Schattenblick → INFOPOOL → POLITIK → REPORT


INTERVIEW/466: Die Linke - in die Hände des Volkes ...    Janine Wissler im Gespräch (SB)


Gespräch am 14. Dezember 2019 in Berlin


Die Politologin Janine Wissler war seit 1997 in außerparlamentarischen Bewegungen und Bündnissen gegen Krieg, Sozialabbau und Nazis, später in der Studierendenbewegung und bei attac aktiv. Seit 2004 bei der WASG und seit 2007 Mitglied im Vorstand der Partei Die Linke, ist sie seit 2008 Abgeordnete im Hessischen Landtag und dort seit 2009 Vorsitzende der Linksfraktion. Zudem ist sie seit 2014 auch stellvertretende Bundesvorsitzende der Partei.

Am 14./15. Dezember fand in Berlin die Gründungsversammlung der Bewegungslinken statt [1]. Bereits am Freitagabend wurde bei einem öffentlichen "Hinterzimmergespräch" [2] mit über 70 Interessierten im Engels Café in Neukölln der thematische Bogen aufgespannt. Moderiert von Raul Zelik diskutierten Janine Wissler, Jana Seppelt und Thomas Goes über die strategische Aufstellung der Partei wie auch die mögliche Intervention der Bewegungslinken in der aktuellen Strategiedebatte. Janine Wissler war auch den folgenden beiden Tagen bei der Konferenz präsent und griff mit Wortbeiträgen in die Debatte ein. Zwischenzeitlich beantwortete sie dem Schattenblick einige Fragen.

Schattenblick (SB): Oskar Lafontaine hat jüngst vorgeschlagen oder zumindest laut darüber nachgedacht, daß der Zusammenschluß einer nach links rückenden SPD mit der Partei Die Linke eine Zukunftsoption sein könnte. Was ist aus deiner Sicht von einem derartigen Gedankenspiel zu halten?

Janine Wissler (JW): Ich habe das nicht als konkreten Vorschlag von Oskar Lafontaine verstanden. Wenn ich das richtig gelesen habe, hat er gesagt, es wäre eine gute Idee, doch seien gegenwärtig die Bedingungen überhaupt nicht gegeben, daß es funktionieren könnte. Das erst einmal vorweg gesagt. Ansonsten bin ich der Meinung, daß es gute Gründe gibt, warum sich Die Linke gegründet hat und eine solche Debatte derzeit jeder Grundlage entbehrt. Die SPD ist als Regierungspartei in der Großen Koalition, erhöht den Rüstungsetat, höhlt das Asylrecht aus, hält an Hartz IV und an der schwarzen Null fest, schnürt ein schlechtes Klimapaket. Man kann in der einen oder anderen Frage natürlich über die Option einer Zusammenarbeit nachdenken, aber daraus eine gemeinsame Partei zu machen, halte ich gegenwärtig für eine völlige Geisterdebatte. Ich habe Oskar Lafontaine, wie gesagt, auch nicht so verstanden, daß es ein konkreter Vorschlag wäre, das jetzt zu tun.

SB: Auf welche Weise könnte die Bewegungslinke ihre Ideen und Ansätze innerhalb der Gesamtpartei durchsetzen? Ist das ein Prozeß, der womöglich gegen den Rest der Partei erkämpft werden muß?

JW: Nein, ich würde gar nicht sagen, daß es ein Prozeß ist, der sich gegen den Rest der Partei richtet. Ich glaube vielmehr, daß sich in der Bewegungslinken gerade Menschen zu sammeln versuchen, die eine sehr starke Ausrichtung auf betriebliche Kämpfe, gewerkschaftliche Kämpfe, Klimaproteste haben. Es geht nicht darum, irgend etwas gegen den Rest der Partei zu tun, sondern Beispiele zu verallgemeinern und deutlich zu machen, wie die Linke in Bewegungen arbeiten kann, wie sie nicht nur dabei sein, sondern auch Motor von Bewegungen sein und Dinge konkret voranbringen kann. So verstehe ich diese Initiative, und jeder ist herzlich eingeladen, dabei mitzumachen. Da geht es nicht um ein Gegeneinander, sondern darum, wie man die Verankerung Der Linken in sozialen Bewegungen und Gewerkschaften stärken kann.

SB: Ein prominentes Beispiel von Bewegungen in Europa sind die Gelbwesten in Frankreich, die vehement jede Beteiligung von Parteien und Gewerkschaften als Organisationen ablehnen. Jeder kann mitmachen, aber nicht als Vertreter irgendeiner Partei, Gewerkschaft oder Organisation. Wie würdest du dieses Modell einschätzen, ist es übertragbar auf Deutschland? Und wäre es überhaupt sinnvoll, das übertragen zu wollen?

JW: Ich denke, daß man die Gelbwesten generell nicht auf Deutschland übertragen kann. Im März dieses Jahres war ich in Paris auf einer Demonstration der Gelbwesten, um mir diese Protestbewegung anzuschauen. Die Breite der Bewegung hat mich durchaus beeindruckt, und gegenwärtig finden die Generalstreiks in Frankreich statt. Natürlich sind auch diese Bewegungen nicht frei von politischen Einflüssen und politischen Akteuren, doch das kann man nicht eins zu eins auf Deutschland übertragen. Versuche, die Gelbwesten als Gelbwesten nach Deutschland zu holen, waren nicht gerade erfolgreich. Abgesehen davon haben wir Bewegungen in Deutschland, es ist ja nicht so, daß hier in dieser Hinsicht Mangel herrschte. Es gibt betriebliche Kämpfe, wir haben die Fridays-for-Future-Proteste, wir haben große Bewegungen gegen rechts. An diesen Bewegungen anzusetzen, sie zusammenzubringen, muß die Herangehensweise sein. Da können die Gelbwesten und der Generalstreik in Frankreich natürlich inspirierend sein, aber dieses Modell läßt sich nicht unmittelbar auf unsere Verhältnisse übersetzen.

SB: Wie könnte deines Erachtens eine Zusammenarbeit mit Fridays for Future herbeigeführt werden? Das ist ja bisher eine Bewegung gewesen, die von relativ jungen und eher bürgerlich-liberalen Kreisen getragen wurde.

JW: Nein, das sehe ich nicht so. Einer der Hauptslogans der Fridays for Future ist "system change not climate change". Das dürfte von Ort zu Ort ein bißchen unterschiedlich sein, aber in Frankfurt sind wir von Anfang an bei der Protestbewegung dabei, und dort ist das eine auch antikapitalistisch orientierte Bewegung. Es mag sicher sein, daß an den Gymnasien oder an den Gesamtschulen mehr als an anderen Schulen dafür mobilisiert wird. Aber ich sehe überhaupt nicht, daß das eine liberale Bewegung wäre, sondern nehme schon wahr, daß dabei sehr stark soziale Bedingungen, so wie sie sind, und gesellschaftliche Verhältnisse in Frage gestellt werden. Die Fridays for Future haben an verschiedenen Orten eine tendentiell unterschiedliche Ausprägung, aber in Frankfurt ist sie sehr systemkritisch. Außerdem ist es die Aufgabe Der Linken, da hinzugehen, die Debatten mitzuführen und sich nützlich zu machen. Das Ziel dieser Bewegung ist vollkommen richtig, denn wir müssen primär etwas für den Klimaschutz tun. Und dann muß man halt gemeinsam diskutieren, was die geeigneten Mittel dafür sind und wie man das umsetzt.

SB: Begriffe wie "antikapitalistisch" oder "Systemwechsel" werden heute recht freigiebig und mit einem weitgefaßten Bedeutungsgehalt verwendet. Was wäre aus deiner Sicht essentiell für eine antikapitalistische Position, die in Bewegungen und eben auch in der Bewegungslinken vertreten werden sollte?

JW: Zentral für eine antikapitalistische Position ist natürlich, die größeren Zusammenhänge aufzuzeigen und einzubeziehen, insbesondere über die heute herrschenden Eigentums- und Machtverhältnisse zu sprechen. Man kann hier und dort ein Gesetz durchbringen oder eine Reform herbeiführen, und das kann auch zu Verbesserungen beitragen. Aber wir müssen die Macht- und Eigentumsverhältnisse grundlegend ändern, denn solange das Eigentum so ungerecht verteilt ist und wir eine derart hohe Konzentration sowohl an Vermögen als auch an Konzernmacht haben, ist das einfach für die Demokratie eine Bedrohung, die immer weiter zunimmt. Von daher halte ich das für eine konkrete antikapitalistische Position, die sich bei der Klimafrage geradezu aufdrängt, weil ohne eine Entmachtung der Energiekonzerne und der Kohleindustrie die Energiewende einfach nicht vonstatten gehen wird. Und die Verkehrswende wird nicht vonstatten gehen, wenn die Automobilindustrie weiter derart gepampert wird und ihre Positionen gegenüber der Bundesregierung einfach durchsetzt, solange Grenzwerte als unverbindliche Empfehlung gelten. Da ist es ja offensichtlich. Bei der Agrarwende haben wir eine einflußreiche Agrarlobby, die ihre Interessen durchsetzt. Deshalb halte ich es gerade bei der Klimakrise für eindeutig, und wenn zehn Prozent der Menschen in Deutschland über mehr als Zweidrittel des Vermögens verfügen, wird sich auch die Krise der sozialen Gerechtigkeit nur lösen lassen, indem man eine radikale Umverteilung in Angriff nimmt.

SB: Janine, vielen Dank für dieses Gespräch.


Fußnoten:

[1] www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prbe0355.html

[2] www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prbe0354.html


Berichte und Interviews zur Gründungsversammlung der Bewegungslinken im Schattenblick unter:
www.schattenblick.de → INFOPOOL → POLITIK → REPORT

BERICHT/354: Die Linke - beteiligt, bewegt und präsent ... (SB)
BERICHT/355: Die Linke - als Partei gesellschaftlich begründeter Probleme ... (SB)

31. Dezember 2019


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang