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ARBEIT/582: Nieder mit dem Normalarbeitsverhältnis! (spw)


spw - Ausgabe 1/2015 - Heft 206
Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft

Im Fokus
Nieder mit dem Normalarbeitsverhältnis!

von Jonathan Menge und Christina Schildmann


Deutschlands Arbeitsmarkt modernisiert sich in zwei Geschwindigkeiten: Während sich die Arbeitsprozesse in technischer Hinsicht in rasender Geschwindigkeit verändern, wandeln sie sich in sozialer Hinsicht im Schneckentempo. Wir sind längst im digitalen Zeitalter angekommen, aber mit Blick auf die Geschlechterverhältnisse steht unser Arbeitsmarkt noch mit einem Bein im Fordismus. Neben Globalisierung und Digitalisierung stellt der Wandel der Geschlechterrollen und Familienformen die größte Herausforderung für die Arbeitsmarktpolitik dar, und gleichzeitig ist die aktuelle Logik des Arbeitsmarktes die größte Hürde für eine geschlechtergerechtere und familienfreundlichere Gesellschaft.

Für ein sozialdemokratisches Projekt "Humanisierung der Arbeit 2.0" stellen sich aus der Geschlechterperspektive zwei große Aufgaben; es gilt, zwei Festungen zu stürmen, deren Grundsteine in der Phase der Industrialisierung gelegt wurden und die heute ein Bollwerk gegen gesellschaftlichen Fortschritt bilden. Beide verteidigen die Logik der "Geschlechtertrennung", die Männern die Sphäre des öffentlichen Lebens und Frauen die häusliche Sphäre zuweist. Eine Logik, die weder den Bedürfnissen der Mehrheit noch den Anforderungen der Arbeitsgesellschaft des 21. Jahrhunderts entspricht.


Das "Normalarbeitsverhältnis" befördert Paare in die Traditionalisierungsfalle

Die erste Festung ist das traditionelle "Normalarbeitsverhältnis", das unmittelbar an ein Vollzeitideal geknüpft ist und jeden Menschen mit Fürsorgeverpflichtung für Kinder oder ältere Menschen zum beruflichen Mängelwesen macht, zum Arbeitnehmer zweiter Klasse mit weniger Gehalt, weniger Aufstiegschancen und weniger Anerkennung. Diese Norm schadet inzwischen nicht mehr nur Frauen, sondern auch Männern, denn sie macht es nahezu unmöglich, in der Familie eine partnerschaftliche Aufgabenteilung zu praktizieren, und genau das wollen inzwischen laut Umfragen 60 Prozent der Eltern mit Kindern unter drei Jahren.

Das "Normalarbeitsverhältnis" hat einen erheblichen Anteil an der scheinbar unerbittlichen Macht, die Eltern nach der Geburt eines Kindes in die Traditionalisierungsfalle schickt - also in eine Arbeitsteilung, die eher in die Nachkriegszeit passt als ins 21. Jahrhundert. Auch ist das Vollzeitideal des "Normalarbeitsverhältnisses" mindestens mitschuldig daran, dass für Eltern, die beide versuchen, in ihrem Beruf voran zu kommen, der Alltag ein einziger Hürdenlauf ist. Das Selbstoptimierungsmantra bzw. das aktuelle Karrieredispositiv passen nicht zusammen mit Sorgeverpflichtungen bzw. Sorgebedürfnissen - das heißt: sie sind lebensfeindlich. Die Anforderungen auf dem Arbeitsmarkt und in modernen Familien sind inzwischen für beide Geschlechter derart unvereinbar, dass in vielen Familien, insbesondere in denen mit gleich gut ausgebildeten Eltern, eine Zeitbombe tickt.(1) Die böse Pointe ist, dass die erzwungene Rollenteilung die Familie destabilisiert, weil sie Konflikte vorprogrammiert, diese Rollenteilung aber gleichzeitig nur in Gesellschaften funktionieren kann, in denen Ehen halten, bis dass der Tod sie scheidet.


32-Stunden-Woche für die "überforderte Generation"

Um Druck aus den Familien zu nehmen, um die "überforderte Generation" zu entlasten und partnerschaftliche Arrangements möglich zu machen, braucht es eine Arbeitszeitpolitik, die auf eine neue Arbeitszeitnorm ("kleine Vollzeit"/"große Teilzeit") für Frauen UND Männer zielt. Diese Politik darf nicht nur - ideell - auf die Einstellungsmuster im Kopf zielen, sie muss die neue Norm auch materiell ermöglichen, das bedeutet: Sie muss Familien mit kleinen und mittleren Einkommen finanziell ermöglichen, Partnerschaftlichkeit zu leben. Die 32-Stunden-Woche für Eltern mit Lohnersatzleistung ("Familienarbeitszeit"(2)) wäre ein Anfang. Das Ziel ist die Neuverteilung von Erwerbsarbeit zwischen Männern und Frauen, und das ist auf einem Arbeitsmarkt, der derartig geschlechtsspezifisch segregiert ist wie der deutsche, nur durch einen gesellschaftlichen Kraftakt möglich. Doch dieser würde sich lohnen: Eine bessere Verteilung von Arbeit würde die Burnout-Raten senken, mehr existenzsichernde Arbeitsverhältnisse schaffen, die Kranken- und Rentenkassen entlasten, unser Sozialsystem stabilisieren und zu guter Letzt die demografische Frage entschärfen.(3)


Autos pflegen keine Menschen - eine Volkswirtschaft ohne Fürsorge kann nicht überleben

Die zweite Festung ist die Zweiteilung des Arbeitsmarktes in typische "Männer"- und typische "Frauenberufe". Das Problem an sich ist nicht, dass viele Jungen Mechatroniker werden wollen (und später werden), und viele Mädchen Erzieherinnen. Das Problem ist vielmehr das Denkmuster, dass der Mechatroniker volkswirtschaftlich relevant ist, die Erzieherin nicht. Zwei gedankliche Anachronismen regieren unsere Arbeitswelt. Der erste Anachronismus ist die Vorstellung, dass nur dort Wertschöpfung stattfindet, wo Autos oder Maschinen gebaut und Computer hergestellt werden. Den Bereich der sozialen Dienstleistungen, wo Kinder betreut und alte Menschen gepflegt werden, betrachtet unsere Gesellschaft als "Konsum" und versucht darum, die Kosten niedrig zu halten, und das bedeutet in diesen Berufen insbesondere: die Löhne niedrig zu halten. Der zweite Anachronismus ist unser "familienbasiertes Sozialsystem", das den Familien (also den Frauen) die Hauptverantwortung für die Fürsorgearbeit zuweist und darum wenig in unterstützende Infrastruktur investiert. Dieses Prinzip wird zwar im Bereich der Kinderbetreuung gerade überwunden, gilt aber noch im Bereich der Pflege älterer Menschen. Grundlage für das Modell ist die Vorstellung vom 1,5-Verdiener-Haushalt (oder 1,25-Verdiener-Haushalt), bei dem der Mann Autos baut und damit einen Familienlohn erwirtschaftet, während die Frau entweder zuhause unentgeltlich Kinder und pflegebedürftige ältere Menschen betreut - oder das gleiche beruflich macht, in Teilzeit, für ein Taschengeld und ohne relevante Aufstiegschancen, in Kitas oder Pflegeheimen.

Früher war es durchaus Symbol einer guten Einkommensverteilung, wenn möglichst viele Männer - auch Arbeiter - stolz sagen konnten: "Meine Frau braucht nicht arbeiten zu gehen". Heute ist der Alleinernährer nicht mehr Ausdruck von "Wohlstand für alle", sondern Zeugnis für eine unterentwickelte Volkswirtschaft und eine rückständige Familien- und Arbeitsmarktpolitik. Er steht für eine unterentwickelte und unterfinanzierte Daseinsvorsorge, die sich in einem Mangel an Kitaplätzen, Ganztagsschulen und Pflegeinfrastruktur ausdrückt. Und er steht für einen großen Sektor mit nicht existenzsichernden Frauenberufen. Darum ist die zweite Seite des familienbasierten Systems immer auch ein prekärer Fürsorge-Arbeitsmarkt mit Minijobs, kleiner Teilzeit (und niedriger gewerkschaftlicher Organisation). Sogenannte "Care-Berufe" werden immer noch als "Halbberufe" geringgeschätzt und schlecht bezahlt, so dass sie kaum eine Existenz sichern. Das müssten sie aber zunehmend. Die ganze Schieflage im System zeigt sich, wenn Frauen, die alleinerziehend werden (oder deren Männer arbeitslos werden), plötzlich von einem Zuverdienerinnen-Gehalt eine Familie ernähren müssen. Aus dem Forschungsprojekt "Flexible Familienernährerinnen" der Hans-Böckler-Stiftung (2010)(4) wurde ersichtlich, dass zwei Drittel der Teilzeitbeschäftigten nicht als Zuverdiener oder Zuverdienerinnen arbeiten, sondern ihren Lebensunterhalt hauptsächlich aus dieser Einkommensquelle bestreiten. Vor allem alleinerziehende Mütter fungieren immer häufiger als Familienernährerinnen, selbst mit Teilzeitjobs.

Doch das ist nur ein Teil des Problems. Auch in Paarbeziehungen wirkt sich die Lohnspreizung zwischen typischen "Männer-" und typischen "Frauenberufen" fatal aus - und zwar, wenn am Küchentisch ausgehandelt wird, wer nach der Elternzeit mit welcher Stundenzahl am Arbeitsmarkt teilhaben kann. Der Ausgang solcher Gespräche ist vorprogrammiert - dem Individuum ist das nicht vorzuwerfen. Gleichzeitig halten die niedrigen Löhne im sozialen Sektor einen Großteil der Männer wirkungsvoll davon ab, einen solchen Beruf auch nur in Erwägung zu ziehen. Und viertens gefährden sie - Stichwort Fachkräftemangel - den Ausbau der Betreuungs- und Pflegeinfrastruktur, der so dringend nötig ist, um zukünftig das Funktionieren von partnerschaftlichen Familien zu ermöglichen. Also: Die Niedriglöhne in den sozialen Berufen halten den Teufelskreis am Laufen, der Geschlechterungleichheit jeden Tag aufs Neue reproduziert.

Die zweite zentrale arbeitsmarktpolitische Aufgabe für die Sozialdemokratie ist hiermit beschrieben. Sie ist jedoch noch anspruchsvoller als das Neujustieren des Arbeitszeitregimes, denn sie beinhaltet mehrere Ebenen. Erstens gilt es, eine Debatte zu führen und zu gewinnen, an deren Ende ein neues volkswirtschaftliches Verständnis steht, das sogenannte "Care-Berufe" als Teil der Wertschöpfung und nicht als Teil des Konsums definiert. Das widerspricht aber den tief eingegrabenen Denkmustern einer stolzen "Exportweltmeister"-Nation, die sich immer wieder versichert, dass (allein) am Auto ihre Zukunft hängt, obwohl längst mehr Menschen im Gesundheits- und Pflegesektor beschäftigt sind als in der Automobilindustrie mitsamt ihren Zulieferern. Erst wenn wir Erziehung, Bildung und Pflege als soziale Investitionen und Basis unserer Ökonomie betrachten, kann es gelingen, Pflegekräfte und Erzieherinnen nicht nur mit rhetorischer Anerkennung abzuspeisen, sondern ihnen existenzsichernde Löhne zu zahlen. Zweifellos muss sich die Gesellschaft zunächst über die Frage verständigen: Was ist uns Erziehung, Bildung und Pflege eigentlich wert? Es lohnt sich für die Sozialdemokratie, diese Diskussion zu führen (besser noch: anzuführen), denn dass die anständige Bezahlung von sozialen Berufen zur Leistungsgerechtigkeit gehört, ist insbesondere für junge Menschen überhaupt keine Frage. So schrieb beispielsweise Stefan Reinecke in der taz: "Dass eine ausgebildete Altenpflegerin 138 Jahre arbeiten muss, um das zu bekommen, was der Chef eines DAX-Konzerns in einem Jahr verdient, verletzt das Gerechtigkeitsempfinden der Mehrheit".(5)


Zeit, die zweite Etappe des "Nordischen Wegs" zu beschreiben

Gleichzeitig geht es darum, die zweite Etappe des "Nordischen Wegs" zu gehen, also nicht nur wie bislang nach skandinavischem Vorbild Kinderbetreuung, sondern auch Pflege als gemeinschaftliche Aufgabe zu stärken. Hier besteht die Herausforderung darin, ein Szenario zu beschreiben, in dem menschenwürdiges Altern möglich ist - und zwar jenseits von Altenheimen, aber auch jenseits von aufopferungsvoll pflegenden Töchtern, die ihren Beruf dafür aufgeben. Und es geht auch darum, soziale Berufe, die im Moment oft Sackgassenberufe sind, zu Berufen auszubauen, die eine Weiterentwicklung im Lebensverlauf ermöglichen. Kurz gesagt: Eine Gesellschaft muss in der Lage sein, gesellschaftlich wertvollen Berufen eine Zukunft zu geben.

Dazu gehört auch ein Thema, das für die Sozialdemokratie aus guten Gründen gewöhnungsbedürftig ist: die haushaltsnahen Dienstleistungen. In immer mehr Haushalten entsteht der Bedarf, Hausarbeit "einzukaufen". Das gilt besonders für ältere Menschen, aber auch für Familien, in denen beide Partner berufstätig sind. Auch wenn diese Tätigkeiten auf den ersten Blick schwer mit "guter Arbeit" zu vereinbaren sind: Es hilft nichts, aus Angst vor einer "Dienstmädchen-Debatte" die Augen vor dem zu verschließen, was sich ohnehin schon in den Grauzonen des Arbeitsmarktes abspielt. Wer die Erwerbstätigkeit von Frauen erhöhen will, muss sich auch überlegen, wer dann zu welchen Bedingungen die Hausarbeit erledigt. Selbst wenn beide Partner nur eine "kleine Vollzeit" arbeiten, bleibt vermutlich noch Unterstützungsbedarf. Aus sozialdemokratischer Perspektive sind hier zwei Zielkonflikte zu lösen. Erstens: Geschlechterpolitische Errungenschaften der gut ausgebildeten Frauen dürfen nicht zulasten von schlecht ausgebildeten Frauen realisiert werden. Zweitens: Haushaltsnahe Dienstleistungen sollten sich auch Familien ohne großes Einkommen leisten können, ohne dass sich der Bereich der prekären Beschäftigung ausweitet. Die Zielkonflikte sind auflösbar, erfordern aber Entscheidungen. Die Haushaltsökonomin Uta Meier-Gräwe schrieb dazu kürzlich in der Frankfurter Rundschau: "Ob der Ausbau des Dienstleistungssektors mit der Entwicklung von guter Dienstleistungsarbeit einher geht oder ob weiter auf dem Trampelpfad der Billigdienstleistungs-Ökonomie verharrt wird, ist letzten Endes eine politische Grundsatzentscheidung." Diese Grundsatzentscheidung muss die Sozialdemokratie für sich noch treffen.(6)


Jonathan Menge, Jahrgang 1982, studierte Politik und Philosophie und arbeitete zu Fragen der Unternehmensverantwortung. Aktuell ist er für die Friedrich-Ebert-Stiftung im Bereich Familien- und Geschlechterpolitik tätig.

Christina Schildmann, Jahrgang 1973, ist Referentin für Familienpolitik und Geschlechterforschung in der Friedrich-Ebert-Stiftung und Mitglied der SPD-Grundwertekommission.


Anmerkungen

(1) Vgl. Hans Betram/Carolin Deuflhard: Die überforderte Generation. Arbeit und Familie in der Wissensgesellschaft (2015) und Susanne Garsoffky, Britta Sembach: Die Alles ist möglich-Lüge. Wieso Familie und Beruf nicht zu vereinbaren sind (2014).

(2) Kai-Uwe Müller, Michael Neumann, Katharina Wrohlich (DIW Berlin): Familienarbeitszeit - Wirkungen und Kosten einer Lohnersatzleistung bei reduzierter Vollzeitbeschäftigung (2013, im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung und der Hans-Böckler-Stiftung).

(3) Dazu ausführlicher: Tanja Smolenski/Christina Schildmann: Plädoyer für ein neues Normalarbeitsverhältnis, NG/FH 6/2014.

(4) http://www.familienernaehrerin.de/material/publikationen/wissenschaft/wenn-frauen-das-geld-verdienen.pdf

(5) Taz / 3. Mai 2013.

(6) "Nicht nur Breitband und Beton", Frankfurter Rundschau / 25.1.2015.

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Quelle:
spw - Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft
Ausgabe 1/2015, Heft 206, Seite 56-59
mit freundlicher Genehmigung der HerausgeberInnen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 18. März 2015

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