Schattenblick → INFOPOOL → POLITIK → REPORT


INTERVIEW/443: Diskurs - lernen, sprechen und begreifen ...    Edda und Helmut Lechner im Gespräch (SB)


Gespräch am 7. Juli 2019 in Elmshorn


Am 18. Juni 2019 wurde der Philosoph und Soziologe Jürgen Habermas 90 Jahre alt. Die Arbeitsgemeinschaft Kommunistische Politik von unten in der Partei Die Linke Schleswig-Holstein nahm dies zum Anlaß, um sich kritisch mit seiner Rolle als "Staatsphilosoph der BRD" auseinanderzusetzen. Beim Treffen am 7. Juli im Linken Zentrum Bauerweg in Elmshorn wurde sein Nimbus eines frühen Verteidigers linker Bewegungen unter die Lupe genommen und eine Einschätzung erarbeitet, was sich gegen seine Ansätze ins Feld führen läßt und ob sie in Teilen nutzbar gemacht werden können. Grundlage der Diskussion war insbesondere der Festvortrag "Zum Verhältnis von Moralität und Sittlichkeit", den Habermas am 19. Juni 2019 vor 3000 Gästen an der Goethe-Universität Frankfurt gehalten hat. [1] Im Anschluß an die Zusammenkunft des Arbeitskreises beantworteten Edda und Helmut Lechner dem Schattenblick einige Fragen zu Geschichte und Gegenwart ihres langjährigen politischen Engagements.


Beim Gespräch - Foto: © 2019 by Schattenblick

Edda und Helmut Lechner
Foto: © 2019 by Schattenblick

Schattenblick (SB): Ihr könnt auf viele Jahre politischer Arbeit zurückblicken. Wie ist es dazu gekommen, daß ihr damals diesen Weg eingeschlagen habt, den ihr noch heute engagiert weitergeht?

Helmut Lechner (HL): Ich heiße Karl-Helmut Lechner und war in meiner Vorvergangenheit lutherischer Pfarrer in Schleswig-Holstein. 1975 sind Edda, ich und ein dritter Kollege im Zusammenhang mit viel Krawall und unter dem Stichwort Berufsverbot und Wandel zum Atheismus aus der Kirche ausgetreten. Wir haben dann eine Umschulung zum Schlosser gemacht und ich war seit 1979 beim Gabelstaplerkonzern Jungheinrich 27 Jahre lang in der Werkstatt tätig, bin dort Betriebsratsvorsitzender und für die IG Metall als Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat gewesen. Praktisch mit seiner Gründung sind wir 1973 in den Kommunistischen Bund Westdeutschland (KBW) eingetreten. 1980 kam es zur Spaltung, nachdem eine Kontroverse um die Vaterlandsverteidigung eskaliert war, weil eine Mehrheit im KBW vertrat, daß der Sozialimperialismus der Sowjetunion gefährlicher als der Imperialismus der USA sei. Das ging so weit, daß man die NATO unterstützte und weitere Positionen des westlichen Bündnisses übernahm. Viele aus diesen Kreisen sind dann auch zu den Grünen gegangen. Wir haben mit etwa einem Drittel der damaligen Mitglieder die Organisation verlassen und den Bund Westdeutscher Kommunisten (BWK) gegründet.

Seit dieser Zeit geben wir die Zeitung Politische Berichte [2] heraus, die im Mittelpunkt unserer politischen Arbeit steht. So haben wir also in der IG Metall und im Betriebsrat gearbeitet, aber auch den Weg in die Linke mitvollzogen. 1990 versuchten dann verschiedene linke westdeutsche Gruppen, unter dem Dach der PDS eine Heimat zu finden, was aber, wie man sagen muß, von der PDS hintertrieben wurde. Wir haben dann aber individuell Zugang zur PDS gefunden und 2005 auch den Wechsel zur Partei Die Linke mitgemacht. Das war der Weg, den wir gegangen sind.

Wir arbeiten weiterhin in der Zeitung Politische Berichte, deren Mitherausgeber ich bin. Mein inhaltlicher Schwerpunkt ist die Auseinandersetzung mit Religion. Zur Zeit veröffentliche ich Beiträge zur Frage der Integration beispielsweise islamischer Gemeinden und halte immer wieder Vorträge zu diesem Thema. Darin dränge ich darauf, daß es erforderlich ist, als Linke nicht nur eine freundliche Willkommenskultur zu propagieren, sondern sich auch dafür einzusetzen, daß diese Religionsgemeinschaften Rechte bekommen, um hier auch wirklich gleichberechtigt anzukommen. Insofern propagiere ich jetzt insbesondere den Gedanken, daß Die Linke dafür aktiv wird, den islamischen Gemeinden wie zum Beispiel der Schura in Hamburg einen Status vergleichbar jenem der Kirchen zu geben, sie also als Körperschaft des öffentlichen Rechtes anzuerkennen. Das ist sehr wichtig für die gesellschaftliche Integration und die gesellschaftliche Anerkennung dieser islamischen Gemeinden. Dieses Thema gehört zu den inhaltlichen Schwerpunkten, mit denen ich mich derzeit auseinandersetze.

SB: Was hat euch dazu bewogen, die Arbeitsgemeinschaft Kommunistische Politik von unten zu gründen?

HL: Als Landesverband des Bundes Westdeutscher Kommunisten gab es uns seit 1980. Das hat sich natürlich im Laufe der Zeit modifiziert, viele sind weggegangen und haben sich woanders engagiert. Wir haben uns als Arbeitsgemeinschaft in der PDS zusammengetan, weil wir der Auffassung sind, daß wir uns kritisch mit unserer eigenen Vergangenheit auseinandersetzen müssen. Das bedeutet, daß wir ihr nicht abschwören, gewissermaßen eine Nullinie ziehen und neu anfangen, sondern versuchen, unsere heutigen Positionen aus den früheren abzuleiten, mit ihnen abzugleichen und sie entsprechend zu kritisieren. Das schlägt sich dann immer wieder in Artikeln nieder, die wir schreiben und auf die Homepage Der Linken stellen, wo man sie unter KPvu lesen kann.

Mit dieser Arbeitsgemeinschaft sind wir auf der einen Seite klein und gewissermaßen ein Unikum in der Linkspartei, doch auf der anderen Seite beinahe die einzige Arbeitsgemeinschaft, die arbeitet und sich regelmäßig trifft. Wir kommen in der Regel fünf- oder sechsmal im Jahr zu so einem Thema wie dem heutigen zusammen. Uns ist klar, daß Die Linke einen theoretischen Umgang mit solchen Themen nicht mag und wir innerparteilich nicht besonders gut verankert sind. Das wäre jetzt eine Illusion und unzutreffend zu behaupten, daß wir typisch für den schleswig-holsteinischen Landesverband seien.

SB: Wir haben in meinen Augen etwas recht Außergewöhnliches gemacht, nämlich mehr als drei Stunden zusammengesessen, den Vortragstext gemeinsam gelesen und dann darüber diskutiert. So etwas dürfte heute nicht mehr allzu häufig vorkommen. Wäre es nicht notwendig, so eine Auseinandersetzung mit Theorie im Sinne einer emanzipativen Bildungsarbeit für breitere Bevölkerungsschichten durchzuführen, damit sie befähigt werden, mit der Komplexität der heutigen Anforderungen kritisch umzugehen?

HL: Du hast völlig recht.

Edda Lechner (EL): Die Theoriebildung ist eine wichtige Grundlage, wenn man Politik machen will. Wenn man nicht Bescheid weiß, was passiert, und nicht öffentlich Stellung nehmen kann, dann hat man die schlechteren Karten. Dies stets im Auge zu behalten ist etwas, was man für diese Gruppe sagen kann, und das gilt natürlich auch für Helmut und mich persönlich. Wir haben tatsächlich im Laufe unserer politischen Geschichte nur dann eine Wandlung vollzogen, wenn wir uns auch theoretisch damit befaßt haben. Deshalb haben wir auf diese Theoriebildung bis heute stets großen Wert gelegt. Unsere kleine Gruppe, die hier in Schleswig-Holstein tagt, hat sich das ebenfalls zu ihrem Ziel gemacht. Davon abgesehen haben wir alle mehr oder weniger auch in verschiedenen anderen Zusammenhängen gearbeitet, in Kiel zum Beispiel in der Flüchtlingspolitik, ich im Kampf gegen Kernkraftwerke oder Helmut, wie er erzählt hat, im Betrieb und in der Gewerkschaft. Ich habe sehr viel Politik zur Unterstützung internationaler Bewegungen gemacht, angefangen in der Kirche gegen den damaligen Vietnamkrieg und vieles mehr.

Aber bei uns gehört es eben immer dazu, daß wir gerne Bescheid wissen wollen, was bei Philosophen oder Politikern dahintersteckt. Wir haben im Zusammenhang der von uns mit aufgebauten Partei des demokratischen Sozialismus in Kiel oder in Schleswig-Holstein, aber auch auf Bundesebene, und beim Aufbau Der Linken, an dem wir rege teilgenommen haben, diese Ausrichtung immer wieder betont. Die ArGe Konkrete Demokratie - Soziale Befreiung führt zweimal im Jahr eine Schulung über Philosophie und Politik durch, und unsere kleine Gruppe hier in Schleswig-Holstein ist so eine Art Landesableger dieses Ansatzes. Dieses Lesen philosophischer und politischer Texte im Original ist also schon seit Jahrzehnten eine alte Gewohnheit von uns. Wir haben bei der ArGe die Philosophen von den Vorsokratikern über Platon bis hin zu Habermas mehr als einmal bearbeitet. Deswegen ist es nicht ungewöhnlich, daß wir heute diesen Text von Habermas gelesen haben.

HL: In Ergänzung dazu könnte es von Interesse sein, daß wir, wie gesagt, jedes Jahr mit der ArGe eine Winter- und eine Sommerschule durchführen. Die diesjährige Sommerschule ist dem Thema "Identität" gewidmet. Das ist auf der einen Seite ein gängiges Reizwort der Rechten, wenn du an die Identitären denkst, aber diese Begrifflichkeit hat ja auch einen philosophischen, geistesgeschichtlichen Hintergrund. Wir werden uns also mit der Herkunft dieses Begriffs auseinandersetzen und natürlich auch mit seiner konservativen, reaktionären Form und deren heutiger Argumentationsweise befassen. Einige dieser Ansätze kommen interessanterweise und für uns selber sehr frustrierend aus dem Existentialismus. Wir werden uns auch einen ganzen Tag lang mit dem christlichen Menschenbild beschäftigen, um herauszuarbeiten, inwieweit es eine Abgrenzung nach rechts ermöglicht, was man ja zur Zeit an den Kirchen sieht.

Es ist eine Wohltat, wenn ich das mit den 20er Jahren vergleiche, wie sich heutzutage die Kirchen beispielsweise klar in der Flüchtlingsfrage positionieren, das gilt sowohl für die Katholiken wie für die Evangelischen. Du kennst ja den Kulturprotestantismus und die Frage des deutschen Christentums, um ein Stichwort zu nennen, der von den 20ern bis hin in die 30er Jahre ganz schlimme Positionen vertreten hat, die gewissermaßen Teil der NSDAP-Ideologie gewesen sind. Das sind Positionen, die man inhaltlich nachvollziehen und aufarbeiten muß. Deshalb ist es wichtig und aufschlußreich, im Zusammenhang mit der Rechtsentwicklung auch das christliche Menschenbild zu thematisieren. Wie Edda schon sagte: Wenn man nicht weiß, wo man herkommt, weiß man auch nicht, wo man hingeht. Deshalb halten wir die Theoriebildung für so wichtig und arbeiten weiter daran.

SB: Wie anregend das in dieser Form ist, hat das heutige Treffen gezeigt.

EL: Ihr vom Schattenblick und ich kennen uns ja nun schon einige Jahrzehnte, weil wir nicht nur zu denen gehören, die sich mit Theoriearbeit befassen, sondern auch sehr viel schreiben. Ich habe zweimal im Leben eine Zeitung in der Redaktion mitgestaltet, eine örtliche in Norderstedt und dann auch bei Der Linken ein Info, das ich mehrere Jahre organisiert habe. Darüber hatten wir auch Kontakt. Über Die Linke hinaus haben wir auch mit anderen Zeitungen korrespondiert und ihnen unsere Artikel zur Veröffentlichung angeboten. Helmut schreibt ja von seiner Kenntnis her insbesondere Beiträge zur Arbeitswelt und Kirchenfrage, ich selber lege ein bißchen mehr Betonung auf historische Themen. Auf jeden Fall haben wir das Interesse, die von uns gesammelten Erkenntnisse und dazu verfaßten Artikel über die Politischen Berichte hinaus auch anderen Leuten zugänglich zu machen.

SB: Edda und Helmut, vielen Dank für dieses Gespräch.


Fußnote:

[1] BERICHT/345: Diskurs - Basisgespräche links ... (SB)
www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prbe0345.html

[2] www.politischeberichte.wordpress.com

17. Juli 2019


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang