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ARBEIT/569: Bürgerarbeit - Besser als "das Amt"? (UZ)


UZ - Unsere Zeit, Nr. 34 vom 22. August 2014
Sozialistische Wochenzeitung - Zeitung der DKP

Besser als "das Amt"?
Eine empirische Untersuchung aus Dortmund nimmt die Bürgerarbeit unter die Lupe

von Wera Richter



Da haben zwei genau hingeschaut. In der empirischen Untersuchung zur Bürgerarbeit am Beispiel der Stadt Dortmund von Wolfgang Richter und Irina Vellay steht der Mensch im Mittelpunkt. Bei der Bürgerarbeit hat dieser Slogan einen zynischen Beigeschmack. Richter und Vellay haben mit den Beteiligten des Beschäftigungsprogramms intensive Interviews geführt: Mit BürgerarbeiterInnen selbst und ihren BetreuerInnen. Von denen gibt es gleich drei, die sich um die BürgerarbeiterInnen bemühen: die Arbeitsvermittlung (das Amt), die Anleitung (am Arbeitsplatz) und das Jobcoaching (die Begleitung). Die Aufgabe des Jobcoaching (Betreuungsschlüssel 1:75) beschreibt die Stadt Dortmund so: Disziplinieren, Motivieren, Konflikte moderieren; intensive Kenntnisse über persönliche und gesundheitliche Verhältnisse der BürgerarbeiterInnen (beschaffen), Profiling, Bewerbungen, Vermittlungsvorschläge. Richter nennt das Konstrukt ein "entmündigendes Dreieck".

Bürgerarbeit - 2010 als Modellprojekt der Bundesregierung für Langzeitarbeitslose über 45 Jahre gestartet und 2012 Gesetz geworden -ist ein Beschäftigungsprogramm wie die früheren Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und die heutigen 1-Euro-Jobs. Damit reiht sie sich ein in das Experimentierfeld zum Umgang mit dauerhafter Massenerwerbslosigkeit - mit den "Überflüssigen".

Richter und Vellay bringen die dem Experiment zugrunde liegende Frage auf den Punkt: Wie kann man Menschen dazu bringen, die eigene Arbeitskraft zur Verfügung zu stellen, ohne dass ihnen viel mehr bleibt als das auch ohne Arbeit zugestandene soziokulturelle Existenzminimum des Hartz-IV-Regimes?


Keine "Assi"-Existenz

"Alles ist besser als das Amt" und "Die Hoffnung stirbt zuletzt" dürften typische Antworten der BürgerarbeiterInnen sein. Sieben von ihnen - zwei mit türkischem und fünf mit deutschem Pass - haben Richter und Vellay interviewt, zwei Mal im Verlauf der dreijährigen Maßnahme. Die Erwerbsbiographien - sie reichen von ungelernt über qualifizierte FacharbeiterInnen bis hochqualifiziert mit Abitur - weisen alle mehr oder weniger große Brüche auf.

Nur zwei der Befragten betrachten sich als gesund. Die anderen kämpfen nicht zuletzt durch jahrelange Erwerbslosigkeit mit Depressionen, mit körperlichem Verschleiß aus früheren Arbeiten oder Behinderungen u. a. durch Unfälle. Fast alle haben oder hatten Probleme mit Schulden. Die persönlichen Wünsche sind nach jahrelanger Ausgrenzung bescheiden geworden: "Für sich selbst wird ein durchschnittliches Nettoeinkommen von 1 100 Euro als ausreichend angesehen. Es geht vor allem um einen bescheidenen, aber stabilen Lebensstandard. Zum Beispiel würde man gerne aus der Eineinhalb- Zimmer-Wohnung in eine Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung umziehen oder auch einmal renovieren können. Für alle gilt, man möchte eine gesellschaftlich respektable Existenz und nicht eine als 'Assi' führen, das heißt ohne stigmatisierende Transferleistungen und das Betteln beim Amt leben."

Tatsächlich suggeriert die Bürgerarbeit durch ihre dreijährige Laufzeit mit einer 30-Stunden-Woche und Sozialversicherungspflichtigkeit ein Wiederankommen auf dem regulären Arbeitsmarkt. Richter und Vellay zeigen detailliert, warum dem nicht so ist. Sie weisen darüber hinaus nach, dass auch Bürgerarbeit wie bereits die 1-Euro-Jobs gegen die Vorschrift reguläre Arbeitsplätze vernichten und Löhne drücken. Weitergehend beschreiben sie anhand der Bürgerarbeit die schleichende und zugleich radikale Umgestaltung des Arbeitsmarktes.

Doch der Reihe nach: Bürgerarbeit heißt mitnichten "weg vom Amt", sondern arm trotz Arbeit. Sie finanziert sich aus Mitteln des Europäischen Sozialfonds, des Bundes und der Kommune und soll für Letztere durch das Einsparen von Transferleistungen "kostenneutral" sein. Real müssen die meisten BürgerarbeiterInnen aufstocken und sind also weiterhin auf Transferleistungen angewiesen. Die Kommunen zahlen weiterhin die "Unterkunftskosten". Das Versprechen, über die Bürgerarbeit Zugang zum 1. Arbeitsmarkt zu bekommen, ist blanke Illusion: "Alle wissen das, aber keiner spricht drüber." Nach drei Jahren Bürgerarbeit, die zwar sozialversicherungspflichtig ist, aber für die nicht in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt wird, geht es nicht zum ALG-I, sondern direkt wieder in den ALG-II-Bezug. Von fast 500 BürgerarbeiterInnen haben gerade 19 einen sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplatz gefunden (deren Qualitäten nicht bekannt sind).


Mogelpackung TVöD

In Dortmund sind BürgerarbeiterInnen als "ServicedienstleisterInnen" vor allem im Öffentlichen Dienst beschäftigt. Geworben wird mit einem an den TVöD angelehnten Tariflohn. Auch das ist eine reine Mogelpackung. BürgerarbeiterInnen werden pauschal in den TVöD 1 eingestuft - die niedrigste Tarifstufe, die regulär gar nicht mehr angewandt wird. Von Lohnerhöhungen, Angleichungen, Höherstufungen oder Sonderzahlungen in den drei Jahren der Maßnahme sind sie ausgeschlossen. Ebenso von Mitbestimmung, Arbeitsschutz und Gesundheitsvorsorge. Sie bleiben also selbst im Öffentlichen Dienst "die anderen".

Richter schreibt dazu: "Sich an Kämpfen um Rechte, um Lohn, um Perspektiven zu beteiligen, ist ihnen verwehrt. Rauskommen ist selten. Kaum jemand kümmert es - schlimmer: Der Mehrheit in der Mitte ist es recht so." (Vgl. AMOS 2-2014, S. 16, Der Mensch im Mittelpunkt?)

Dabei leisten BürgerarbeiterInnen ganze Arbeit. In Dortmund sind sie als HausmeisterInnen an Schulen, Küchenhilfen in Kitas, Streifen des Ordnungsamtes und "Quartierskümmerer" mit ähnlichen Aufgaben beschäftigt. Sie leisten Hilfsarbeiten - und sind damit je nach Qualifikation und Gesundheit zum Teil über- und zum Teil unterfordert.

Anhand der konkreten Tätigkeiten weisen Richter und Vellay detailliert nach, dass es nicht um zusätzliche Arbeit, wie vorgeschrieben, sondern um nötige Arbeit geht: "Das Beschäftigungsprogramm Bürgerarbeit übernimmt tariffähige Tätigkeit in bemerkenswert hohem Ausmaß und eliminiert entsprechend Arbeitsplätze aus den Stellenplänen der Kommune ... bzw. verhindert notwendigen Stellenaufbau." In Dortmund ersetzen BürgerarbeiterInnen laut der Untersuchung allein 84 Tarifstellen für HausmeisterInnen an Schulen. Verglichen mit dem Tarif nach TVöD werden ihnen in den drei Jahren knapp 15.000 Euro vorenthalten.

Berlins ehemaliger Finanzsenator Thilo Sarrazin ("Deutschland schafft sich ab") hat die Bürgerarbeit als "Integration der Unterschicht" gefeiert. Doch um Integration geht es gerade nicht, sondern um dauerhafte Ausgrenzung. Richter beschreibt den tiefgreifenden Umbruch in der Arbeitswelt und Klassenstruktur: Diese verschiebe "ihre Teilmengen radikal - die ganz oben konzentriert sich (bei anschwellendem Reichtum und Machtpotenzial), die ganz unten weitet sich aus (bei schwindender Teilhabe und Existenzsicherung), in der gesellschaftlichen Mitte sinken Lebensgefühle und entfalten sich Ängste, ein Durchrutschen nach unten ist geöffnet." (a. a. O.)


Die MinderleisterInnen

Bürgerarbeit macht das sichtbar. Die Unterschicht bekommt ihren Platz zugewiesen als "MinderleisterInnen" auf Hartz-IV-Niveau. Ihnen gegenüber stehen die regulär Beschäftigten, die LeistungsträgerInnen. Dabei wird die Anzahl der MinderleisterInnen, eine Kategorie, die sich bisher vor allem auf Behinderungen beschränkte, immer weiter vergrößert: "Der große Prozess beinhaltet das Zusammenführen aller Menschen mit eingeschränkter Erwerbsfähigkeit, mangelnder Qualifikation, älter als 40, längere Erfahrung von Arbeitslosigkeit oder begrenzter Verfügbarkeit am Arbeitsmarkt in der neuen Großkategorie Minderleistung." Hinzu kommen Nichtangepasste, Aufmüpfige, Menschen, die abweichendes Verhalten zeigen. "Damit entsteht aus einer Minderheit eine gesellschaftlich relevante Gruppe mit kritischer Masse, die zukünftig zu einem großen Teil durch einen öffentlich geförderten oder dritten Arbeitsmarkt aufgefangen werden soll. Das 'Tunen' des aktiven Arbeitskräftepotentials durch Bereinigung von nicht hinreichend produktiver Arbeit erhöht den Arbeitsdruck weiter und fördert das "Recycling" von vernutzten Arbeitskräften in der sozialwirtschaftlichen Industrie der "Zweitverwertung."

Diese brutale Spaltung der Arbeiterklasse braucht Antworten und Gegenkonzepte von Gewerkschaften und sozialer Bewegung. Sie schreit nach Widerstand. Doch Stillhalten und Wegsehen haben Gründe. Der Mitte ist es bewusst oder unbewusst recht, dass unter ihr etwas zementiert wird und sie hat zugleich berechtigte Sorgen, auch "da unten" zu landen. Erfahrungen des gemeinsamen Widerstands und der Solidarität sind verloren gegangen. Um sie gilt es wieder zu ringen.

Richter und Vellay enden ihre Veröffentlichung mit Gedanken zu "neuen Anforderungen an eingreifende Tarif- und Gesellschaftspolitik", die wir auf diesen Seiten (siehe Seite 12 und 13 unten) dokumentieren. Und sie arbeiten ganz in diesem Sinne weiter an der Seite dieser "Helden des Alltags", der BürgerarbeiterInnen. Mehrere Arbeitsgerichtsprozesse sind vorbereitet, um den zustehenden tariflichen Lohn für die BürgerarbeiterInnen im öffentlichen Dienst sowie eine Entfristung ihrer Verträge mit ver.di- Rechtsbeistand zu erstreiten. Die Chancen stehen gut. Ein Erfolg wäre mehr als ein finanzieller Ausgleich für die BürgerarbeiterInnen. Es wäre zugleich das Signal, dass sich gemeinsames Kämpfen um die Rechte der Entrechteten lohnt, dass sie nicht die anderen sind, sondern Teil der Klasse.


Wolfgang Richter/Irina Vellay; "Bürgerarbeit - Teil der großen Umverteilung. Eine empirische Untersuchung am Beispiel der Stadt Dortmund", PapyRossa Verlag, ISBN 978-3-89 438-553-8, 10 Euro

Wolfgang Richter, Prof. Dipl. Ing., lehrte und forschte im Fachbereich Architektur der FH Dortmund und arbeitet zu Methoden der Stadtkonzeption und -entwicklung und zu Strategien der kommunalen Sozialund Arbeitsmarktpolitik.

Irina Vellay, Dr. Ing., betreut Lehrforschungsprojekte an der Universität Luxemburg, arbeitet zu den Wirkungen von Workfare-Konzepten in der Stadt, zu sozialpolitisch motivierter Resteverwertung und Armut sowie zu Gebrauchsrechten und Stadtentwicklung.

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Quelle:
Unsere Zeit (UZ) - Zeitung der DKP, 46. Jahrgang, Nr. 34 vom 22. August 2014, Seite 12
Herausgeber: Parteivorstand der DKP
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veröffentlicht im Schattenblick zum 29. August 2014