Gespräch am 15. März 2023
Dr. Werner Rügemer lebt in Köln und arbeitet als Publizist, Buchautor, Referent, Berater und Stadtführer. Seine thematischen Schwerpunkte sind internationale Kapital- und Arbeitsverhältnisse, Privatisierung, Unternehmenskriminalität und die Entwicklung des Weltsystems nach Prinzipien des Völkerrechts und der Menschenrechte. Er ist Mitglied im Deutschen Schriftstellerverband (VS/Verdi) und im PEN-Zentrum Deutschland.
Zum Thema "Zeitenwende - plötzlich und unerwartet?" führte die Bewegung gegen den Krieg Dithmarschen am 14. und 22.03.2023 in Heide/Holstein zwei Veranstaltungen zu Weltpolitik und Krieg durch. Referent der ersten Veranstaltung unter dem Thema "Der neue Systemkonflikt: Der US-geführte Kapitalismus gegen den 'Rest' der Welt" war Werner Rügemer. Am folgenden Tag nahm der Schattenblick die Gelegenheit wahr, ihm einige vertiefende Fragen zu stellen.
Werner Rügemer
Foto: © 2023 by Schattenblick
Schattenblick: Vor dem Hintergrund des laufenden Ukrainekriegs und der Untätigkeit Berlins in Bezug auf den Bombenanschlag auf die Nordstream-Gaspipelines im Baltikum sieht die Regierung der Russischen Föderation in der Bundesrepublik Deutschland keinen souveränen Staat und keinen eigenständigen Akteur auf der diplomatischen Bühne mehr. Was sagen Sie dazu?
Werner Rügemer: Nun, diese Situation hat sehr früh angefangen, nämlich bereits mit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1949. Einen westdeutschen Teilstaat zu schaffen war von den westlichen Alliierten unter Führung der USA erzwungen worden. In den ersten Jahren war diesem Separatstaat keine eigenständige Außenpolitik erlaubt. Bei ihrer Gründung verfügte die Bundesrepublik Deutschland nicht einmal über ein eigenes Außenministerium. Statt dessen hatten ab 1949 zunächst die drei westlichen Hochkommissare, darunter als wichtigster der Wall-Street-Bankier John McCloy, der im Zweiten Weltkrieg als US-Vizekriegsminister gedient hat und in den ersten Jahren danach Weltbankchef gewesen ist, die Außenpolitik Bonns in der Hand. Erst nach einigen Jahren bekam die Bundesrepublik ihr eigenes Außenamt, das aber zur Sicherheit und damit dort keine Fehler geschahen, Konrad Adenauer als Kanzler und Außenminister in Personalunion anvertraut wurde, den gleichzeitig US-Hochkommissar McCloy überwachte. Diese wesentliche Einschränkung der deutschen Souveränität wurde dann mit den beiden Instrumentarien Marshall-Plan und NATO-Beitritt fortgesetzt. Letzterer ging mit der Aufrüstung der BRD und der Gründung der Bundeswehr einher.
Die NATO ist keine Militärallianz gleichgewichtiger Staaten, sondern wird von den USA geführt. Von daher war die Bundesrepublik Deutschland von Anbeginn in die US-Strategie der Bekämpfung des Kommunismus und aller Bestrebungen, die von Washington dafür gehalten wurden, eingebunden. Wie vielfach dokumentiert, wurde auch ein National-Konservativer wie Charles de Gaulle als Feind im Sinne des US-amerikanischen Antikommunismus in Europa betrachtet. Deswegen gab es eben auch mehrere, inzwischen gut belegte geheimdienstliche Eingriffe der USA in die Politik der Bundesrepublik Deutschland. Der Auslandsgeheimdienst der BRD, der Bundesnachrichtendienst, war nach dem Zweiten Weltkrieg von den Amerikanern aus der Taufe gehoben worden. In den ersten sechs Jahren des Bestehens der Bundesrepublik unterstand dieser Geheimdienst nicht der Regierung in Bonn, sondern wurde vom amerikanischen Schwesterdienst, der Central Intelligence Agency (CIA), geführt. Erst 1956 ist der Bundesnachrichtendienst formell zu einer Behörde der BRD geworden.
Die Voraussetzungen, die bei der Schaffung der Bundesrepublik von den Amerikanern implantiert worden sind, gelten mit den verschiedenen Modifikationen, zum Beispiel verstärkt durch die von den USA mitbeförderte Gründung und Weiterentwicklung der Europäischen Union, bis heute. Dazu kommen noch jene Modifikationen, die von den USA nach dem Ende des sozialistischen Ostblocks, der Auflösung des Warschauer Pakts und des Untergangs der Sowjetunion durchgesetzt wurden, nämlich die Osterweiterung der NATO und die Aufnahme zahlreicher Staaten Osteuropas in die EU, in deren Rahmen die Bundesrepublik Deutschland eine zwar führende, aber gleichzeitig den USA dienende Funktion ausübt, hinzu. Beim Besuch in Washington Anfang März hat es der amtierende Bundesminister für Wirtschaft und Umwelt, Robert Habeck, so ausgedrückt, dass Deutschland im westlichen Bündnis eine "dienende Führungsrolle" erfülle. Das ist nun eine ganz deutliche Einordnung in diese, wie gesagt, bereits bei ihrer Gründung eingerichtete, unterworfene und nicht-souveräne Position der Bundesrepublik Deutschland.
SB: Die NATO-Osterweiterung und die Ausdehnung der EU in östlicher Richtung der letzten fast dreißig Jahre geht mit einem verstärkten Eindringen US-amerikanischen Kapitals auf dem Alten Kontinent einher. Müssen wir NATO und EU Ihres Erachtens als zwei Seiten derselben Medaille verstehen und die Konzeption eines "Europa" als Gegenspieler der USA als Fata Morgana auffassen?
WR: Ich würde sagen, ja. Die gleichzeitige Osterweiterung der EU und der NATO bedeutet einen wirtschaftlich-militärischen Zangengriff, wie er schon nach dem Zweiten Weltkrieg von den USA auf Westeuropa mittels Marshall-Plan und NATO angewandt worden ist. Und diese ursächlich miteinander verbundene Gleichzeitigkeit, die später im größeren Stile nach dem Zusammenbruch des Sozialismus und der Auflösung der Sowjetunion weiter in Richtung Osteuropa getrieben wurde, war dann auch mit einem mittels verschiedener Werkzeuge und Praktiken bewerkstelligten Eindringen einer neuen Welle amerikanischen Kapitals in die wichtigen, reicheren Gründungsstaaten der EU in Westeuropa verbunden.
Das heißt, die neueren, global orientierten Finanzakteure, die in den neunziger Jahren von der seitens der US-Regierung Bill Clintons durchgeführten Deregulierung des amerikanischen Banken- und Finanzsystems profitiert hatten, also Hedge-Fonds und Private-Equity-Investoren wie BlackRock, Vanguard, State Street, Blackstone, KKR und so weiter, haben dann nach der "Wende" ihre Praktiken in der Bundesrepublik Deutschland eingesetzt und zwar über die Treuhandanstalt, die das Vermögen der Staatsbetriebe der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik verwaltete und veräußern sollte. McKinsey und JPMorgan aus den USA und PricewaterhouseCoopers aus Großbritannien waren die wichtigen Unternehmensberater, welche die Treuhandanstalt mit dazu veranlasst haben, das betriebliche Vermögen der ehemaligen DDR zu günstigsten Konditionen westlichen Investoren zur Verfügung, besser gesagt zur Ausbeutung, zu stellen.
Eine weitere Welle setzte zu Beginn der 2000er Jahre ein, als zunächst amerikanische Private-Equity-Investoren auch in Deutschland begannen, öffentliche Wohnungsbestände und mittelständische Unternehmen aufzukaufen. Mit der globalen Finanzkrise 2007/2008 traten die ganz großen Finanzverwalter wie BlackRock, Vanguard und State Street auf den Plan und kauften die wichtigen börsennotierten Aktiengesellschaften in Europa auf oder etablierten sich bei ihnen als führende Investoren und Aktionsgruppen. Zwar hatte die Bundesrepublik Deutschland eine gewisse Vorreiterrolle inne, aber das Vorgehen wurde dann auch in den anderen wichtigen EU-Staaten wie Frankreich, den Niederlanden, Belgien, Luxemburg und Großbritannien sowieso mitvollzogen.
In der City of London waren die Filialen der großen Wall-Street-Banken bereits seit den Tagen Margaret Thatchers als britische Premierministerin privilegiert, zu günstigen Bedingungen präsent und hatten an der Themse ihre Europazentralen, was heute immer noch der Fall ist. Das heißt also, die großen Vermögensverwalter des amerikanischen Kapitals beherrschen auch die führenden Banken und Unternehmen in der EU, vor allem aber in den reichen Gründungsstaaten Westeuropas. Inzwischen ist BlackRock zum Berater der Europäischen Zentralbank (EZB) sowie der Europäischen Kommission aufgerückt, um sich mit der modischen Begründung, man investiere "nachhaltig" und "umweltfreundlich", auch in der Europäischen Union nach amerikanischem Vorbild durchsetzen zu können.
SB: Nach mehr als dreißig Jahren neoliberaler Wirtschaftspolitik zeichnen sich im Westen enorme Probleme nicht nur bei der Quantität der militärischen Produktion - Stichwort Munition -, sondern vor allem bei der Qualität der Waffensysteme ab, wie zum Beispiel bei dem überteuerten Pannen-Kampfjet F-35 und dem nur bedingt funktionsfähigen Patriot-Raketensystem sowie angesichts der vielen Fragen hinsichtlich der Belastbarkeit des verwendeten Stahls beim Rumpf der amerikanischen Atom-U-Boote. Von daher erscheinen die Pläne der NATO und ihrer Verbündeten im pazifischen Raum - Japan, Südkorea, Australien und Neuseeland -, Russland und China militärisch bezwingen zu können, illusorisch. Daher die Frage an Sie: Worauf lässt sich die Überzeugung, dass der Westen stets "auf der richtigen Seite der Geschichte" stehen werde, zurückführen? Aberglaube? Ideologische Verblendung? Hybris?
WR: Die kapitalistische Elite, die sich in den USA seit der Staatsgründung Ende des achtzehnten Jahrhunderts herausbildete und erweiterte, hat mit ihrer medialen, militärischen und geheimdienstlichen Begleitung einschließlich der entsprechenden Sicherungspraktiken und -werkzeuge bis zum Zweiten Weltkrieg eine aus ihrer Sicht erfolgreiche, schrittweise Globalisierung vollbracht. Die US-Amerikaner haben als erstes den nordamerikanischen Kontinent auch mittels Sklavenarbeit, Sklavenhandel und Völkermord an der indigenen Bevölkerung erfolgreich erobert. Danach, bis zum Ende des neunzehnten Jahrhunderts, kam die militärisch-finanzielle Erschließung und Ausbeutung des lateinamerikanischen Hinterhofs sowie des asiatisch-pazifischen Raums einschließlich Japan und China dazu. Darauf folgten die ganz großen Wirtschaftsaufschwünge, welche die USA durch die Finanzierung der beiden Weltkriege in Europa verzeichnen konnten. Das waren aus Sicht der amerikanischen Kapitalelite Riesenerfolge.
Vieles davon ist wenig bekannt, weswegen ich es in meinem neuen Buch mit dem Titel "Die verhängnisvolle Freundschaft: Wie die USA Europa eroberten: Vom 1. zum 2. Weltkrieg" behandeln will. Die USA waren nach dem Ersten Weltkrieg, der für sie einen gewaltigen Wirtschaftsboom mit sich brachte, der größte Unterstützer faschistischer Regime in Europa. Mussolini wurde von den US-Banken mit Krediten überhäuft. John McCloy, der, wie bereits erwähnt, nach dem Zweiten Weltkrieg Präsident der Weltbank und Hoher Kommissar in der Bundesrepublik wurde, war in den zwanziger, dreißiger Jahren als Finanzberater der Wall Street bei Benito Mussolini tätig. Obwohl der US-Kongress in den dreißiger Jahren unter Präsident Franklin D. Roosevelt angesichts der aufkommenden Konflikte in Europa dreimal ein Neutralitätsgesetz verabschiedete, ließ sich die Führung der großen amerikanischen Konzerne wie Standard Oil, Ford und General Motors nicht davon beeindrucken, sondern rüstete Francos Truppen im spanischen Bürgerkrieg aus und belieferte sie mit Militärfahrzeugen, Benzin und anderen Ölprodukten.
Diese US-Konzerne haben auch die Wehrmacht Adolf Hitlers zur damals modernsten Armee Europas aufgerüstet, die später auf dieser Grundlage ihre Blitzkriegserfolge einfahren konnte. Selbst während des Zweiten Weltkriegs wurde die Wehrmacht und damit der Hitler-Staat weiterhin von amerikanischen Unternehmen beliefert. Das Ford-Werk in Köln zum Beispiel hat im Jahre 1944 mit Armeefahrzeugen für die Wehrmacht die höchste Produktion seiner Geschichte verzeichnet. Ford-Köln war gleichzeitig das Zentrum für die anderen Ford-Filialen in den von Nazi-Deutschland besetzten Nachbarstaaten wie beispielsweise Frankreich und Belgien. Auch sie haben die Wehrmacht mit wichtigem Kriegsmaterial beliefert.
Die Unterstützung der USA für Nazi-Deutschland auch während des Zweiten Weltkrieges hat noch eine andere Seite, nämlich die Führung der Bank of International Settlements (BIS) in der Schweiz durch die Wall Street. Die Wall-Street-Banken hatten bereits 1930 die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich in Basel gegründet, und zwar weil das Deutsche Reich seine Reparationen aus dem Versailler Vertrag nicht mehr bezahlen konnte. Damals hat sich die amerikanische Finanzelite gesagt, "okay, die Deutschen können zwar jetzt nicht bezahlen, aber die Schulden, die Verpflichtungen müssen aufrechterhalten werden". Deswegen haben sie diese Abwicklungsbank in der Schweiz mit der Perspektive gegründet, dass die Schulden durch Deutschland spätestens bis 1986 getilgt werden sollten. In solchen Zeiträumen denken die. Mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs wurde diese Bank in der Schweiz die gemeinsame Zentralbank aller am Krieg beteiligten Länder einschließlich der militärisch verfeindeten Staaten. Die Bank for International Settlements stand unter der Führung eines Wall-Street-Bankiers namens Thomas McKittrick. Aber auch die deutsche Reichsbank, die Bank of England, die Banque de France, die Banca d'Italia und die Industrial Bank of Japan - alle kriegsbeteiligten Parteien, ob verfeindet oder nicht - waren in dieser Bank vertreten und wickelten dort ihre Kriegsgeschäfte ab.
Die BIS hat beispielsweise das von der deutschen Wehrmacht aus den Zentralbanken der besetzten Staaten geplünderte Gold in Devisen umgewandelt. Das Deutsche Reich erhielt für das Raubgold als Devisen US-Dollars oder schwedische Kronen, um in den neutralen Staaten weiter Rohstoffe einkaufen zu können. Diese Vorgänge standen unter amerikanischer Führung und bildeten sozusagen die Vorprägung der dann 1944 von den USA parallel dazu gegründeten Weltbank. Deswegen wurden viele Führungskräfte aus dieser Nazikooperationsbank in der Schweiz später in die Weltbank übernommen. Der spätere langjährige CIA-Chef Allen Dulles hat von Bern aus als Leiter der US-Auslandsspionage in der Schweiz während des Zweiten Weltkrieges enge Verbindungen zur BIS unterhalten.
Bis zum Zweiten Weltkrieg und danach konnte sich die amerikanische Kapitalelite sicher fühlen, auf dem Vormarsch zu sein. Das wurde vierzig Jahre später durch den Zusammenbruch der sozialistischen Staaten und der Sowjetunion nur noch weiter bestätigt. Aber dadurch wurde die kapitalistische Elite der USA samt medialer, militärischer und geheimdienstlicher Begleitung übermütig und hat dann in den neunziger Jahren quasi öffentlich zur Eroberung Eurasiens geblasen, um damit jedwede dort auftretende Großmacht bezwingen zu können. Dieser Anflug des Übermuts stellt gleichzeitig den Beginn des Niedergangs der bisherigen US-Strategie dar, wenngleich dies nicht so schnell vonstatten geht, weil es durch die geschilderten Investitionen zum Beispiel in den Kernländern Europas diverse Kompensationen, Mittäter und Mitgewinner - nicht in der Bevölkerung, aber bei den ohnehin reichen Leuten - gibt. In den USA selbst bildet sich bei der Mehrheit der Bevölkerung das Einkommen, die Gesundheit, das Wohlempfinden zurück. Das nimmt die amerikanische Gesellschaftselite hin, weil sie sich ohnehin international orientiert.
Platzhirsche des internationalen Finanzkapitals
Cover: Nomen Verlag
SB: Angesichts der jüngsten Turbulenzen im amerikanischen Finanzsektor, der Überschuldung des US-Bundesstaats und der Banken - Stichwort Derivate -, sowie der fehlenden Unterstützung der Schwellen- und Entwicklungsländer für die westlichen Sanktionen gegen Russland wegen des Konflikts in der Ukraine meinen einige Beobachter, das Ende des US-Dollars als Leitwährung im internationalen Warenhandel sowie bei Finanztransaktionen, wenn nicht sogar der westlichen Vorherrschaft insgesamt zu erkennen. Wie sehen Sie das?
WR: In der Perspektive ist dieser Niedergang wahrscheinlich. Das Problem ist aber, dass dies, so wie es sich aktuell abzeichnet, erst infolge eines längeren, konfliktreichen Prozesses ablaufen wird, weil, wie gerade gesagt, die kapitalistische Elite der USA ihre zahlreichen Mittäter auf allen Kontinenten, vor allem in Europa, aber auch einige in Lateinamerika, in Afrika und Asien, hat. Der verwundete Löwe USA, der moralisch und politisch bei der Weltbevölkerung und selbst beim eigenen Volk auf immer weniger Zustimmung stößt, verfügt noch über das größte militärische Potential der Welt und hat den Rückgriff auf den atomaren Erstschlag als Handlungsoption in petto, die unter Barack Obama in Zusammenhang mit der Ausrufung des Asian Pivot im Jahre 2011 und der damit einhergehenden Feindeserklärung an die Volksrepublik China bekräftigt worden ist. Vor diesem Hintergrund ist der absehbare, weil logische Niedergang des von den USA geführten westlichen Imperialismus wahrscheinlich, dürfte aber, wie es sich jetzt schon in der Ukraine zeigt, sehr konfliktreich sein, und schließt, wenn es besonders hart zugehen sollte, auch die Gefahr eines von den USA entfesselten Atomkrieges und das sogar mitten in Europa ein.
SB: Trotz der unübersehbaren gesellschaftlichen Probleme der USA wächst deren Einfluss in Europa immer noch an. Schweden und Finnland wollen der NATO beitreten, während Irland und die Schweiz ebenfalls auf dem besten Weg sind, ihre bisherige Neutralität aufzugeben. Irland beendet gerade seine langjährige Teilnahme an der UN-Friedensmission auf den syrischen Golanhöhen, um die eingesparten Kapazitäten einer EU-Battle-Group zur Verfügung stellen zu können, während die Schweizer Banken bei den Finanzsanktionen gegen Russland mitmachen, trotz der für sie negativen Auswirkungen - Stichwort Credit Suisse. Kann es sein, dass die Verantwortlichen in Bern, Dublin, Helsinki und Stockholm auch durch die Angst vor einer zunehmend unberechenbaren, weil schwächelnden Supermacht motiviert sind?
WR: Seit Jahrzehnten setzen die USA und die NATO "sanfte" Mittel ein. Solche Kooperationsvereinbarungen bewirken, dass sich zum Beispiel die neutrale Schweiz ohne eine formelle Mitgliedschaft im atlantischen Militärbündnis mit eigenen Soldaten am Krieg in Afghanistan beteiligt hat. Mit den offiziell neutralen Staaten Schweden und Österreich gab es ähnliche Kooperationsvereinbarungen unterhalb der Schwelle der NATO-Mitgliedschaft, wie sie die USA seit den neunziger Jahren mit der Ukraine unterhalten. Schon Ende der neunziger Jahre kam es zu den ersten gemeinsamen Manövern der Streitkräfte der USA und der NATO mit denen der Ukraine. Das bedeutet im Klartext, dass mit der aktuell zunehmenden Formalisierung der Kooperation durch die bevorstehende Aufnahme von zwei der genannten, bisher neutralen Staaten in die NATO nur das vollzogen wird, was ohnehin seit vielen Jahren von den USA angebahnt worden ist.
SB: Wie schaffen es die USA angesichts der desaströsen Lage in der Ukraine immer noch Menschen wie jüngst in Georgien für eine versuchte "Farbenrevolution" zu gewinnen, die eventuell das Land in Schutt und Asche legen könnte? Kann sich wirklich niemand der Soft-Power der USA, zuletzt verkörpert durch die Auszeichnung des Films "Navalny" über den gleichnamigen russischen Oppositionellen als beste Dokumentation des Jahres samt Übergabe der begehrten Hollywood-Trophäe Oscar an seine Familie bei der Galazeremonie in Los Angeles, entziehen?
WR: In den meisten kapitalistischen Staaten im Westen wie auch des einst sozialistischen Ostblocks sind die Wertesysteme und -maßstäbe der Bevölkerung sehr zerbrechlich und instabil geworden. Die Mehrheit der Menschen ist frustriert oder gestresst vom Überlebenskampf, sei es durch Arbeitsbelastung, Kurzarbeit oder Arbeitslosigkeit. Das macht es gut finanzierten, gut geschulten Nichtregierungsorganisationen leicht, jeweils eine vergleichsweise nennenswerte Gruppe von Menschen zusammenzubringen, die dann Proteste organisieren. Die vorbereitete mediale Verstärkung bildet zudem einen willkommenen Resonanzboden. Ohnehin ist die Professionalität bei den von Stiftungen aus den USA geförderten NGOs, die Unzufriedenheiten in der jeweiligen Bevölkerung aufgreifen und thematisieren, in den letzten Jahren gestiegen.
Solche Nicht-Regierungsorganisationen setzen bei der tatsächlichen Unzufriedenheit nicht aller, aber bestimmter Bevölkerungsgruppen, die meistens jünger und deshalb aktionsbereiter sind, an. Das erzeugt durch die mediale und internationale Verstärkung den Eindruck, als würde sich eine ganze Bevölkerung gegen die eigene Regierung auflehnen. Sowohl mit staatlichen Institutionen wie USAID und der National Endowment for Democracy (NED) als auch mit hunderten größeren und nicht ganz so großen privaten Stiftungen sind die USA auf dem Gebiet der Beeinflussung im Ausland führend. Zusammen bilden diese Organisationen eine relevante Aktionsszene, die dann aufgrund der mehrheitlichen Frustration, Enttäuschung, Unzufriedenheit und Inaktivität in dem jeweiligen Zielland eine relativ leichte Operationsbasis vorfindet.
SB: Inwieweit, meinen Sie, sind die politischen Eliten in den USA und ihre Gesinnungsgenossen in Europa und Asien durch die Sorge um schwindende Resourcen infolge von Klimawandel, Umweltzerstörung und Artenschwund bei Tieren und Pflanzen angetrieben?
WR: Sie sind dadurch überhaupt nicht angetrieben, sondern nutzen die Bereitschaft in großen Teilen der noch handlungsfähigen Bevölkerungen aus, für Umweltrettung im Allgemeinen einzutreten, was natürlich tatsächlich gute Gründe auf seiner Seite hat. Aber das wesentliche Handeln der führenden kapitalistischen Klasse der USA geht in eine ganz andere Richtung. Die US-Regierung Bill Clintons hat zum Beispiel durchgesetzt, dass der Verbrauch des US-Militärs aus den Bilanzen aller internationalen Umweltabkommen bis heute ausgeklammert wird. Deswegen können sich institutionelle Aktionäre wie BlackRock oder Vanguard mit ihren Beteiligungen an den weltweit größten Rüstungskonzernen, zum Beispiel Raytheon in den USA, Rheinmetall in Deutschland, Leonardo in Italien und BAE Systems in Großbritannien, als hehre Umweltprediger darstellen und damit eine vor allem jüngere Generation mit auf ihren kapitalistischen Weg nehmen. Das Gleiche gilt für die neue E-Mobilität, die aktuell auf das Militärische übergreift. In den USA werden bereits zusammen mit Rheinmetall E-Motoren für den Abrams-Panzer entwickelt, die ohne Benzin laufen. Man plant einen batteriebetriebenen Panzer, der bei Bedarf nachts im Gefechtsfeld auf Elektrobatterie umschalten kann, dadurch keine Hitze entwickelt, keinen Lärm macht und somit nicht aufspürbar ist.
Folglich produzieren die großen Apostel der Umweltrettung wie die US-Regierung und die EU-Kommission hemmungslos mehr Rüstung, denn sie bleibt aus allen Umweltbilanzen völlig ausgenommen. Umweltprediger wie BlackRock und Vanguard gehören zu den wichtigsten Aktionären der US-Fracking-Industrie, die bekanntlich und tausendfach dokumentiert zu den größten Produzenten von Treibhausgasen wie Methan gezählt wird. In den letzten Jahren hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass die Anwohner nahe der Fracking-Anlagen in den USA früher sterben als Gleichaltrige, die nicht in der Nähe solcher Bohrstellen leben. Alles das hindert die US-Regierung, die Digitalkonzerne und die großen Aktienverwalter wie BlackRock nicht daran, weiter die Umwelt zu zerstören. Vielmehr ist es mit dem Narrativ von der Klimakrise gelungen, eine Umstellung des westlichen Kapitalismus einzuleiten und gleichzeitig eine neue politisch-ideologische Unterstützung durch die grünen Parteien und viele der Umweltbewegungen und Initiativen hervorzurufen.
SB: An der US-freundlichen Außenpolitik Lula da Silvas seit seiner Wiederwahl zum Präsidenten Brasiliens lässt sich ablesen, dass der einstige Sozialist offenbar durch die Zeit im Gefängnis gegenüber Uncle Sam zahm geworden ist. In Pakistan haben die USA letztes Jahr das Cricket-Idol Imran Khan als Premierminister trotz großer Beliebtheit in der Bevölkerung wegen seines eigenständigen Kurses gegenüber Russland und China wegputschen lassen. Wie Sie in Ihrem gestrigen Vortrag angemerkt haben, ist Indien mit Abstand der große Gewinner der aktuellen Energiekrise, kauft russisches Embargo-Öl in riesigen Mengen auf und bringt es wieder gewinnbringend auf den Markt. Gleichzeitig versucht die hindu-nationalistische BJP-Regierung Narendra Modis den langjährigen Grenzstreit mit der Volksrepublik China beizulegen. Wie schätzen Sie die Chancen ein, dass es Washington gelingt, Neu-Delhi wieder in eine Feindstellung gegenüber Peking zu bringen? Muss die BJP vor ausländischen Umtrieben im Innern auf der Hut sein?
WR: Ja, aber das muss jede Regierung. In der durch die Sanktionen gegen Russland ausgelösten Neugruppierung der Verhältnisse der Staaten untereinander sind die amerikanischen Akteure, von den Kapitalorganisatoren über die Geheimdienste bis hin zu den Nichtregierungsorganisationen, überall, wo sie können, präsent, um die unterschiedlichen Absetzbewegungen in vielen Ländern der Welt zu behindern. Wie sich das genau in Indien abspielt, weiß ich nicht. Jedenfalls ist die indische Führung ganz zwiespältig, denn das Land betätigt sich einerseits als Zwischenhändler für fossile Energien aus Russland, wirbt andererseits um neue amerikanische Investoren wie beispielsweise Apple und Foxconn, die möglichst schnell aus China abwandern und ihre Billigstproduktion für die neuesten Apple-Smartphones und Alexas et cetera in Indien einrichten wollen, was durch die indische Zentralregierung in Neu-Delhi oder die Regionaladministrationen in den einzelnen Bundesstaaten gefördert und subventioniert wird. Im Rahmen der aktuellen Neugruppierung, die durch den Ukraine-Krieg beschleunigt wird, kommt es zu vielen Doppeldeutigkeiten und ambivalenten Verhaltensweisen vor allem bei den Staaten, die quasi zwischen den Blöcken stehen, wo praktisch jeder Vorteil von der einen oder der anderen Seite mitgenommen werden soll und abgewogen wird und wo definitive Entscheidungen ungern gefällt werden.
Stühlerücken an der Tafel globaler Vorherrschaft
Cover: PapyRossa Verlag
SB: Vor wenigen Tagen hat die Volksrepublik China mit der Verkündung der Wiederaufnahme bilateraler diplomatischer Beziehungen zwischen der Islamischen Republik Iran und dem Königreich Saudi-Arabien einen großen diplomatischen Erfolg erzielt. Dagegen laufen neokonservative Kräfte in den USA und israelische Hardliner Sturm. Wie werden die USA auf diese neue Entwicklung reagieren?
WR: Ich nehme an, dass die USA da längst aktiv sind. Diese Entwicklung dürfte für sie absehbar gewesen sein, denn die diplomatische Distanzierung infolge der Emanzipation der Golfstaaten von den USA als einstigem Hauptabnehmer des Öls ist bereits länger im Gange. Die Golfstaaten wollen sich industrialisieren und neu orientieren. Die neuen Überschneidungen mit anderen Staaten und Volkswirtschaften ergeben neue Absatzmärkte für neue Produkte. Diese Länder vergeben gerade zahlreiche Aufträge für den Bau von Industrieanlagen, von Straßen- und Schienennetzen sowie von Rüstungsbetrieben, wobei letztere von westlichen, hauptsächlich europäischen Unternehmen errichtet werden. All das ist am Persischen Golf schon länger im Gange. Von daher haben wir es jetzt lediglich mit einer zugespitzten Situation zu tun. Aufgrund der bisherigen Praxis ist zu vermuten, dass die entsprechenden US-Akteure versuchen werden, diese Entwicklung zu korrigieren, zu ändern oder abzuschwächen.
SB: Aktuell bereiten sich die USA ideologisch wie auch logistisch auf eine militärische Auseinandersetzung mit der Volksrepublik China mit der Insel Taiwan als Vorwand und Schauplatz vor. Dazu gehört das umstrittene, 368 Milliarden Dollar teure Projekt der verstärkten australisch-britisch-US-amerikanischen Zusammenarbeit auf dem Feld der atomar angetriebenen U-Boote, auch AUKUS genannt, die Verlegung entscheidender Teile der Produktion modernster Computerchips von Taiwan in die USA sowie das von Washington forcierte Embargo gegen die IT-Produkte führender chinesischer Konzerne wie Huawei und TikTok. Wie hoch schätzen Sie die Wahrscheinlichkeit eines Krieges zwischen den USA und China ein?
WR: Seit der Präsidentschaft Barack Obamas gilt die Volksrepublik China in der mittleren und längeren Perspektive als erklärter Hauptfeind Amerikas. Die verstärkte Präsenz der US-Streitkräfte im asiatisch-pazifischen Raum sowie die von den USA angeregte und beförderte Aufrüstung ihrer Verbündeten in der Region laufen auf Hochtouren. Rüstet man gegen einen klar definierten Staat, in diesem Fall die Volksrepublik China, dann stellt man die Möglichkeit einer militärischen Auseinandersetzung unmissverständlich in den Raum. Diese Aufrüstung nimmt die verschiedensten Formen an. Neue US-Militärstützpunkte in Australien und auf den Philippinen werden errichtet, bestehende Stützpunkte, wie beispielsweise auf der westpazifischen Insel Guam, kräftig ausgebaut. Darüber hinaus wird Japan praktisch gezwungen, aus seiner bisherigen in der Verfassung verankerten Friedenspolitik auszusteigen, und gezielt gegen China in Stellung gebracht. Taiwan selbst wird militärisch und ideologisch aufgerüstet. Eigentlich ist es nur eine Frage der Zeit, der Situation und der Umstände, bis der Krieg ausbricht, den Washington und nicht China anpeilt.
SB: Ende letzten Jahres wurde eine Vorlesung von Ihnen in Bochum zum Thema Ihrer Kritik an der ab 1945 geschichtsklitternden Hochstilisierung Konrad Adenauers zu einem Verfolgten des Nazi-Regimes vom Verband der deutschen Schriftsteller und Schriftstellerinnen mit der Begründung abgesagt, sie störe die Harmonie und sei nicht genügend unterhaltsam. Was sagt dieser Vorfall erstens über das Harmoniebedürfnis des Schriftstellerverbands, zweitens über die Medienlandschaft und aktuelle Debattenkultur in Deutschland und drittens über die These, die deutsche Gesellschaft habe die Jahre der Hitler-Diktatur geschichtlich aufgearbeitet?
WR: Ich muss Sie leicht korrigieren. Keine Veranstaltung von mir mit diesem Text wurde abgesagt, sondern es wurde lediglich ein von mir für eine Veranstaltung des Schriftstellerverbandes Nordrhein-Westfalen eingereichter Text mit der Begründung, die Sie gerade zitiert haben, abgelehnt. Übrigens wird dieser Text im Mai bei einer Veranstaltung des Kölner Schriftstellerverbands öffentlich präsentiert. Was Ihre Frage betrifft, so lässt sich eine Entwicklung im deutschen Schriftstellerverband und sogar in der Schriftsteller-Community zum Beispiel beim PEN-Zentrum Deutschland feststellen, die dort den Vormarsch der Unterhaltungsliteratur begünstigt. Ein Vorsitzender des Schriftstellerverbandes auf Bundesebene war beispielsweise der bekannteste Krimiautor im ersten deutschen Fernsehen. Das hängt damit zusammen, dass die linksliberale Phase beim Deutschen Schriftstellerverband, die sich aus seiner Gründung 1969 während der Ära Willy Brandts durch linke Autoren wie Günter Grass und Heinrich Böll ergab, mit dem Untergang des Sozialismus und der DDR schrittweise zu Ende gegangen ist.
Schriftsteller, die eben mehr individuelle Liebesromane und sonstige Formen der Unterhaltungsliteratur bieten, haben sich durchgesetzt, ohne allzuviel kämpfen zu müssen - zuletzt auch in Verbindung mit den neuen sozialen oder besser gesagt asozialen Medien. Die Zeit der Gesellschaftskritik oder der leisen Kapitalismuskritik ist vorbei. Wenn es noch eine Gesellschaftskritik gibt, dann ist es eine nachholende, einseitige Kritik an der DDR von damals. Sie wird kritisiert und nicht die Bundesrepublik Deutschland mit ihrer vergleichbaren, aber anders gearteten Nachkriegsgeschichte. Also ist die von Grass und Böll auf ihre Weise aufgenommene Auseinandersetzung mit der Nazi-Geschichte damit auch beendet. Ich versuche dem unter anderem dadurch entgegenzuwirken, dass ich mit meinem nächsten Buchprojekt endlich die erste wahrheitsgemäße Adenauer-Biographie fertigstellen möchte.
SB: Und das andere Buch, das im April erscheinen soll, was ist damit?
WR: Es trägt, wie gesagt, den Titel "Verhängnisvolle Freundschaft: Wie die USA Europa eroberten: Vom 1. zum 2. Weltkrieg".
SB: Also dürfte die Aufarbeitung der Geschichte der Nazi-Diktatur nicht zu kurz kommen?
WR: Hoffe ich doch!
SB: Herzlichen Dank, Herr Rügemer, für das ausführliche Gespräch.
30. Mai 2023
veröffentlicht in der Schattenblick-Druckausgabe Nr. 179 vom 22. Juli 2023
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