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ARBEIT/433: Für eine neue Kultur der Arbeit (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 9/2010

Für eine neue Kultur der Arbeit

Von Johano Strasser


Wirtschaftliches Wachstum und Arbeit für alle werden von der Politik nach wie vor als zentrale Voraussetzungen dafür angesehen, die Gesellschaft friedlicher und ihre Menschen glücklicher zu machen. Gleichzeitig zeigen aber neueste Studien, dass Burn-outs Anzeichen einer Volkskrankheit tragen. "Arbeiten, bis der Arzt kommt" titelte beispielsweise kürzlich Die Zeit. Wie gelangen wir aber zu einer humaneren Arbeitswelt und Gesellschaft?


Erstens: Was ist der Sinn der Arbeit? Manchmal - für manche Menschen mehr als für andere - hat Arbeit ihren Sinn in sich selbst. Dann kann Arbeit tatsächlich dem freien Spiel nahe kommen. Die meisten Menschen arbeiten aber vor allem oder sogar ausschließlich um des Arbeitslohns willen, um sich leisten zu können, was sie brauchen und was sie sich wünschen: Nahrung und Kleidung, ein Dach über dem Kopf, Muße und Urlaub, eine gute Ausbildung für die Kinder, ein neues Auto, das neueste Superhandy, den Besuch im Theater... Arbeit kann selbst Teil des schönen Lebens sein, meistens aber ist sie - zumindest auch - eine Last, die die Menschen auf sich nehmen, um das Geld zu verdienen, mit dem sie sich in der Freizeit das Leben verschönern können.

Zweitens: In der Moderne haben die Menschen große Anstrengungen unternommen, ihre Genussmöglichkeiten zu steigern. Damit sie sie wahrnehmen können, müssen sie einerseits arbeiten, um sich die Genussdinge und -möglichkeiten kaufen zu können, andererseits von Arbeit entlastet werden, um freie Genusszeit zu gewinnen. Wenn Menschen keine Zeit haben, von den gebotenen Genussmöglichkeiten Gebrauch zu machen, macht es auf Dauer für sie auch keinen Sinn, sich immer mehr und immer neue Genussmöglichkeiten zu erschließen. Das ist die Tragödie des Workaholic. Wer sich dagegen alles leisten kann, ohne einen Finger krumm zu machen, verliert am Ende nicht selten auch die Freude am allzu mühelos erworbenen Genuss. Das ist die Tragödie des faulen Genießers.

Das Menschenbild der Moderne kreist um die Vorstellung der tätigen Selbstverwirklichung. Auch die moderne Freizeit ist eher selten eine Zeit der puren Untätigkeit oder der Trägheit. Große Teile der sogenannten Freizeit sind in Wirklichkeit nicht frei verfügbar, sondern der sozial oder privat notwendigen Nichterwerbsarbeit gewidmet, vor allem der nach wie vor ziemlich einseitig den Frauen aufgebürdeten Familienarbeit. Aber auch in der wirklich frei verfügbaren Lebenszeit ist der moderne Mensch immer öfter aktiv, sei es in frei gewählter und selbstbestimmter "produktiver" Tätigkeit, im Spiel oder in genussorientierter Betriebsamkeit.


Vollbeschäftigung durch Wirtschaftswachstum und Bildung?

Drittens: Ein erfülltes Leben ist für die allermeisten Menschen ohne Erwerbsarbeit nicht denkbar. Darum bleibt es ein wichtiges politisches Ziel, allen Menschen, die arbeiten wollen und können, Zugang zum Erwerbsarbeitssystem zu eröffnen. Über alle Parteigrenzen hinweg scheint heute Konsens zu bestehen, dass es einen Königsweg zur Wiedergewinnung von Vollbeschäftigung gibt: Wirtschaftswachstum. Aber dieselbe Dynamik, die wirtschaftliches Wachstum erzeugt, führt auch zu Prozessinnovationen mit dem Ziel der Rationalisierung und Automation, also zu Arbeitsersparung. In der größten Wachstumsphase der Bundesrepublik Deutschland von 1953-1973 wuchs die Wirtschaft jedes Jahr um 5,4%. Gleichzeitig gab es aber einen Rückgang des gesellschaftlichen Arbeitsvolumens um 1%! Wachstumsraten wie in den 50er und 60er Jahren sind auf dem heutigen Entwicklungsniveau in Deutschland nicht mehr erreichbar. Darum ist die Hoffnung auf die kontinuierliche Ausweitung des gesellschaftlichen (Erwerbs)Arbeitsvolumens durch Wachstum illusionär.

Seit dem Beginn der Industrialisierung wurden die durchschnittlichen (Erwerbs-) Arbeitszeiten drastisch reduziert: die wöchentlichen Arbeitszeiten von über 80 Stunden auf 40 und darunter, die Lebensarbeit durch die Verlängerung der Ausbildung und die Herabsetzung des Ruhestandsalters und die steigende Lebenserwartung in ungleich größerem Umfang. Ohne diese kontinuierliche Arbeitszeitverkürzung hätte es in der modernen Geschichte nicht eine einzige Phase annähernder Vollbeschäftigung gegeben.

Viertens: Heute sehen wir uns ökologischen, sozialen und - auf der Seite der Konsumenten - zeitökonomischen Grenzen des Wachstums gegenüber. Dazu kommt, dass die Beschleunigung der Innovation ein neuartiges Sinnproblem erzeugt: Immer häufiger wird das erworbene Konsumgut entwertet und die Freude daran geschmälert, weil sogleich das bereits entwickelte Noch-Bessere in den Blick kommt. Wie aber soll die Vorstellung aufrecht erhalten werden, dass Leistung sich lohnt, wenn das, was ich mir aufgrund meiner Leistung leiste, immer öfter nur das Zweitbeste ist? Zwar gibt es sinnvolle Großprojekte, die nach wie vor die Leistungsbereitschaft mobilisieren können, wie die Verlagerung des Güterverkehrs auf die Schiene, die Ersetzung fossiler Energie durch regenerierbare Energiequellen, der Aufbau einer emissionsfreien Kreislaufwirtschaft, zwar gibt es hier und da neue Dienstleistungen, die das Leben erleichtern, alte Dienstleistungen, die ausgeweitet werden können und sollten. Dass der Arbeitsgesellschaft die Arbeit ausgeht, steht somit nicht zu befürchten. Aber ein Großteil der neuen Dienstleistungsarbeit wird (z.B. via Internet) auf den Konsumenten verlagert und fällt damit als Erwerbsquelle aus. Vollbeschäftigung durch Wirtschaftswachstum allein bleibt auch in der Perspektive der neuen Dienstleistungsgesellschaft eine Chimäre. Es geht nicht ohne Arbeitszeitverkürzung.

Allerdings greifen die alten Regelarbeitszeiten in vielen Bereichen der modernen Güter- und Dienstleistungsproduktion nicht mehr. Neue Formen der Arbeitszeitverkürzung müssen in Zukunft eine größere Rolle spielen: Sabbatregelungen, bezahlte Auszeiten für Familienarbeit, Gemeinwesenarbeit und Weiterbildung, Arbeitszeitkonten, Teilzeitarbeit, Jobsharing etc.

Fünftens: Auch bezüglich der These, dass Bildung der Schlüssel zur Vollbeschäftigung sei, ist Skepsis angebracht. Zwar ist es aus vielerlei Gründen sinnvoll, mehr in Bildung zu investieren, vor allem Kinder aus bildungsfernen Milieus in Ganztagsschulen und durch längeres gemeinsames Lernen zu fördern. Zwar wäre es wünschenswert, wenn endlich begriffen würde, dass Bildung und Qualifikation nicht dasselbe sind und eine möglichst breite Grundbildung unter Einschluss der geisteswissenschaftlichen und musischen Fächer (inkl. Sport) die beste Lebensvorbereitung darstellt. Aber da die ständige Ausweitung des gesellschaftlichen Erwerbsarbeitsvolumens nicht gelingen kann, kann auch Bildung nicht der Schlüssel zur Vollbeschäftigung sein. Eine isolierte Strategie der Bildungsförderung würde zu einer Höherqualifizierung der Arbeitslosen führen. Auch hier zwingt sich die Erkenntnis auf: Es geht nicht ohne Arbeitszeitverkürzung.

Sechstens: Ein Blick in die fernere Zukunft kann helfen zu verstehen, warum die alten und neuen Patentantworten nicht mehr stimmen: Welche Arbeit bleibt übrig, wenn Rationalisierung und Automation fortschreiten? Vermutlich werden auf lange Sicht - jedenfalls im Marktsektor - alle Arbeiten automatisiert, in denen die Arbeitsvollzüge vollständig definiert und berechnet werden können. Übrig bleibt dann als von Menschen zu verrichtende Arbeit vor allem das, was nicht automatisiert werden kann; und das ist nicht wenig: leitende und beratende Tätigkeiten in Wirtschaft und Verwaltung, Marketing und Werbung, ein Teil der handwerklichen und bäuerlichen Arbeiten, künstlerische Produktion, Erfinden, Planen, Entwickeln, Warten, personenbezogene Dienstleistungen, Kommunizieren, Motivieren, Lernprozesse organisieren, schöpferisch sein, mit Menschen umgehen, sich kümmern, trösten, pflegen - alles das, was Maschinen nun einmal nicht können.

Alle diese Tätigkeiten sind ihrer Natur nach personalintensiv. Daher gelten sie heute als übermäßig kostspielig. Aber die üblichen Einsparstrategien führen hier nicht zu mehr Effizienz, sondern zur Minderung oder zur Pervertierung der Leistung. Die Ersetzung des Lehrers durch den Computer, die Ersetzung der Pflegerin durch den Monitor pervertiert die betreffende Dienstleistung, statt sie effektiver zu machen.

In unserem System der sozialen Sicherung tragen die personenbezogenen und anderen nicht-rationalisierbaren Dienstleistungen, eben weil sie personalintensiv sind, proportional weitaus mehr zur Finanzierung der Sozialleistungen bei als der hochrationalisierte Sektor. Denn die Sozialabgaben berechnen sich nach der Zahl der Beschäftigten, bzw. nach der Lohnsumme. Das führt dazu, dass der Teil der Arbeit, der auch in Zukunft von Menschen zu verrichten sein wird, heute schlicht nicht wettbewerbsfähig ist. Rationalisierung und Automation im Maschinensektor sowie wachsender Kostendruck im Sektor menschlicher Arbeit lassen - wenn alles so bleibt, wie es ist, trotz der trügerischen Entspannung, die uns vom Arbeitsmarkt gemeldet wurde, auch ohne weitere Finanzkrisen die Arbeitslosigkeit weiter steigen.

Es gibt nur einen Ausweg: Die steuer- und finanzpolitische Privilegierung des Maschinensektors muss beendet, die Wertschöpfung in diesem Sektor zur Finanzierung jener Aufgaben herangezogen werden, die nur mit menschlicher Arbeit geleistet werden können. Nur so kann auch die wachsende Binnennachfrage entstehen, die auch der Maschinensektor braucht, um seine Produkte abzusetzen. Denn Maschinen kaufen keine maschinengefertigten Produkte!


An der Schwelle zu einer neuen Arbeitsgesellschaft

Siebtens: Wer nach der Zukunft der Arbeit fragt, muss also zunächst die Frage nach der Arbeit der Zukunft beantworten. Statt weiter den kruden Fortschrittsvorstellungen des 19. Jahrhunderts zu folgen und an der Privilegierung der Maschinenarbeit festzuhalten, sollten wir die utopischen Möglichkeiten nutzen, die Rationalisierung und Automation eröffnen, zumal wenn sie, wie das heute zumeist der Fall ist, mit einer effektiveren Nutzung von Energie und Stoffen einhergehen. Einmal ergeben sich bisher nicht für möglich gehaltene Chancen der Entlastung von fremdbestimmter und belastender Arbeit und der Mehrung frei verfügbarer Zeit für alle und damit zugleich wachsende Chancen der demokratischen Beteiligung in allen gesellschaftlichen Bereichen; zum anderen ist der Typus der Arbeit, der lebensnotwendig ist und nicht wegrationalisiert werden kann, in der Regel menschlich anspruchsvoller: Er eröffnet zumeist größere Möglichkeiten der Sinnstiftung und bietet intrinsische Gratifikationen, die weit über das hinausgehen, was die klassische Industrie- und Büroarbeit gemeinhin zu bieten hatte. Eine wirklich moderne, an den Bedürfnissen der Menschen und nicht an der Kapitalverwertung orientierte Dienstleistungsgesellschaft könnte befriedigende und humane Arbeitsmöglichkeiten für alle bieten, und zwar auch für die, die nicht die höheren Weihen des Bildungssystems erhalten haben.

Es wäre zu wünschen, dass die Gewerkschaften und die SPD, das was in den 70er Jahren unter der Überschrift Humanisierung der Arbeit und in den 80ern in der Perspektive einer arbeitnehmerorientierten Zeitsouveränität diskutiert wurde, bezogen auf die Bedingungen der postfordistischen und postindustriellen Arbeitswelt heute weiterentwickelten und dieses Feld nicht denen überlassen, die nur die Verwertungsinteressen des Kapitals im Auge haben. Neue kommunikations-, organisations- und produktionstechnische Verfahren eröffnen heute - jedenfalls im Prinzip - ungeahnte Möglichkeiten, die Arbeitswelt nach den Lebensansprüchen der Arbeitenden zu gestalten. Sie können freilich nur realisiert werden, wenn die einseitige Macht des Kapitals durch eine Weiterentwicklung der Mitbestimmung der Arbeitenden und durch gesetzliche Initiativen gebrochen wird.

Achtens: Wir stehen in der Mitte Europas an der Schwelle zu einer neuen Arbeitsgesellschaft, in der die Erwerbsarbeit gerechter verteilt und humaner gestaltet werden kann, in der sie aber insgesamt einen geringeren Teil der Lebenszeit einnimmt. Die Moderne, die bisher in imponierender Weise das menschliche Können gesteigert und damit den Raum der Handlungs- und Genussmöglichkeiten erweitert hat, ist jetzt an dem Punkt angelangt, wo die Frage in den Vordergrund tritt, was die Menschen mit ihren erweiterten Möglichkeiten anfangen sollen. Selektiver Konsum nach Maßgabe eines frei gewählten Selbstbildes und zivilgesellschaftliche Eigentätigkeit können bei weiterer Reduzierung der Erwerbsarbeitszeiten einen größeren Raum einnehmen, die Lasten der Familienarbeit können gerechter verteilt und der Eigenarbeit neue Chancen eröffnet werden.

Gleichzeitig treten durch die Krise der herkömmlichen Wachstumsstrategie Verteilungsfragen wieder in den Vordergrund. Eine Gesellschaft der reifen Moderne wird nur dann eine humane und demokratische Gesellschaft sein können, wenn sie die Arbeit und die Genussmöglichkeiten gerechter verteilt, wenn sie beide Ziele, die Befreiung von der Arbeit und die Befreiung der Arbeit, verfolgt und die Räume der Selbsttätigkeit für alle erweitert.


Johano Strasser (* 1939) ist Politologe, Publizist und Schriftsteller und seit 2002 Präsident des PEN-Zentrums Deutschland. 2008 erschien: Bossa Nova. Ein Provinzroman.
johano.strasser@t-online.de


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 9/2010, S. 43-47
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Anke Fuchs,
Siegmar Gabriel, Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka und Thomas Meyer
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veröffentlicht im Schattenblick zum 9. Oktober 2010