch, das einfach zum Leben gehört. Diese Grundsolidarität als Gefühl hängt ja davon ab, daß ich Austausch habe mit anderen Menschen und empfinde, daß ich nicht allein bin. Doch die Alleinarbeit nimmt immer mehr zu, sei es bei den Softwareentwicklern oder selbst in Großraumbüros, die oft Ansammlungen von Einzelkämpfern sind. Es existiert überhaupt kein Miteinander mehr, sondern nur noch die Konkurrenz untereinander, und das macht die Menschen krank, zum Teil auch körperlich krank. Es ist ja nicht nur der Geist belastet, sondern die Leiblichkeit des Menschen als Ganzes kommt ins Spiel. Es gibt unglaublich viele neuartige psychosomatische Erkrankungen durch diese neuen Arbeitsbelastungen, die den Körper zerrütten, der nach wie vor involviert ist.

SB: Du sprichst auch vom Leibkörper. Warum hast du diesen Begriff eingeführt?

WH: In der deutschen Sprache können wir glücklicherweise zwischen dem Körper und dem Leib unterscheiden. Der Körper ist sozusagen das materiell durch naturwissenschaftliche Gesetze Festmachbare. Also das ist praktisch der Körper, der auf dem Seziertisch des Mediziners liegt, der die Organe untersucht. Der Leib ist in der deutschen Lebensphilosophie - übrigens gibt es ihn schon bei Marx, der auch von der Leiblichkeit, vom Leib des Menschen spricht - das lebendige Ineinander von Körperlichkeit, Geist und Seele des Menschen, und zwar nicht nur so, wie ich jetzt hier sitze, sondern im Austausch. Wir als Interaktion im Austausch mit den anderen in dem Gefühl, ich bin nicht allein, sondern ich lebe zur Welt der anderen Menschen und Dinge in dieser Welt. Diesen Begriff von Leiblichkeit halte ich für sehr wichtig und wenn ich von Leibkörper spreche, dann möchte ich die Einheit darstellen, daß ich lebendig bin, in Beziehung bin, aber auch einen funktionierenden Körper brauche, damit ich überhaupt sein kann und mein Kopf arbeitet. Im Arbeitsprozeß wird der Leibkörper auseinandergerissen in einen Körper, der zu funktionieren hat, der zugerichtet wird, und die Leiblichkeit, die vergessen oder auf die Freizeit und Familie verschoben wird. Aber der Mensch ist eine Einheit und läßt sich nicht auf diese Weise unterteilen, wie das so manche Strategen gerne hätten.

SB: Du bringst also einen Begriff von Gesundheit ins Spiel, der nicht auf eine bloße Reparatur der Arbeitskraft hinausläuft?

WH: Genau. Ich sehe die Gesundheitsbegrifflichkeit oder auch die Konzeption von einer ganz anderen Seite. Der Mensch müßte in der Art und Weise, wie er lebt und arbeitet, von vornherein gemäß seiner körperlichen, leiblichen, geistigen und seelischen Fähigkeiten in Gemeinschaft mit anderen seinen Platz finden und dies mit allen Möglichkeiten einer Weiterentwicklung, mit allen Möglichkeiten, neue Wege einzuschlagen, mit allen Möglichkeiten der Kreativität und der Fantasie - nicht ohne Hintergedanken war ja die Hauptparole des Mai 1968 "Fantasie an die Macht!". Ich wünsche mir eine Welt, in der die Menschen wieder ihre Fantasie leben und sich als anerkannte Wesen fühlen können, die sich selbst, aber auch die Welt ein Stück weiter entwickeln. Das wünsche ich mir, und das wäre für mich der Begriff der Gesundheit.

Gesundheit heißt nicht, daß ich vollkommen fit bin und alles funktioniert, sondern Gesundheit ist das aktive zur Welt Sein, der aktive Austausch mit anderen Menschen und den Dingen in der Welt. Das ist für mich Gesundheit, da darf auch mal ein Bein gebrochen sein, das dann wieder gut zusammenwächst. Aber was ich bekämpfe, seit ich denken kann, ist diese Reparaturmedizin oder auch dieses Körperbild von vielen Arbeitern, die dann sagen, ja wenn etwas kaputt ist, gibt's die Medizin, die soll mich wieder zusammenflicken. Dieses Denken in einem solchen Körperschema ist total hinderlich und eine Art von Lebensphilosophie der Arbeiterklasse, die meiner Ansicht nach in die Irre führt. Man kann natürlich viel reparieren, aber der Mensch ist dennoch kaputt, die Leiblichkeit ist zerstückelt.

SB: Wäre in diesem Sinne nicht ein integrativer Ansatz erforderlich, der die klassische Linke, die sich auf eher traditionelle Weise mit der Arbeitswelt beschäftigt, mit Entwürfen aus anderen Feldern gesellschaftlicher Auseinandersetzung verbindet?

WH: Da bin ich völlig auf deiner Seite. Ich kämpfe schon lange dafür, auch Philosophien oder Konzepte und Überlegungen bestimmter Teile der alternativen Medizin, einer sanften Medizin, aber auch einer sprechenden Medizin, einer anderen Art von Lebensweise, Überlegungen zu einer ökologischen Landwirtschaft, ein neues Bewußtsein, wie wir von der Erde und vom Boden abhängig, wie die Kreisläufe in der Natur beschaffen sind, mit einzubeziehen in die Arbeitswelt, in meine persönliche Befindlichkeit und meine Stellung innerhalb der Arbeitswelt. Daß all das mitreflektiert wird, wäre ein großer Wunsch von mir. Der Versuch, diese Dinge einzubeziehen, scheitert ja oft schon an den Schemata und den Ressortegoismen auch innerhalb der Gewerkschaften und der Parteien. Da wünsche ich mir eine viel größere Offenheit. Derartige Ansätze gab es ja schon früher einmal in den Gesundheitstagen, in der Wechselwirkung von Umwelt- und Gesundheitsbewegungen mit den Betrieben und Arbeitern. Ich wünsche mir, daß ein solcher Gedanke neu auflebt.

SB: Die hast den Entwurf einer Gesellschaft ins Gespräch gebracht, die nicht auf Wachstum fixiert ist. Solche Ansätze sind derzeit in der jungen aktivistischen Umweltbewegung präsent. Siehst du auch da Brücken und Verbindungen?

WH: Ja. Ich sehe Möglichkeiten, wenngleich ich nicht weiß, ob es sich verwirklichen läßt, mit jüngeren Gruppen aus der autonomen Szene, aus der Umweltszene, auch mit jungen Leuten der vegetarischen und veganen Szenen ins Gespräch zu kommen. Ich hoffe sehr, daß sich eine Sprache und eine Begrifflichkeit finden läßt, die Brücken bauen kann zu dem anderen, jungen Lebensgefühl und umgekehrt zu den Erfahrungen, die wir Alten halt schon gemacht haben. Ein Gespräch in der Offenheit, daß vielleicht wir Alten ertragen müssen, daß die Jungen vieles anders sehen als wir. Ich bin sehr dafür, daß da neue Brücken gebaut werden, und mir wäre das unglaublich wichtig, daß wir gerade die Verbindung zur Umweltbewegung und insbesondere einer ökologischen Landwirtschaft wiederherstellen.

SB: Wolfgang, vielen Dank für dieses Gespräch.


Fußnoten:

[1] http://www.wolfgang-hien.de

[2] http://www.gewerkschaftslinke.hamburg

[3] BERICHT/324: Substantielle Schäden - Arbeit in der Abhängigkeit ... (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prbe0324.html

[4] Wolfgang Hien, Peter Birke: Gegen die Zerstörung von Herz und Hirn. "68" und das Ringen um menschenwürdige Arbeit, VSA Verlag, Hamburg 2018, 256 Seiten, 22,80 Euro, ISBN 978-3-89965-829-3

[5] Der Streik der Textilarbeiterinnen von Crimmitschau im Königreich Sachsen dauerte vom August 1903 bis in den Januar 1904. Streik und Aussperrung lösten unter der organisierten Arbeiterschaft wie auch unter den Fabrikanten eine beispiellose reichsweite Solidarisierung mit den jeweiligen lokalen Konfliktparteien aus, wobei die öffentliche Meinung überwiegend auf seiten der Streikenden war.

[6] Wolfgang Hien: Die Arbeit des Körpers. Eine kritische Arbeitsgeschichte von der Hochindustrialisierung in Deutschland und Österreich bis zur neoliberalen Gegenwart, mandelbaum kritik & utopie, Wien 2018, 344 Seiten, 25 Euro, ISBN: 978385476-677-3

11. Juli 2018


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