Schattenblick → INFOPOOL → POLITIK → REPORT


INTERVIEW/428: Dem Karl Liebknecht haben wir's geschworen - vernichtende Aussichten ...    Vladimiro Giacché im Gespräch (SB)


Gespräch am 12. Januar 2019 in Berlin


Auf der XXIV. Internationalen Rosa-Luxemburg-Konferenz am 12. Januar in Berlin referierte Vladimiro Giacché zum Thema "Die nächste imperialistische Krise". Er sprach in seinem Vortrag vom Ende einer Epoche, da die Krise von 2007 gezeigt habe, daß Wachstum und Profit im Kapitalismus nicht mehr durch Finanzspekulation gewährleistet werden können, weshalb ein Systemwechsel nötig sei. Ausgehend von den Funktionen des "zinstragenden Kapitals" legte er dar, warum diese nicht länger erfüllt werden können. Giacché diskutierte verschiedene Ansätze zur Lösung der Krise, ihre Grenzen und teils verheerenden Konsequenzen. Mit Marx plädiert er dafür, die Eigentumsfrage zu stellen und ein höheres Stadium der gesellschaftlichen Produktion herbeizuführen.

Dr. phil. Vladimiro Giacché ist Wirtschaftswissenschaftler und Finanzfachmann. Er studierte in Pisa und in Bochum Wirtschaftswissenschaften und absolvierte an der Scuola Normale Superiore ein Zusatzstudium in Philosophie. Von 1995 bis 2006 war er für Mediocredito Centrale, eine staatliche Bank für die Entwicklung des südlichen Italiens, tätig und dort u. a. für die interne Revision verantwortlich. In dieser Zeit leitete er für die italienische Fernsehgesellschaft RAI zugleich das Programm "Multimediale Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaft". Seit 2007 ist er Partner der Finanzgruppe Sator in Rom und auch dort für die interne Revision verantwortlich. Er arbeitet als Präsident des Zentrums für Europa-Forschungen (Centro Europa Ricerche) in Rom und ist Mitglied des Verwaltungsrates der Banca Profilo S.p.A.

Giacché hat zahlreiche Bücher wie auch Artikel in Zeitungen und Zeitschriften zu philosophischen und ökonomischen Fragen in Italien und im Ausland veröffentlicht. Ins Deutsche übersetzt wurden u. a. "Titanic Europa. Geschichte einer Krise" (2013) [1], "Anschluss - Die deutsche Vereinigung und die Zukunft Europas" (2014) [2] und zuletzt "Lenins ökonomisches Denken nach der Oktoberrevolution" (2018) [3].

Im Anschluß an seinen Vortrag beantwortete er dem Schattenblick einige Fragen zur Bewegung des Kapitals, zur drohenden Kriegsgefahr, zum Wachstumsmodell und zur deutschen Hegemonie in Europa.


Blickt mit dem Buch in der Hand in die Kamera - Foto: © 2019 by Schattenblick

Vladimiro Giacché beim Signieren seines Buches am Stand der jungen Welt
Foto: © 2019 by Schattenblick


Schattenblick (SB): Verfolgt man die Entwicklung und Bewegung des Kapitals, erscheint es oft wie eine Macht, die unaufhaltsam ihren Weg geht, die ohne einen eigenen Willen, eine eigene Perspektive zu haben, trotzdem Mechanismen abarbeitet und noch mehr Profit schafft. Wie ist das Verhältnis dieser ökonomisch zu beschreibenden Entwicklungstendenz und menschlichen Akteuren, also Machtakteuren, die sich dessen bedienen, zu charakterisieren?

Vladimiro Giacché (VG): Es handelt sich eindeutig um einen Mechanismus, dessen einzelne Elemente durchweg eine selbständige Wirkung entfalten und der insgesamt gesehen als eine Selbsttätigkeit charakterisiert werden kann. Ich habe in jungen Jahren als Philosoph Hegel studiert, der etliche Begriffe wie Selbstzweck oder Selbsttätigkeit parallel verwendet hat, die sich sehr gut zur Beschreibung der Bewegung des Kapitals benutzen lassen. Und natürlich wurde diese Begrifflichkeit von Marx aufgegriffen und bearbeitet, aber auch direkt benutzt. Das ist meines Erachtens eine zentrale Eigenschaft des Kapitals. Wie ich feststellen konnte, hebt auch die neue ökonomische Literatur eben diesen Charakter des Kapitals wieder hervor, wenn man einmal von den Mainstream-Ökonomen absieht. Beispielsweise versucht Anwar Shaikh in seinem Buch "Capitalism", diese Wellen, also die grundsätzliche Bewegung des Kapitals zu verfolgen und zu zeigen, um welche automatisch ablaufenden Prozesse es sich handelt. In diesem Prozeß kommt dem, was ich nach Marx zinstragendes Kapital nenne, eine besondere Bedeutung zu. Die letzten Jahrzehnte waren ganz klar von der Tendenz geprägt, daß das zinstragende Kapital im Verhältnis zu dem Industriekapital, dem sogenannten produktiven Kapital, eine immer gewichtigere Rolle einnahm. Diese Entwicklung verschärfte den immanenten Widerspruch, daß das Finanzkapital einerseits die Profite enorm beflügelt hat, während andererseits die Produktion, die nach wie vor die Grundlage der kapitalistischen Ökonomie darstellt, demgegenüber immer weiter zurückfiel.

Das ist zwangsläufig kein haltbares Modell, und der dafür zu entrichtende Preis fällt sehr hoch aus, wie die letzten Krisen gezeigt haben. Seit etwa 1980 zeichneten sich diese beiden parallelen, aber gegenläufigen Bewegungen ab. Dem Höhenflug des zinstragenden Kapitals standen sinkende Realinvestitionen gegenüber, wobei die daraus resultierende Kluft von ersterem gefüllt werden mußte. Dieses ungesunde Modell führte dazu, daß auf drei satte Jahrzehnte eines aufstrebenden zinstragenden Kapitals dann 2007 eine tiefe weltweite Krise folgte, die nach bester kapitalistischer Tradition natürlich von den einfachen Leuten, von der Arbeiterschaft, bezahlt werden mußte.

Meines Erachtens kann dem Versuch, dieses Modell am Leben zu erhalten, indem man die Probleme ausbügelt und dann wieder alles in Gang setzt, kein Erfolg beschieden sein. Denn es sind drei Funktionen des zinstragenden Kapitals zu nennen, die es bis zur Krise erfüllt hat, aber seither nicht mehr leisten kann. Dies zu verstehen ist angesichts der daraus resultierenden Folgen sehr wichtig. Erstens kann das Problem auf breiter Front sinkender Löhne nicht länger vom Finanzkapital verschleiert werden. Zweitens kann die latente Überproduktionskrise immer weniger am Ausbruch gehindert werden. Und drittens wird die Art und Weise, wie Finanzprofite erwirtschaftet werden können, immer riskanter, und das heißt, daß diese Volatilität, wie man zu sagen pflegt, immer höhere Risikoprämien erzwingt. Meiner Auffassung nach ist mit 2007 eine ganze Epoche zu Ende gegangen, und zwar die Epoche des zinstragenden Kapitals, während der das Wachstum durch Schulden erwirtschaftet wurde, um es einmal im Groben zu beschreiben.

SB: Sie haben in Ihrem Vortrag verschiedene Möglichkeiten angesprochen, derer sich Staaten bei der Bewältigung von Krisen bedienen. Wie groß ist Ihres Erachtens in diesem Zusammenhang die Gefahr begrenzter Kriege oder gar einer weltweiten Kriegsführung einzuschätzen?

VG: Diese Gefahr ist sehr groß. Man stößt im Kontext zunehmender Spannungen auf eine ganze Reihe eigenartiger Phänomene, die sich zunächst nicht hinreichend verstehen lassen. Man nehme nur den Haß gegen Rußland, für den es zwar historische Gründe, aber kaum eine aktuelle Grundlage gibt, die seine Eskalation begreiflich machen würde. Diese und andere konfliktschürende Erscheinungen können leichter entschlüsselt werden, indem man berücksichtigt, daß Krieg ein Ausweg aus einer ansonsten nicht lösbaren Krise sein kann. Es ist natürlich verrückt, auf solch eine Lösung zu setzen und sie zu betreiben, doch wird dies durchaus thematisiert. Ich habe in meinem heutigen Vortrag die Aussage des Ökonomen Larry Summers zitiert, wonach es historische Beispiele gibt, in denen Krieg die Lösung zur Wiederbelebung der Investitionen war. Und heute, fährt Summers fort, könne er keine andere realisierbare exogene Lösung erkennen. Wenngleich er nicht offen ausspricht, daß Krieg die einzig verbliebene Lösung zur Bewältigung der Krise sei, da keinerlei andere Impulse zur Ankurbelung von Investitionen in Sicht sind, läuft seine vielsagende Einlassung doch genau darauf hinaus.

Eine andere Lösung böte vielleicht der von den Chinesen betriebene Ansatz, das zinstragende Kapital auf seine ursprüngliche Funktion zu reduzieren. Es wird in Anspruch genommen, um Schulden zu machen, die dann aber dazu dienen, Realinvestitionen zu tätigen. Das könnte beispielsweise bedeuten, in Infrastrukturprojekte besonders in Asien zu investieren, wo in dieser Hinsicht noch ein beträchtlicher Bedarf besteht. Auch wäre das wohl geeignet, die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Europa und Asien auszubauen und zu vertiefen. Die dritte denkbare Vorgehensweise liefe darauf hinaus, im wesentlichen genauso weiterzumachen wie bisher, als ob alles gutgehen könnte.

Ich befürworte eine vierte Lösung, nämlich eine Deglobalisierung - oder, laut Dani Rodrik, De-"Hyperglobalisierung" - um die Herrschaft des Finanzkapitals zu beenden. In den westlichen Ländern wächst das Unbehagen, weil das zinstragende Kapital seine erste Funktion immer weniger erfüllt, für einen gewissen Lebensstandard zu sorgen oder ihn zumindest in Aussicht zu stellen. Die Leute fühlen sich ärmer und sind es auch, weshalb die Bereitschaft wächst, die Herrschaft der Finanzmärkte dafür verantwortlich zu machen und ihr Ende zu fordern. Das wird für sich genommen aber nicht funktionieren, weshalb ich dafür plädiere, auch wenn es natürlich unzeitgemäß erscheinen mag, die Eigentumsfrage in die Hand zu nehmen. Das Kernproblem ist nun einmal das private Eigentum an den Produktionsmitteln, woraus die selbsttätige Bewegung des Kapitals resultiert, die nur ein Ziel hat, nämlich die Vermehrung seiner selbst. Das ist, wie Marx es ausdrückte, ein primitives Stadium der Ökonomie.

SB: Wachstum galt in der Vergangenheit gewissermaßen als Allheilmittel und wurde mit Fortschritt gleichgesetzt. Nun ist aber zu den ökonomischen Krisen die Problematik endlicher Rohstoffe und der Klimawandel hinzugekommen. Müßte der Entwurf einer anderen Gesellschaft nicht auch das Wachstum in Frage stellen?

VG: Ja natürlich, das stimmt. Ich würde auch sagen, man sollte das Wachstum anders bemessen, als es bislang der Fall ist. Ereignet sich beispielsweise irgendwo ein Erdbeben, kann das durchaus zu einem höher errechneten Bruttoinlandsprodukt führen. Trotz der vielen Zerstörungen oder gerade deswegen wurde etwas in Bewegung gesetzt. Das ist natürlich eine Art und Weise, das Wachstum zu berechnen, die zumindest einige Zweifel aufwirft. Für eine kapitalistische Gesellschaft ist es indessen die richtige Berechnungsweise, was nur den Schluß zuläßt, daß es einer anderen Gesellschaft bedarf, um ein harmonisches Wachstum mit einem menschlichen Inhalt möglich zu machen, das sich nicht am Bruttoinlandsprodukt und insbesondere dem Profit bemißt. Das, glaube ich, wird der Sozialismus sein.

Ich denke nicht, daß das erst die Sache einer fernen Zukunft sein kann. Angesichts der unhaltbaren heutigen Lage zeichnet sich immer deutlicher ab, daß es einer tiefgreifenden Veränderung bedarf. Als Waffe gegen eine angemessene Einschätzung der Schranken unserer Gesellschaft wird natürlich immer wieder ins Feld geführt: There is no alternative. Ich glaube hingegen, daß wir alle nach einer Alternative suchen sollten, und denke, daß es aus der Geschichte der Arbeiterbewegung im letzten Jahrhundert sehr viele Lehren zu ziehen gibt. Aus diesem Grund gilt es, die Geschichte der sozialistischen Länder sehr sorgfältig ohne Selbstbeschränkung, aber auch ohne Dämonisierung zu studieren, um zu vermeiden, daß diesbezügliche Argumente auf eine mystifizierende Weise behandelt werden.

SB: Sie haben im Kontext des Anschlusses der DDR beschrieben, wie die deutsche Stärke zunehmend ausgebaut wurde, so daß auch das Ungleichgewicht in Europa immer größer wurde. In einem tragfähigen Zukunftsentwurf müßte Deutschland denn wohl auf seine Vorherrschaft, auf seine hegemoniale Rolle in Europa verzichten.

VG: Das ist ganz offensichtlich. Es ist bemerkenswert, daß einige Phänomene, die den Anschluß der DDR begleitet haben, während der Krise in einigen Ländern Südeuropas abermals sichtbar geworden sind. Selbst ein tendenzielles Gleichgewicht ist auf diese Weise unhaltbar geworden, was zwangsläufig dazu führt, daß die europäischen Staaten auseinanderdriften und Europa zu zerbrechen droht. Die Logik des Kapitals und insbesondere des deutschen Kapitals hat diese Entwicklung vorgegeben. Dies verweist auf einen komplexen Zusammenhang, der eines eigenen Interviews bedürfte. Wie ich aber an dieser Stelle zumindest andeuten kann, wurden Mechanismen etabliert, die wie die Maastrichter Verträge jene Staaten und Systeme belohnen, die beim Senken der Löhne besonders erfolgreich sind.

Das ist in ökonomischer Hinsicht insofern ein Widersinn, als es zwangsläufig auf eine schwache Binnennachfrage hinausläuft. Ich bin dann in gewisser Weise ein Parasit der übrigen Welt, was nicht unendlich funktionieren kann. Eine Folge ist beispielsweise der aufziehende Handelskrieg zwischen den Vereinigten Staaten und Europa. Das Modell war derart überzogen, daß seine wachsende Schieflage schließlich das ganze Gebäude zum Einsturz zu bringen droht. Im Grunde genommen kann man sagen, daß dieses Europa spätestens seit dem Maastrichter Vertrag die falsche Richtung einschlägt. Es gibt zudem einige spezifischen Probleme, was das Verhältnis zwischen den nationalen Verfassungen einiger europäischer Staaten und den Maastrichter Verträgen betrifft. Das schafft zwar ebenfalls beträchtliche Unwuchten, doch bleibt als grundsätzliches Problem festzuhalten, daß ein neoliberales Europa auf die Dauer nicht funktioniert.

SB: Herr Giacché, vielen Dank für dieses Gespräch.


Vladimiro Giacché beim Vortrag auf der Großleinwand - Foto: © 2019 by Schattenblick

Die Eigentumsfrage in die Hand nehmen ...
Foto: © 2019 by Schattenblick


Fußnoten:


[1] Vladimiro Giacché: Titanic Europa - Geschichte einer Krise, Zambon Verlag Frankfurt 2013, 176 Seiten, 10,00 Euro, ISBN: 978-3-88975-208-6

[2] Vladimiro Giacché: Anschluss - Die deutsche Vereinigung und die Zukunft Europas, Laika Verlag Hamburg 2014, 168 Seiten, 22,00 Euro, ISBN: 978-3-944233-26-0

[3] Vladimiro Giacché: Lenins ökonomisches Denken nach der Oktoberrevolution, Neue Impulse Verlag Essen 2018, 144 Seiten, 9,80 Euro, ISBN: 978-3-961700-18-9


Berichte und Interviews zur Rosa-Luxemburg-Konferenz, Liebknecht-Luxemburg-Demo und zum Jahresauftakt Der Linken im Schattenblick unter:
www.schattenblick.de → INFOPOOL → POLITIK → REPORT

BERICHT/328: Dem Karl Liebknecht haben wir's geschworen - zögerliche Ernte ... (SB)
BERICHT/329: Dem Karl Liebknecht haben wir's geschworen - vorbildlich inszeniert ... (SB)


3. Februar 2019


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang